Report | Kulturation 1/2003 | Harald Dehne | Die "übersprungene Generation" der ostdeutschen Sozialwissenschaftler. Bericht über eine "Rettungskonferenz"
| Ostdeutsche
Sozialwissenschaftler tagten am 30. November 2002 im renommierten
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) in eigener Sache.
Allerdings saß hier kein Regionalverein beim Jahrestreffen, sondern es
war eine unruhige Versammlung von beruflich Ausgegrenzten, die noch
einmal den Aufstand probten – und eine anständige Anstellung in der
bundesdeutschen Forschungslandschaft einforderten. Ein Thema, das noch
lange nicht erledigt ist.
Es geht um ehemalige Mitarbeiter ostdeutscher Universitäten ebenso wie
der Akademie der Wis-senschaften der DDR, deren
Wissenschaftler-Integrations-Programm (WIP) Ende 1996 mit einem
Scheitern endete. Viele sind derzeit arbeitslos, andere werden es in
absehbarer Zeit sein, weil die letzten Förderungen auslaufen. Es geht
um schätzungsweise 200 bis 220 Wissenschaft-lerInnen zwischen Ende
Dreißig und Ende Fünfzig. Selbst die Ältesten sind zu jung für einen
Vorruhestand und auch viel zu kraftvoll dafür – also müssen aufs Neue
Ressourcen gefunden und Initiativen ergriffen werden.
Die Rebellen nennen sich Initiative Sozialwissenschaftler Ost (ISO),
und sie gehen energisch an die Öffentlichkeit, um das Netz unter den
Betroffenen wieder zu knüpfen, um den Sachstand und neue Chancen zu
ermitteln und um bei den Politikern Gehör zu finden. Das Ziel der
Konferenz bestand vor allem in einer Selbstvergewisserung unter den
Betroffenen: wie groß ist eigentlich der Personenkreis, wie sieht die
aktuelle Bestandsaufnahme aus, worin besteht das verfügbare
wissenschaftliche Potenzial und wie lässt es sich vermarkten, welche
Lösungsmöglichkeiten sind vorstellbar?
Initiator der Konferenz war eine Gruppe von hochqualifizierten
Sozialwissenschaftlern: Stefan Bollinger, Ulrich van der Heyden und
Mario Kessler. Sie sind habilitiert, waren einst „hoffnungsvoller
wissenschaftlicher Nachwuchs“ und befinden sich immer noch im
„mittleren Alter“. Normalerweise sollten sich diese Jahrgänge auf der
Höhe des Karrierefluges befinden, in Wirklichkeit sind sie aber oft
weniger als geduldet. Die Wende von 1989 hatte aus ihrem scheinbar so
sicheren Weg eine Sackgasse gemacht. Und trotz positiver Evaluierungen
durch westdeutsche Kollegen fanden sie keinen dauerhaften Eingang ins
bundesdeutsche Wissenschaftssystem. Sie erlebten höchstens den
berühmt-berüchtigten „Durchlauferhitzer“ auf Zeit. Und merkten dann,
dass ihre Sozialisierungserfahrungen unter den neuen Bedingungen auf
wenig Verständnis trafen und dass ihnen die Lobby fehlte, um das
Problem der verweigerten Integration in die entsprechenden
wissenschaftspolitischen Gremien zu tragen, die Erfüllung vollmundiger
Versprechungen zu verlangen oder einfach weiterempfohlen zu werden.
So gesehen waren hier vor allem Verlierer im Beruf versammelt. Es fiel
der Begriff der „übersprungenen Generation“, den der DDR-Liedermacher
Gundi Gundermann, 1955 geboren, im Jahre 1995 prägte, als er selbst 40
Jahre alt war. Dieses spezifische Generationsproblem betrifft
diejenigen, die zwischen 1950 und Anfang der sechziger Jahre in der DDR
geboren wurden. Diese Generation hat selber lange Jahre gebraucht, um
die Spielregeln der DDR-Gesellschaft zu begreifen. Als sie dann
einigermaßen durchblickte, kam die Wende. Nunmehr, mit Dreißig oder
Vierzig, mussten sie sich erst mal völlig neu orientieren und dabei
feststellen, dass ihr Profil – ihre Qualifikation, ihr Alter und ihre
persönliche Lebenserfahrung – nicht gefragt war. Die Hebel der Macht,
die irgendwann vielleicht für sie einmal freigeworden wären, waren für
immer hin-fort.
