Report | Kulturation 2012 | Dietrich Mühlberg | Ein Nach-Ruf für Arno Hochmuth
Am
16. Juni 2012 verstarb Arno Hochmuth, langjähriges Mitglied der
KulturInitiative'89, im Alter von 82 Jahren. Am 6. Juli sprach Dietrich
Mühlberg auf einer Trauerfeier im Willi-Münzenberg-Saal nachstehende
Gedenkworte. Die dabei erwähnten Protokolle des Projekts "Eliten und
Kulturpolitik" wird kulturation demnächst in der Rubrik "Zeitdokumente"
veröffentlichen. | Unsere
frühen Vorfahren riefen ihren Verstorbenen überschwänglich Gutes nach -
um sie zu besänftigen und an rachsüchtiger Wiederkehr zu hindern. Von
den Römern bis heute wurde die Würdigung eines Lebenswerks meist zur
politischen Selbstdarstellung genutzt. Beides möchte ich vermeiden und
bekennen: je näher man selbst dem gefährlichen Moment kommt, Objekt
eines solchen Rituals zu werden, desto fragwürdiger wird einem das
Unterfangen, über das Leben eines Mitmenschen summierend zu urteilen.
Arno - aufs Protokollarische schon achtend, aber dem feierlichen Tone
eher abhold - würde es mir nachsehen, wenn ich jetzt ganz subjektiv auf
meine Erinnerungen an ihn zurückgreife.
Wir trafen in der Mitte unseres Lebens aufeinander. Vor vierzig Jahren
machte Arno als neuer Professor so etwas wie einen Antrittsbesuch bei
den Kulturwissenschaftlern der Humboldt-Universität. Seine Situation
war nicht unproblematisch. Mit der Ersetzung Ulbrichts durch Honecker
war ein Personalwechsel in der Parteizentrale verbunden, der auch eine
gewisse Liberalisierung signalisieren sollte. Dass nun der ganz
unspektakulär entlassene Abteilungsleiter Kultur ausgerechnet an unsere
Sektion Ästhetik und Kunstwissenschaften überstellt wurde, irritierte
uns schon, gab es doch unter den Wissenschaftlern keinen, der etwas
Gutes über die Abteilung Kultur des ZK zu sagen gewusst hätte. Und so
wurde in Arno der Verwalter jenes Kahlschlags gesehen, den die
unrühmliche 11. ZK-Tagung von 1965 zu verantworten hatte.
Und es kam noch dicker. Mit großzügiger Geste (und in Unkenntnis
wissenschaftlicher Strukturen und Berufungsgebiete) hatte Kurt Hager
verfügt, dass Arno künftig Professor für Kulturtheorie und Ästhetik sei
- denn so der Name unseres Instituts, in dem "die Ästhetiker" und "die
Kulturwissenschaftler" jeweils auf ihren eigenen Lehrstühlen saßen und
als zwei Gruppen mehr oder weniger friedlich zusammen arbeiteten. Hager
hatte mit seiner generösen Verfügung Arno zwischen alle diese Stühle
gesetzt.
Der Antrittsbesuch bei den Ästhetikern war schon überstanden, nun saßen
wir uns gegenüber und er sah sich genötigt, mir als dem damaligen Chef
der Kulturwissenschaftler zu erklären, wie das alles so gekommen sei.
Ich hatte den Eindruck, das es ihm nicht unlieb war, einem
anteilnehmenden Genossen seine Lebensgeschichte zu skizzieren. Und ich
bildete mir damals ein, ihn ganz gut zu verstehen. Vielleicht, weil wir
beide Berliner aus dem selben Milieu mit recht ähnlichen beruflichen
Wegen waren.
Freilich war Arno der Ältere, als er 1948 sein Abitur machte, hatte ich
gerade die 8. Klasse erreicht. Was ihn prägte: er hatte das Kriegsende
schon als Fünfzehnjähriger in Berlin erlebt. Hier trafen plötzlich die
Welten aufeinander und die bis dahin drangsalierten politischen und
kulturellen Kräfte meldeten sich expressiv und vielstimmig. Arno war
davon fasziniert und hat alles begierig aufgenommen, was sich bot. So
war es wohl zwangsläufig, dass er fortan das Oben und Unten für sich
selbst kulturell definierte und den sozialen Aufstieg nun als ein
Problem der politischen Machtverhältnisse angesehen hat.
