KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
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ReportKulturation 2017
Dietrich Mühlberg
Elektropolis Berlin
Bericht über eine elektrisierende Debatte
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Am 25. Januar geriet die "Kulturdebatte im Salon" zu einem spannenden Gedankenaustausch über die Zukunft der Elektrocity Berlin. Dabei war der Anlass, Helmut Maternus Bien zum Vortrag in den Salon einzuladen, ursprünglich ein Kölner Ereignis. Dort hatte die Oberbürgermeisterin Henriette Reker als Reaktion auf die Silvesternacht 2015/2016 erklärt, sie wolle erneuten sexuellen Übergriffen und Diebstählen zu Silvester mit einem Kulturprogramm entgegenwirken. Die Bürger sollten sich den Raum um den Dom „zurückerobern“ können. Dafür hatte Bien eine ortsspezifische Licht-Installation vorgeschlagen und die Oberbürgermeisterin damit überzeugt.

 Domplatte


Die mit Sound unterlegte Multimedia-Projektion des Projektions-Spezialisten Philipp Geist „Time Drifts Cologne“ (Zeitverschiebungen Köln) setzte die Idee in die Tat um: Besucher bewegten sich auf der bestrahlten Fläche und wurden so Teil des Kunstwerks. Auch weil ihnen Worte, Begriffe, Zeichen und Formeln auf die Kleidung projiziert wurden – eine Auswahl aus Vorschlägen, die sie vorab zahlreich eingereicht hatten. Die Kölner Entscheidung für dieses Kulturprogramm gründete nicht nur im partizipativen Charakter des Vorschlags. Die Unermüdbarkeit der computergesteuerten Videoprojektoren konnte den urbanen Raum mit ihren bewegten Lichtbildern in der Zeitspanne von 17 Uhr bis nach Mitternacht neu definieren – wie den medialen Erfolgsmeldungen zu Jahresbeginn dann zu entnehmen war. Es entstanden tatsächlich neue Bilder und bis zu 50.000 Kölner waren neugierig eingetaucht in diesen „Licht-Traum-Raum“ an einem Ort, den die Bürger zum Jahreswechsel ansonsten eher gemieden hätten.

Dieser neuartige „soziokulturelle“ Umgang mit dem elektrischen Medium bot zwar den Anlass, das Jahresprogramm der Kulturdebatte mit diesem Thema zu eröffnen, doch war Biens Vortrag deutlich auf die Berliner Situation zugeschnitten und löste eine interessante Debatte mit "stadtpolitischen" Zügen aus. Die Redaktion von kulturation entschloss sich darum, Partien des Vortrags und einige Aspekte der Debatte hier einzustellen.

Bien berichtete zunächst, wie er vor Jahren unter dem Eindruck urbaner Lichtkultur unseres französischen Nachbarn die Luminale für Frankfurt am Main entwickelt hatte. Diese „Biennale der Lichtkultur“ fand seit 2002 alle zwei Jahre in seiner Regie statt – parallel zu einer internationalen Fachmesse für Licht und Gebäudetechnik. Mit wachsendem Publikumszuspruch. Andere Städte folgten diesem Vorbild, Lichterfeste boomen seitdem, auch in Berlin.


 Miller
von Miller, Plakat der Internationalen Elektro-Technischen Ausstellung 1891 in Frankfurt am Main

Bien grenzte eingangs seinen Konzeptansatz von kommerziell motivierten Lichtdekorationen ab und erläuterte, auf wessen Schultern er sich bei seiner Pionierarbeit für die Luminale gestellt hat. Oskar von Miller, der später Gründer des Deutschen Museums geworden ist, weltberühmt für seine erlebnis-orientierte Didaktik der Naturwissenschaften, war in seinen Augen der erste „Lichtfestival“-Kurator. Er kam von der AEG, hatte in Berlin gearbeitet, bevor er die erste Internationale Elektro-Technische Ausstellung 1891 in Frankfurt am Main organisierte: Zu seiner Ausstellung strömten 1,2 Millionen Besucher nach Frankfurt am Main, um zu sehen, wie elektrisches Licht unser Leben verändert. Danach war klar, dass die Zukunft der Elektrizität und ihren Anwendungen gehören würde.

