Report | Kulturation 1/2004 | Anna Scheer | Osama von Siddiq Barmak
| „Der
Verstand ist in den Augen – man glaubt, was man sieht.“ Und wer eine
Gestalt in einer Burkha – ein Schleier, der von Kopf bis Fuß alles
bedeckt – sieht, glaubt, dass dies eine Frau ist. Das Gesicht ist
hinter einem Netz versteckt, so dass man nur schemenhaft erkennen kann,
wer sich dahinter verbirgt.
Mehrfach taucht das Bild der verschleierten Menschen als Symbol der
Unterdrückung in Filmen aus islamisch-regierten Ländern auf. So auch
bei dem wahrscheinlich bekanntesten iranischen Regisseur Mohsen
Makhmalbaf in einem seiner letzten Filme „Kandahar“ (2001), wo die
Burkha auch die Möglichkeit zur Tarnung bot.
Mitte der 90er Jahre verlangten die nach Afghanistan eingedrungenen
Taliban von allen Frauen das Tragen der Burkha. Frauen durften nicht
auf die Universität, sogar Mädchen nicht mehr zur Schule – ihre
Rechtlosigkeit führte so weit, dass sie nicht ohne männliche Begleitung
in die Öffentlichkeit durften. Sie waren vollkommen auf die familiären
Strukturen zurückgeworfen. Diejenigen, die keinen Mann in ihrer Familie
hatten, die ihre Söhne, Brüder oder Mann in dem Krieg gegen die
Sowjetunion verloren haben, hatten keine Möglichkeit zu überleben. Der
erste längere Spielfilm, der nach dem Sturz der Taliban in Afghanistan
gedreht wurde, thematisiert genau diese Situation – kurz nach der
Machtergreifung der Taliban.
Der Film „Osama“ beginnt mit einer Demonstration von verschleierten
Frauen. Sie tragen Transparente, auf denen steht: „Wir sind nicht
politisch – Wir sind Witwen – Gebt uns Arbeit“. Kurz darauf kommen
bewaffnete Talibankämpfer und treiben die Demonstrierenden mit
Wasserwerfern auseinander. Ein Bündel mit einem Säugling fällt durch
den Wasserstrahl auf die Erde. Man hört das Schreien der Frauen und
sieht, wie sie wegen der langen Gewänder nicht schnell genug rennen
können. Eine Frau flüchtet mit ihrer Tochter in ein Versteck, in das
auch ein Junge rennt. Nur kurz schauen sich die Kinder an.
Auch in den nächsten Szenen wird wie ein Prolog die Situation der
Mutter und ihrer Tochter beschrieben: Es gibt niemanden, der sie auf
der Straße begleiten könnte, die Frau findet keine Arbeit, das
Krankenhaus, in dem sie gearbeitet hat, wird geschlossen. Man sieht
eine Gruppe von Menschen das Krankenhaus über einen langen Flur
verlassen. Ein kleiner Junge mit einem Holzbein ist zu langsam, der
Abstand zwischen ihm und den anderen wird immer größer. Die Stimmen
verklingen, man hört nur noch das Klicken des Holzbeins im Rhythmus der
ruckartigen Bewegungen des Kindes.
Der Regisseur Siddiq Barmak verwendet fast keine Musik, sondern nur
die Originaltöne, was im Zusammenspiel mit den metaphorischen Bildern
eine atemberaubende Wirkung erzeugt. Mit emotionalen Mitteln zu
arbeiten, ist für ihn derzeit die einzig mögliche Form, Filme zu machen
– in einem Land mit 85 Prozent Analphabeten, in dem nur wenigen dieses
Medium vertraut ist. Barmak erzählt von den Frauen, „die immer als
erstes leiden müssen“. Was wäre, wenn sie das Auge und damit den
Verstand betrügen würden? Ist eine Frau ohne Burkha ein Mann?
Die Mutter wartet nicht auf einen Regenbogen, von dem es heißt,
dass, wer unter ihm hindurchläuft, sein Geschlecht wechselt. Es gibt
keinen Regen. Kurzerhand schneidet sie ihrer Tochter den Zopf ab und
kürzt eine Hose ihres gefallenen Mannes. Das Kind ist nun ein Junge und
hat die Möglichkeit, für seine Familie zu sorgen. Nur der Junge aus dem
Versteck, Espandi, erkennt sie und fordert Schweigegeld. Doch gerade
dieser Junge wird es sein, der sie später vor den Mullahs beschützt.