In diesem einzigartigen Nachkriegsberlin der ersten Jahre hat er seine
drei Prägungen erfahren. Er wurde ein Kunstnarr (der vor allem im Kino
saß), wollte ein Vermittler sein, der Zugänge zu den ästhetischen
Welten öffnen kann und er verstand sich aus Gründen sozialer
Gerechtigkeit fortan als ein Linker.
Ich habe noch genau die seltsame Begründung für seinen
Kunstenthusiasmus in Erinnerung. Es war die "enorme Geldnot und Armut
in unserer Arbeiterfamilie. Tiefe Preise für Kino und Theater und für
Buchausleihen und sehr hohe Schwarzmarktpreise für Lebens- und
Genussmittel brachten einen dazu, sich dieser sehr billigen Dinge zu
bemächtigen. Gleichzeitig war das ganz nützlich für das Abitur." Arno
nannte sogar Zahlen für 1947 - etwa fünfzig mal war er im Theater, im
Kino sogar siebzig mal. Hier habe ich ihn wörtlich zitiert. Dies vermag
ich nicht, weil ich über ein so phantastisches Detail-Gedächtnis
verfüge, wie Arno es hatte (und womit er uns immer wieder verblüffte),
sondern weil er 1994 zu Protokoll gab, als er durch das Projekt "Eliten
und Kulturpolitik" dazu interviewt worden ist.
Ein bekanntes Szenario: wenn Söhne in einfachen Verhältnissen sich den
praktischen Geboten des Erwerbslebens nicht fügen wollen und leicht
verstiegen das Höhere im Sinn haben, wird ihnen gestattet, Schulmeister
zu werden. Sein Einstieg entsprach ganz diesem Klischee deutscher
Unterschichtenkultur. Der Kunstversessene konnte gleich nach dem Abitur
studieren und hatte schon drei Jahre später das Patent als Lehrer,
selbstredend nicht für „ordentliche“ Fächer, sondern für Deutsch und
Geschichte. Da war er gerade 22 geworden. Und weil er gut war, wurde er
sofort als Jungdozent für Deutsch am berühmten Institut für
Lehrerbildung in Köpenick eingestellt. Dort war er - als optimistischer
junger Mann, der den Zugang zu den schönen Texten öffnete,
Theaterstücke und Filme empfahl und dabei doch so prinzipienfest sein
konnte - ein beliebter Lehrer, wie mir meine kleine Schwester
versicherte, die damals dort Lehrerin lernte. Es war eine Zeit des
schnellen Aufstiegs.
Als die Führung der SED für die DDR den Aufbau der Grundlagen des
Sozialismus verkündete, wurde Arno Kandidat der SED. Den kulturell
orientierten Dozenten zog es auch zur Kulturarbeit in den Kulturbund.
Sein Leben lang hatte er dort ehrenamtliche Funktionen, bis hin zum
Präsidialratsmitglied. Mit diesen Erfahrungen hat er dann von Anbeginn
in der KulturInitiative'89 mitgewirkt - einst begonnen als
Zusammenschluss reformorientierter Kulturwissenschaftler.
Wichtiger als das Ausbilden von Lehrern und als Kulturarbeit war
damals, dass ihn "seine Partei" im Auge hatte und er die Gelegenheit
bekommen sollte, an ihrer Akademie für Gesellschaftswissenschaften in
Literaturwissenschaft zu promovieren. Als Doktorand konnte er nun die
Vielfalt seiner jugendlichen Kunsteindrücke in der Viersektorenstadt
Berlin sortieren und wissenschaftlich wie ideologisch klar stellen, was
davon unter "Dekadenz" zu rubrizieren ist. Auffällig seine Neigung,
sich mit dem zu beschäftigen, was man besser nicht in die Hand nimmt
und was eigentlich verboten war. Das 1958 von der Gewi-Akademie dazu
vergebene Thema hatte den heute ungewöhnlich anmutenden Titel „Die
Fäulnis des imperialistischen Systems als gesellschaftliche Grundlage
der Apologetik der Dekadenzliteratur in Westdeutschland“. Systemfäulnis
als Grundlage von Apologetik? Klingt heute etwas bizarr, war aber
nichts anderes als die Kombination der Leninschen Imperialismustheorie
mit Shdanows Lager- und Kunstdoktrin - in ihrer Anwendung auf die
Literatur.