Für die damals nach Frankfurt gereisten Experten und Politiker war die Veranstaltung gleichermaßen nützlich. Vor großem Publikum wurde hier der sogenannte „Stromkrieg“ zwischen Edison und Westinghouse in Europa entschieden: die Frage, ob man Strom mittels Gleichstrom oder Wechselstrom übertragen sollte. Von Millers Langstrecken-Test zur Stromübertragung von Lauffen am Neckar nach Frankfurt auf das Messegelände konnte überzeugen. Denn der Wirkungsgrad lag bei sensationellen 75 Prozent. Mit dieser Erfolgs-Ausstellung hat sich Oskar von Miller einen Namen gemacht und der deutschen elektrotechnischen Industrie einen großen Dienst erwiesen. Ihm war es im Kern darum gegangen. eine neue Technologie erlebnishaft der breiten Öffentlichkeit zu präsentieren und zugleich die Expertendiskussion zu befördern. Heutige Debatten über neue Technologien haben nur selten diese demokratische Tiefe und Breite.

Eine zweite Inspirationsquelle - so Bien - war Frankreich als Land der öffentlichen Räume für Feste, die Demokratie und das Leben. Franzosen lieben ihre öffentlichen Räume, die Boulevards und Avenuen, die Plätze und Parks, die Flussufer, Monumente und Märkte, ganz im Unterschied zu den Deutschen, die in jedem größeren offenen Gelände gleich einen Aufmarschplatz wittern, der mit allem möglichen vollgestellt werden muss.

Präsident Francois Mitterand gab den französischen Städten in den 1980er Jahren die Mittel, um sogenannte Licht-Masterpläne zu erstellen. Ein solcher Masterplan regelt die Beleuchtung der öffentlichen Plätze und formuliert Rahmenbedingungen für die Aktivitäten der Privaten, so dass eine möglichst harmonische Nachtansicht der belebten Stadträume entsteht. Die Provinz-Städte sollten gegenüber Paris gestärkt werden, indem sie – auch nachts – attraktiver wurden. Der Lichtmasterplan war eine der erfolgreichen Ideen zur gefühlten Dezentralisierung Frankreichs und bahnbrechend für das Selbstbewusstsein der Regionen gegenüber der Kapitale.

Musterbeispiel dafür ist Lyon, die Partnerstadt von Frankfurt am Main, berichtete Bien über seine Inspirationsquellen. 1999 organisierte Lyon erstmals seine „Fête des Lumieres“, ein Lichter-Stadtfest, das um eine traditionsreiche Licht-Prozession zur Kathedrale herum entwickelt wurde. Ähnlich wie beim Carneval in Venedig (1976) wurde eine lokale Tradition so neu interpretiert und in die Gegenwart "übersetzt".

Von Lyon lässt sich lernen, dass ein authentisches Licht-Festival den Anschluss an die lokalen Traditionen finden und eine gelebte Verbindung zum Thema Stadtplanung und Stadtentwicklung aufbauen sollte. So werden jeweils neue Licht-Ereignisse im Rahmen des Festes eingeweiht, die dauerhafte Verbesserungen der Lebensqualität in den prominenten Stadträumen wie den Quartieren mit sich bringen. Das bietet auch die Chance, die Bürger und Künstlerinitiativen aktiv einzubeziehen und kein rein auf Konsum ausgerichtetes Stadtereignis zu schaffen.

 Main
Illuminationsraum Main

 Naxoshalle
Naxoshalle, Bühne für Talente

 Kraftwerk
Industriekultur, Kraftwerk West, dauerhaft illuminiert seit Luminale 2004

Bien brachte zahlreiche Beispiele (insgesamt hat er über 1.000 Projekte begleitet), wie sich durch den Einsatz von Licht-Ereignisse nachhaltige Effekte erzielen lassen. Die Summe seiner Erfahrungen fasste er so zusammen:

- Licht erhöht die Aufenthaltsqualität und das Sicherheitsgefühl
- Unorte lassen sich durch Beleuchtung aufwerten und neu definieren
- Licht-Projektionen faszinieren für neue technologische Möglichkeiten
- Die Geschichte und Bedeutung von Gebäuden (Genius Loci) lassen sich ins Bewusstsein heben
- Szenenwechsel verwandeln vertraute Alltagsorte
- Unbekannte oder in Entwicklung begriffene Quartiere können ihr Image verändern
- Partizipation und Einbeziehung von Bürgern, Künstlern, Initiativen fördern die Identifikation

Dann ging es um Berlin. Hier hieß es kritisch: Berlin könne einen Neustart als „Stadt des Lichtes“ gut gebrauchen. Die Stadt habe nicht nur einen Ruf sondern einen Mythos als die Lichtstadt des 20. Jahrhunderts zu verlieren.