Das Mädchen muss – wie alle Jungs – in die Koranschule, wo sie fast
starr vor Angst ihre Entdeckung fürchtet. Sie rennt nicht, sie klettert
nicht auf den Baum – weiß noch nicht mal ihren Namen. Danach gefragt,
antwortet Espandi für sie: Osama. Einen Namen, den jeder kennt – und
der ehrfürchtig klingt.
Der Regisseur entschied sich für diese märchenhaft strukturierte
Geschichte, die alle angeht. Auch wenn die Taliban nicht mehr regieren,
so wird es noch dauern, bis sie tatsächlich besiegt sind. „Wir müssen
uns erst selbst zusammensetzen, dann das Land.“ sagte Siddiq Barmak in
einem Interview, der seinem Film ein Zitat voranstellt: „Ich werde
verzeihen. Aber ich werde nie vergessen.“ In der deutschen Fassung
steht als Urheber Nelson Mandela, auch das Presseheft, gibt ihn als
Verfasser an. Jedoch ist eindeutig in Farsi zu lesen, dass dort ein
Text des iranischen Geistlichen Schariatmadari steht – ein Vordenker
der Mudschaheddin. Barmak war selbst, nachdem er sein Regiestudium in
Moskau abgeschlossen hatte, ab 1989 Kämpfer der Mudschaheddin, später
begleitete er Massouds Truppen mit einer Kamera. Aus der Ferne wirkt
dieser Weg widersprüchlich, zeigt aber vielmehr, wie kompliziert die
politischen Verhältnisse in Afghanistan sind. Um so mehr wäre
Aufklärung wichtig, stattdessen entsteht der Eindruck, dass man dem
deutschen Zuschauer eine authentische Übersetzung des Film nicht
zutrauen will. Auch an anderer Stelle wird merkwürdig ungenau
übertragen: Als das Mädchen mit den anderen im Hammam ist und der
Koranlehrer sich wundert, dass sie aussieht, wie Mann und Frau
gleichzeitig, heißt es in deutsch „wie eine Nymphe“. Tatsächlich
vergleicht er sie mit „Almanja“, den Deutschen.
Barmak, der mittlerweile wieder – wie auch vor der Talibanzeit –
Direktor von „Afghan Film“ ist, engagiert sich um das Wiederaufleben
der Filmkultur in Afghanistan. Hierfür wird er vor allem vom Iraner
Mohsen Makhmalbaf unterstützt, der ihm Kontakte zu internationalen
Produktionsfirmen vermittelte, durch die „Osama“ realisiert werden
konnte. Ebenso abeitet auch der Kameramann Ibrahim Ghafuri sonst mit
Makhmalbaf sowie dessen Tochter Samira.
Die Geschichte von dem Mädchen, was ein Junge werden will, geht
nicht gut aus. Wiederum symbolträchtig inszeniert – dem Mädchen läuft
das Blut ihrer ersten Menstruation die Beine hinab – droht ihr die
Scharia mit dem Todesurteil. Dem kann sie entkommen, wird dafür aber
mit einem alten Mullah verheiratet.
Die Hauptdarstellerin Marina Golbahari spielt ihre Rolle großartig.
Den Ausdruck ihres Blickes, bevor sich die Tür mit einem großen Schloß
für immer schließt, wird man nicht vergessen können. Der Regisseur
suchte unter mehreren Tausend Mädchen nach einer geeigneten
Darstellerin, bis er sie Marina Golbahari beim Betteln auf der Straße
entdeckte. Sie, wie auch die meisten anderen Schauspieler, die allesamt
Laien sind, wusste vor der Arbeit an „Osama“ noch nicht einmal, was ein
Film ist. Jetzt gibt es wieder Kinos in ihrem Land, das Projekt „Mobile
Cinema“ zieht über die Dörfer. Und die zwölfjährige erhielt als Lohn
für ihre Arbeit an dem Film ein Haus – eines aus Stein, in das sie nun
mit ihrer zwölfköpfigen Familie lebt.
Seit dem 15.01.2004 im Kino
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