Neben diesen heute „übersprungenen“ Wissenschaftlerjahrgängen, die
zwischen den „funktionstragenden“ und insofern erfolgreichen
Generationen liegen, waren aber auch ältere Jahrgänge anwesend, die
inzwischen (zu ihrem eigenen Glück) im Vorruhestand oder im
Rentnerleben angekommen sind. Sie vertreten die Vorgängergeneration –
in den Ämtern, nicht in der Geburtenfolge. Sie waren gerade nicht die
Eltern der „übersprungenen Generation“, denn Sie waren nicht zwanzig
oder fünfundzwanzig Jahre älter, sondern nur zwischen fünf und fünfzehn
Jahren. Aber diese Wissenschaftler können für die Jüngeren heute wenig
tun – denn das, was die Schweizer seit eh und je auch in der
Wissenschaft „Seilschaften“ nennen, bilden an allen Hochschulen heute
einzig die Professoren westdeutscher Provenienz.
Groß also der Generationenfächer und gut unterscheidbar die
Interessenlage auf dieser Konferenz – die einen brauchen Anerkennung,
die anderen außerdem auch noch Jobs in der Wissen-schaft. Aber so
unterschiedlich der aktuelle soziale Status bei diesen sich
überschneidenden, früher vielleicht sogar teilweise konkurrierenden
Generationen sich indessen auch darstellt – es einte sie der Wille,
nach Ideen zu suchen, um der Misere abzuhelfen.
Eine solchermaßen konstruktive Herangehensweise erhoffte sich auch
Prof. Jürgen Kocka, Präsident des WZB, der in seiner Eröffnungsrede die
Situation in den Sozial- und Geisteswissen-schaften als besonders
schwierig beschrieb. Als Folge der erzwungenen Überführung des
DDR-Wissenschaftssystems in das westdeutsche Modell erkannte er drei
Probleme: die Dominanz der West-Wissenschaftler, die Unerfahrenheit der
Ostdeutschen mit dem System und in der unmittelbaren Konkurrenz, Fehler
in den Integrationsprogrammen. Vor dem Hintergrund eines sich
verschlechternden Arbeitsmarktes potenzierten sich diese
Schwierigkeiten zusätzlich. Besonders betroffen davon sei die bereits
genannte Altersgruppe.
In der Debatte kamen die Wortmeldungen zur Problembeschreibung ums An-
und Beklagen nicht herum. Angeprangert wurden einige Evaluierer, vor
allem jedoch die Wissenschaftspoliti-ker der neunziger Jahre und die
von ihnen gemachten Fehler. Scharf kritisiert wurden die Zynismen
westdeutscher Intellektuellen, die die ostdeutschen Eliten
pauschalisierend als nicht lernfähig bezeichnet hatten. Schließlich
wurde sogar Selbstkritik laut. Etwa daran, dass viele Zumutungen
kampflos hingenommen worden sind oder dass den Betroffenen – ob
selbstverschuldet oder nicht – Tugenden wie Beharrlichkeit und
Selbstpräsentation leider abgegangen seien.
Eine gewisse Dramatik beanspruchte auch die Tagung selbst, die sich
schon vom Titel her als „Rettungskonferenz“ für ostdeutsche
Sozialwissenschaftler verstand und nach „Wegen der Re-Integration“
suchte. Zudem inszenierte schon das Thema gewissermaßen einen
Rollentausch: Die (moralischen) Verlierer waren wenigstens an diesem
Tag nicht die Anwesenden, sondern die Evaluierenden von 1990 und die
unzähligen Westler, die kurz darauf die „freigepressten“ Stellen
besetzten. Die meisten Teilnehmer machten aus ihrem Groll über die
Folgen dieserart Anschluss an das seinerseits reformbedürftige
Wissenschaftsmodell der alten Bundesländer keinen Hehl. Fakt ist, dass
die ostdeutsche sozialwissenschaftliche Elite zu Gunsten der
westdeutschen Konkurrenz geschasst worden ist. Man muss es eine
Vertreibung nennen, auch Aderlass wäre das passende Wort.
Dementsprechend wurden auf dieser Konferenz historische Analogien
gezogen. Etwa die Anschlüsse von Gebieten an andere Staatsgebilde als
ein gar nicht so seltener Vereinigungstyp in der modernen Geschichte
(Straßburgs Anschluss an das Deutsche Reich 1872, Südtirols Anschluss
an Italien 1918 usw.). Zu diesem Thema konnte der Wirtschaftshistoriker
Jörg Roesler auf Grund seiner vergleichenden Forschungen erhellende
Einblicke vortragen. Und der Stuttgar-ter Agrarhistoriker Prof. Theodor
Bergmann, Jahrgang 1916, verwies darauf, dass die Fehler von 1945 im
Jahre 1990 mit deutscher Gründlichkeit wiederholt wurden. Zugleich
erinnerte er daran, wie jüdische und sozialistische Intellektuelle in
Deutschland nach 1933 aus ihren Positionen gedrängt wurden.