Sachlicher Bericht: Von der Jahrhundertwende bis in die „Goldenen“ 1920er Jahre wurde Berlin in ein urbanes Laboratorium verwandelt. Die Stadt ist in wesentlichen Teilen ein Geschöpf der Elektrotechnik und ihrer Industrie. Ohne sie wäre Groß-Berlin von 1920 nicht möglich gewesen. Aus aller Welt kamen schon zu Beginn des letzten Jahrhunderts Architekten, Ingenieure und Experten nach Berlin, um diese „Elektropolis“, diese Zukunftsstadt zu besichtigen.

1939 bei der letzten Zählung vor dem Zweiten Weltkrieg arbeiteten 235.000 (!) Berliner in der Elektroindustrie, auf Platz zwei kam Stuttgart mit nur 19.000, München weit abgeschlagen mit 6.000. Und 35 Prozent der elektrotechnischen Weltproduktion kamen aus Deutschland, aus den USA nur 29 Prozent, aus Frankreich ganze 4 Prozent. Dieses schnelle „Dynamo-Berlin“ - voller rasanter Abkürzungen von AEG bis S-Bahn - sei vergleichbar mit dem heutigen Silicon Valley. Aus Berlin kamen der Rundfunk (Vox-Haus), das Fernsehen (Olympiade 1936) und der Computer (Konrad Zuse). „Berlin lebt also schon lange aus der Steckdose,“ so Bien. Elektrizität ist auch ein ideales Medium für diese an Rohstoffen sonst so arme Stadt voller heller Köpfe.


 Berlin
Werbeturm, Berliner Festwochen unter dem Motto „Berlin im Licht“

Schon 1928 wurde das Licht zum Thema der Berliner Festwochen. Die Musik dazu kam vom Avantgarde-Komponist und Brecht-Partner Kurt Weill. „Berlin im Licht“ heißt der Song. Weill beschwört das Kunstlicht, weil seiner Meinung nach die Sonne allein nicht ausreicht, um das wirkliche, echte Berlin zu sehen. Für viele Berliner und Touristen passiert das Wesentliche des Nachts. Flaneure wie Walter Benjamin „botanisieren“ auf dem regennassen von Leuchtreklamen illuminierten Asphalt. Im „Blauen Engel“ singt Marlene Dietrich „Männer umschwirren mich wie Motten das Licht“. Christopher Isherwoods Cabaret richtet seine Spotlights auf diese zwielichtigen Verhältnisse. „Das rote Berlin war eben auch ein Rotlicht-Berlin“, meinte Bien.

Diese ganze Ambivalenz des Lichtes bringe das Schlagwort von der „Elektropolis“ zum Ausdruck. Einerseits das Zwielicht des Nachtlebens mit seinen Verheißungen und Versuchungen, andererseits das sachlich coole Licht der hygienischen Glas- und Bauhaus-Bauten. Die cleane neue Energie bewirkt ein Mobilitätswunder: die elektrisierten S-Bahnzüge, eine coole Mobilität jenseits vom Pferdekot-Gestank und von den Rußschwaden der Dampflokomotiven, die das gründerzeitliche Berlin verpestet hatten. Selbst die Berliner Luft , die viel besungene, bekam etwas Elektrisches.

Der Kameramann Walther Ruttmann setzt in seiner „Sinfonie der Großstadt“ (1927) dieses neu-sachliche Berlin in Bilder städtischer Dynamik und konzertierter Harmonie, in der die beherrschte Technik aber immer auch umkippen kann in beherrschende Technik. Seit Fritz Langs „Metropolis“ sind wir gewarnt.


 Elektropolis
Interaktive Licht-Klang-Installation, Klaus Teltenkötter und Partner

Diese großartige Tradition könnte heute verbunden werden mit dem Start-up-Berlin der Gegenwart. Aus aller Welt ziehe es die digitale Boheme nach Berlin. Aus Projekten werden Ateliers und Studios, manufakturartige Betriebe und hidden champions wie Otto Bock (Mensch-Maschine-Interface) oder Ableton (Software für elektronische Musik). Das Internet der Dinge und der 3D-Druck bringen auch die Produktion physischer Produkte zurück. Der Globalisierung folgt eine Regionalisierung, die die Produktion in Microfactories wieder in die Nähe der Kundschaft bringt. In Berlin sammeln sich viele Akteure, die Elektrik, Mechatronik und Lasertechnologien erforschen und daraus echte Produkte entwickeln, nicht nur Handels-Software oder Pizza-Bestellservices.