Damit war der Doktorand Hochmuth recht pfiffig der eigentlichen
Stoßrichtung dieses ideologischen Konstrukt ausgewichen und musste
nicht den DDR-eigenen Künstlern Formalismus oder Kosmopolitismus
ankreiden. Er konnte sich mit der verbotenen Westliteratur beschäftigen
und ins "gegnerische Lager" blicken. Dorthin also, wo es nach Shdanow
nur noch Verfall, Mystizismus und Pornographie gab. Was er dabei
beobachtet hatte, brachte der Parteiverlag 1965 unter dem etwas
sachlicheren Titel "Literatur und Dekadenz. Kritik der literarischen
Entwicklung in Westdeutschland" als Buch heraus.
Mit diesem Spezialwissen konnte Dr. Hochmuth ein guter Dozent für die
Doktoranden der Parteiakademie sein - wie später vor allem für unsere
Fernstudenten. Beliebt, weil er ihnen mit diesen Spezialkenntnissen den
westlichen Kunst- und Medienbetrieb nahe brachte - ein Feld, das für
den normalen Parteisoldaten tabu war.
Übrigens ist Arno diesem Problemfeld in gewisser Weise treu geblieben.
Jahre später (1987) hat er sich mit einer Untersuchung habilitiert, die
die Wandlungen des literaturtheoretischen Umgangs mit
nichtsozialistischer Literatur nachzeichnet.
Als Erich Honecker Ende 1965 auf der berüchtigten ZK-Tagung den
Kreativen der eigenen Partei Nihilismus, Skeptizismus und Pornographie
vorwarf, sie für die wachsende Unmoral Jugendlicher verantwortlich
machte und ausrief "unsere DDR ist ein sauberer Staat. In ihr gibt es
unverrückbare Maßstäbe der Ethik und Moral, für Anstand und gute
Sitte!“ Da konnte der Hauptverantwortliche für das ermittelte
ideologische Desaster bei den Filmemachern nicht im Amte bleiben. Und
so wurde der Abteilungsleiter Kultur im ZK, Siggi Wagner, der
empfindsame „Riesenpimpf“ (Seghers), hart abgestraft. Zur Bewährung
musste er nun der „Filmminister“ sein und es wurde ein Nachfolger
gesucht der offenbar drei Bedingungen zu erfüllen hatte: er musste
(wegen des gerade offenbar gewordenen ideologischen Einbruchs) ein
Spezialist für all die schlimmen Sachen sein, die damals mit dem
Begriff der Dekadenz zusammengefasst wurden, er durfte (wegen der
gerade ablaufenden taktischen Machtspielchen in der Führung) keine
Hausmacht im Parteiapparat haben und er sollte (damit nicht wieder
diese eigenartigen Kunstvorstellungen Raum greifen) als professioneller
Lehrer vom Bildungsauftrag der Künste fest überzeugt sein und es mit
dem positiven Menschenbild halten.
Da konnte Ulbrichts Wahl wohl nur auf Arno fallen. Und so wurde er in
einer Zeit, da der Apparat schon heftig gegen seinen obersten Chef
intrigierte und nicht ganz klar war, wo es denn nun lang gehen sollte,
Ulbrichts Verantwortlicher für das Parteiressort Kultur - ein Job
zwischen allen Stühlen, zwischen allen Lagern. Als einem Mediennarr und
Künstlerverehrer mussten ihm Referate wie „Der VII. Parteitag der SED -
Grundlage für das künstlerische Schaffen” nicht so leicht fallen. Was
Künstler von solchen Darlegungen hielten, war ihm hinreichend bekannt.
Aber ihre berechtigten (wie auch anmaßenden) Interessen im eigenen
Hause oder gegenüber den vielen staatlichen Instanzen zu vertreten,
fehlte es „der Kultur“ im Hause an Durchsetzungskraft. Selbst sein
damaliger Vorgesetzter beklagte in seinen (leider über weite Strecken
belanglosen „Erinnerungen“) seine kulturpolitische Machtlosigkeit und
schrieb beschönigend „Im Großen und Ganzen herrschte auf dem Gebiet der
Kultur ein ziemliches Durcheinander“ - zitiert aber immerhin
Strittmatter, der die wirklichen Bestimmer aufzählt:
Propagandaabteilung, Bezirkssekretäre, sowjetische Botschaft … „und
zuletzt die Kulturabteilung des ZK“.