Eine Verbundenheit westlicher Wissenschaftler mit den Ostdeutschen
wurde somit auch auf dieser Konferenz spürbar. Neben Bergmann war es
beispielsweise der Emeritus der Freien Univer-sität Fritz Vilmar, der
auf bisherige eigene Kooperationen mit ostdeutschen Wissenschaftlern
verwies und ausführliche Anregungen zu weiteren gemeinsamen
Forschungsprojekten gab. Und eine weitere Gruppe von Fürsprechern aus
dem Westen hatte bereits einige Wochen zuvor von sich reden gemacht. In
einer Annonce in der Frankfurter Rundschau hatten sie am 11. September
2002 mit allem öffentlichen Nachdruck die Unterstützung der
ostdeutschen Sozialwissenschaftler eingefordert. Dieser Aufruf war
unterzeichnet von Hochschullehrern wie Theodor Bergmann, Renate
Bridenthal, Eric J. Hobsbawm, Wilma A. und Georg G. Iggers, Friedrich
Katz, David Kettler, Mikulas Teich und Alice Teichová. Sie alle waren
in den dreißiger Jahren aus Deutschland oder aus der Tschechoslowakei
vertrieben worden, aber ihnen widerfuhr auch das Glück der Solidarität.
Deshalb machten sich diese einstmals Vertriebenen heute aus
Großbritannien und aus den USA für die ostdeutschen
Sozialwissenschaftler der Gegenwart stark.
Der kreative Ansatz der Konferenz wurde dort am deutlichsten, wo nach
dem vorhandenen Po-tenzial innerhalb der ostdeutschen
Wissenschaftlergemeinde gefragt wurde. Wo liegt das „kulturelle
Kapital“, wie es der französische Soziologe Pierre Bourdieu genannt
hat, der ostdeutschen Sozialwissenschaftler, und was kann man damit
machen? Welche Projekte, Kooperationen, Konstruktionen,
Finanzierungsquellen usw. kann man ansteuern? Denkbar sind neue Themen,
bei denen dieses Klientel eine besondere Kompetenz und einen eigenen
Erfahrungsschatz besitzt. Dafür wurden Vorschläge gemacht. Jetzt geht
es darum, Anker für die Umsetzung zu finden: Themen zu bündeln,
Forschergruppen zu bilden, Unterstützer und Geldquellen zu finden.
Also: in eine praktische und dynamische Phase einzutreten.
Die Lage ist nicht hoffnungslos, aber ernst. In einer Zeit, wo Geld für
Bildung trotz gegenläufiger Beteuerungen zurückgefahren wird, wo
Forschungszentren ungesichert dastehen und seit der Änderung des
Hochschulrahmengesetzes erneut eine Generation promovierter Assistenten
aus den Hochschulen gedrängt wird, braucht es besondere Courage, den
Anspruch der ostdeutschen Sozialwissenschaftler auf eine
„Wiedereingliederung“ in den gesamtdeutschen Wissenschaftsbetrieb zu
formulieren und in der Öffentlichkeit zu vermitteln.
Wissenschaftspolitik ist in erster Linie Ländersache, aber diese
Probleme der ostdeutschen Wissenschaftler, die schon kaum noch
thematisiert werden, können nur durch eine Bundesinitiative gelöst
werden. Daher lautete der Appell dieser Tagung: Es ist eine dringliche
Aufgabe, alle Kräfte zu mobilisieren und an die Öf-fentlichkeit zu
gehen und damit der Situation der ostdeutschen Sozialwissenschaftler
wieder eine größere Aufmerksamkeit zu verschaffen.
Symbolhaft und provozierend zugleich mochte die Bedeutung der
Tagungsstätte gewirkt haben: Während des Kaiserreichs befand sich im
Gebäude des heutigen WZB die Reichsversicherungskammer. Hier hatte der
deutsche Sozialstaat seinen Geburtsort. Heute wie damals geht es
allerdings keineswegs um Almosen, sondern um Gemeinsinn und soziale
Gerechtigkeit, um eine Ressourcenverteilung, durch die die
Gleichstellung im Beruf tatsächlich gesellschaftliche Praxis werden
kann. |
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