Das große Erbe der Industriekultur in Architektur, Wissenschaft und Kultur schafft ideale Bedingungen für diese neue Elektropolis. Die ersten aus dem Silicon Valley sehen in Berlin einen „Exil“-Standort, weil sie auch künftig Offenheit und Vielfalt so nötig brauchen wie Luft und Licht. Hier liege, betonte der Vortragende, eine historische Chance, die durch ein Berliner Lichtkultur-Festival international sichtbar werden könnte. Viele Akteure dafür finden sich schon heute in der Stadt, die Licht, Elektronik und digitale Künste miteinander verknüpfen.

Die kritischen Anmerkungen zur Berliner Situation fanden in den anschließenden Gesprächen viel Zustimmung. Es wurde bedauert, dass Berliner Ereignisse oft genug entweder bedauerlich provinziell oder unverständlich avantgardistisch angelegt seien. Es fehle an integrierenden Veranstaltungen, die Brücken schlagen könnten zwischen den „gates communities“, in die sich immer mehr Gruppen zurückziehen. Die Fragmentierung der Stadtgesellschaft wurde als große Gefahr thematisiert, als der Boden, auf dem einige wenige Entschlossene das Leben der Vielen dominieren könnten. Die Kölner Silvesternacht sei ein gutes Beispiel dafür, wie die Verhältnisse ins Rutschen geraten, wenn die Mischung und der Zusammenhalt in der Gesellschaft nicht mehr selbstverständlich seien.

Zustimmung erhielt Bien, dass die vorgestellten Lichtkultur-Projekte die Integration befördern könnten. Er hatte von Licht-Projekten aus Paris und Amsterdam berichtet, die in der Banlieue und den Satellitenquartieren den öffentlichen Raum verbessern, die Identifikation mit dem Kiez stärken und Vandalismus und Kriminalität zurückdrängen. Die explizit sozialpolitische Dimension habe in Deutschland dagegen noch keine Stadt auf dem Schirm. Gerade die neue Wohnungsfrage, die zu neuen oder verdichteten Stadtquartieren führen wird, wäre ein Feld, auf dem sich mit Lichtkultur einiges für die Lebensqualität erreichen ließe.

Diskussionspunkt war auch die neue die Stadtmitte. Bien deutete ein szenographisches Licht-Konzept für diesen Raum an. Die geplante Verkehrsberuhigung „Unter den Linden“ gehe einher mit der U-Bahn-Eröffnung der U5 zwischen Brandenburger Tor und Alexanderplatz. Die Eröffnung des Humboldt-Forums schaffe ein neues Attraktionszentrum und die Gestaltung des Marx-Engels-Forum eröffne eine neue Achse des Flanierens, der Stadtwahrnehmung. Ein Raum, der auch des Nachts nicht sich selbst überlassen bleiben sollte, wenn die Institutionen, Ämter und Ministerien schließen. Hier entstehe ein zentraler Raum in der historischen Mitte, der Ost und West zusammenführt und die Kontraste fruchtbar machen könnte, die Berlin einzigartig machen.

Aber auch große Kultur-Ereignisse ließen sich um eine Licht-Dimension ergänzen. „100 Jahre Bauhaus“ und die Forderung nach Licht und Luft als den neuen Qualitätskriterien für die moderne Stadt böten Anknüpfungspunkte und Chancen, aus diesem Jubiläum der Moderne mehr zu machen als ein internationales Experten-Ereignis.

Zur Sprache kam auch, dass es erste Überlegungen gäbe, anstelle der aus Kostengründen für 2020 abgesagten Internationalen Bauausstellung nun „100 Jahre Groß-Berlin“ zu einem richtungsweisenden Stadtereignis zu machen. In der Runde wurde daran erinnert, dass es die linken Parteien waren, die am 25. April 1920 in der verfassungsgebenden Preußischen Landesversammlung das Groß-Berlin-Gesetz gegen den Widerstand der Konservativen durchgesetzt haben. Damit war Berlin – nach Los Angeles – die flächenmäßig zweitgrößte und an der Einwohnerzahl gemessen – nach London und New York – die drittgrößte Stadt der Welt.

Mit dieser Weichenstellung 1920 begannen die „goldenen Jahre“ von Elektropolis. Nur mittels der neuen Technologien ließ sich dieser urbane Lebensraum und Traum für Millionen verwirklichen. Heute angesichts von Klimawandel, Ressourcenknappheit und tiefgreifendem Wandel der Arbeitsgesellschaft, könnten Leit- und Lichtereignisse dazu beitragen, einen Bewusstseinswandel herbeizuführen. Auch das wäre ein Ereignis, aus dem sich – nachhaltig gestaltet - für Berlins Zukunft Funken schlagen ließen.


 Elektropolis
GRID, Licht-Klang-Installation, Christopher Bauder / Robert Henke