Als ich Arno fragte, ob er die Versetzung an eine Universität nicht als
Degradierung empfunden habe, hat er nur gelacht: "ich war ja froh. Man
hat in diesem Apparat nur ausführen können, was Obere beschlossen
hatten. Du musstest das ja ausführen und das war ein Verhalten, das da
von einem verlangt wurde, das fast unmenschlich war." Und das hielt ihn
auch davon ab, an die Parteiakademie zurückzukehren. Für ihn war das
„große Haus“ schließlich nur eine Episode, eine Zwischenzeit in seinem
akademischen Werdegang. Allerdings hat Arno - geschuldet seiner Neugier
und Beobachtungsgabe, auch wohl vermöge seines Sinnes für bedeutsame
Kleinigkeiten und vor allem Dank seines wahrlich überragenden
Detailgedächtnisses - viel über Ereignisse und über Personen dieser
Zeit berichten können. Das hat sich der von ihm unterstützte
Arbeitskreis Kulturgeschichte der Kulturinitiative'89 zu nutze gemacht
und etliche seiner einschlägigen Erinnerungen festgehalten.
In unserem Gespräch vor vierzig Jahren hat mir Arno seine unbedingte
Loyalität zu unserem Institut erklärt und sie dann immer bewiesen,
selbst wenn in der Sache die Meinungen weit auseinander gingen und er
starke Einwände hatte. Sie betrafen fast immer die so genannten
„praktischen Seiten“ des wissenschaftlichen Lebens: die Unfähigkeit
sich auf die politischen Konstellationen einzustellen, als Anwälte des
Ästhetischen den Realien des Alltags ins Auge zu schauen, die Macht der
Medien nicht nur zu akzeptieren, sondern auch zu berücksichtigen.
Welche Groteske, als es ihm nicht gelang, unsere Kollegin Gudrun davon
zu überzeugen, dass sie als Lehrerin die Pflicht habe, zu verfolgen was
die westdeutschen Massenmedien senden. Sie war wohl im Recht: wenn sie
sich darauf einließe, könne sie ihrer Gesinnung nicht weiter vertrauen.
Aber es gelang ihm ja auch nicht durchzusetzen, dass das „Neue
Deutschland“ die wichtigen künstlerischen Ereignisse des Westfernsehens
rezensiert. Nun hat sich das auf eine Weise erledigt, die weder Gudrun,
noch Arno oder ich gewollt haben.
Und noch eine Anmerkung zu seiner aktiven Loyalität mit dem
Universitätsbereich, der für zwei Jahrzehnte sein Arbeitsort war. Für
„unseren“ Bereich und für die ganze Sektion Ästhetik und
Kunstwissenschaften hat er oft - da hielten ihn unsere Oberen der
verschiedenen Ränge eben für einen alten Politsoldaten - den Buckel
hingehalten. Arno stand für Leute ein, die das oft nicht mal bemerkt
haben oder es nicht sehen wollten. Jedenfalls haben sie es ihm nicht
gedankt. Und dies schon gar nicht, als bei der Machtübernahme durch die
Westdeutschen viele daran gingen, für ihr eigenes Überleben zu sorgen.
Das ist inzwischen Schnee von gestern und als aktiver Ruheständler
hatte Arno hinfort das Privileg, den Gang der Dinge distanziert zu
betrachten - voller Unmut wohl, aber dennoch gelassen. Das, woran er
und andere, einst sich abgearbeitet und aufgerieben haben, konnte er
mit wachsendem Abstand erinnern und vielleicht auch abschließend
bewerten. Und das mit der Lebenserfahrung von gut acht Jahrzehnten. In
der Welt der richtigen, also bei den bürgerlichen Akademikern, nennt
man das, was da dann über einen kommt, die Altersweisheit des
Gelehrten. Und so haben wir Arno zuletzt erlebt, als er aktiv an einer
aufgeklärten Erinnerungsarbeit darüber mitwirkte, was ihm Lebensinhalt
war: das Schicksal der Künste in der modernen Welt und das Experiment
einer deutschen sozialistischen Gesellschaft.
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