KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
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RezensionKulturation 2021
über Lisa Maschke, Michael Mießner, Matthias Naumann:
Kritische Landforschung. Konzeptionelle Zugänge, empirische Problemlagen und politische Perspektiven
Dieter Kramer
Politik für die Region
Maschke, Lisa; Mießner, Michael; Naumann, Matthias: Kritische Landforschung. Konzeptionelle Zugänge, empirische Problemlagen und politische Perspektiven. Bielefeld, transcript Verlag 2021. (Kritische Landforschung Bd. 1)

Angesichts der häufigen Verständnislosigkeit zwischen vielen „urbanen Kosmopoliten“ (Wilenga) und vielen Menschen in den Regionen ist die Auseinandersetzung mit den Verhältnissen in den Regionen für die Entwicklung der Demokratie in Deutschland außerordentlich wichtig. Der Band erinnert an das gewachsene Interesse am Thema „Ländliche Räume“. Er ist der erste einer geplanten Reihe „Kritische Landforschung“ und will die Anbindung an die „rural studies“ vor allem im englischsprachigen Raum herstellen. Sie ist auch im deutschsprachigen Bereich vernachlässigt. Die Verbindung zur kulturwissenschaftlichen Literatur müsste in weiteren Bänden hergestellt werden: In der Europäische Ethnologie (früher Volkskunde), für die in ihrer Geschichte die ländliche Bevölkerung immer besonders wichtig war, spielte lange Zeit gegenwartsbezogene Landforschung keine große Rolle. Erst in den 1960er Jahren lenkten Edit Fél und Támas Hofer, aus den USA zurückkehrend, mit ihren Studien zu den Verhältnissen in dem ungarischen Dorf Átány unmittelbar vor der Kollektivierung der Landwirtschaft in Ungarn die Aufmerksamkeit auf die „Rural studies“ im angelsächsischen Raum. Inzwischen hat Leonore Scholze-Irrlitz in dieser Disziplin das Thema aufgegriffen, und Susanne Elsen in Südtirol hat sich mit Sozialer Landwirtschaft beschäftigt.

„Zukunft auf dem Dorf. Zukunftskonzepte und Planungen für den ländlichen Raum im 20. Jahrhundert“ heißt eine für 2021 geplante Online-Konferenz in der Europäischen Ethnologie (dmueller@lamo.de, vgl. dgvInformationen 1/1921 Marburg S. 47/48) Die Diskussionen über Landwirtschaft und Land im 20. Jahrhundert – von der „Lebensreform“ bis zur Politik – waren sehr vielfältig, auch bei den Linken. Nur ein Beispiel: Der Austromarxist Otto Bauer schreibt 1925 „Ob wirklich, wie Kautsky glaubt, auf einer späteren Entwicklungsstufe der sozialistischen Gesellschaft die Schätzung der Selbständigkeit auf eigener Scholle so vollständig verschwinden wird, daß die Bauern ihre Güter zu genossenschaftlichen Großbetrieben zusammenlegen werden, um die Vorteile höherer Produktivität der Arbeit, die der Großbetrieb bietet, genießen zu können, das hängt von technischen und massenpsychischen Entwicklungen ab.“ (Bauer 244) Unabhängig davon plädiert der junge Wolfgang Abendroth, später Politikwissenschaftler in Marburg, 1927 in der Kritik am Entwurf eines sozialdemokratischen Agrarprogramms dafür, große Güter in sozialistisches Eigentum zu überführen, die Kleinbäuerliche Wirtschaft aber vorerst weiterzuführen und so zu unterstützen, dass sie nicht mehr von den preußischen Agrariern politisch instrumentalisiert werden kann. (Abendroth 2006, S. 51-54)

In dem vorliegenden Band „Kritische Landforschung“ von 2021 sind ländliche Räume nicht mehr nur „Resträume“ als „bloße Negativfolie der vorwiegend positiv bewerteten Agglomerationen.“ (7; Seitenzahlen beziehen sich, wenn nicht anders genannt, auf das rezensierte Buch Matschke u.a). Stichworte sind: Abkopplung und Transformationen ländlicher Räume; (13, 17) gefragt werden soll, „wie eine emanzipatorische Politik für diese aussehen müsste.“ (13) Dabei geht es um ländliche Ökonomien; sozialen Wandel und Machtverhältnisse in ländlichen Räumen; Mensch-Umwelt- Beziehungen in ländlichen Kontexten. (21) Themen sind ferner die Veränderungen des „Nahrungsregimes“ bis 1945, die dann folgende Industrialisierung 1945 – 1980, ab 1980 die Transnationalisierung mit der Frage nach einer „Kritischen Umweltgerechtigkeit“. (35) Man scheint auf dem Weg zu einer „postproduktivistischen Ära, in der ökologische und soziale Aspekte in der Landwirtschaft an Bedeutung gewinnen“. (46) Es gibt die über die WTO Welthandelsorganisation angeregten marktbasierten Lösungen mit „Supermarketisierung und dominanter Industrie und globalen Produktions- und Lieferketten mit Billiglohn-Arbeitern.“ Auch die ökologische Landwirtschaft unterwirft sich teilweise diesem Regime und bedeutet damit nicht zwangsläufig eine Abkehr von intensiver Bewirtschaftung und Monokulturen oder schlechten Arbeitsbedingungen. (47)

„Finanzialisierung“ der Landwirtschaft und des Agrar- oder Waldlandes (50) ist verbunden mit gewinnsuchenden Investitionen in Grund und Boden auch im Süden („Landgrabbing“ wird es hier nicht genannt). Auch internationale Rentenfonds sind einbezogen.

Themen sind ferner ländlicher Strukturwandel, ländliche Räume als Ressourcenlieferanten (51) und die Art und Weise, wie die Bewohner darauf reagieren. Überregionale Investoren beeinflussen mit Abwanderungsdrohungen die ländlichen Bewohner. Öffentliche oder als Allmende dienende Räume werden kommodifiziert. (53, s. Kap. 4.2) Überall könnte man auch politisch einschreiten.

„Die Bedürftigkeit, die durch ein geringes oder kein Einkommen entsteht, wird in ländlichen Räumen häufig durch lokale Netzwerke, den eigenen Anbau von Lebensmitteln oder schlecht bezahlte Arbeit verdeckt.“(61) Ländliche Gentrifizierung findet statt. (77) „Die Zurückgebliebenen besitzen zwar in den meisten Fällen ein Eigenheim, haben aber nur eingeschränkten Zugang zu sozialen Dienstleistungen.“

Es gibt auch außerhalb von Deutschland „Weiße Orte“ samt Rassismus in ländlichen Räumen und die Verhinderung der Ansiedlung von Migranten (64). Gender, Sexualität, Homosexualität und Maskulinität spielen auch in ländlichen Räumen eine Rolle.(69)

„Im Allgemeinen gelten ländliche Räume als resilient, wenn die Lebensgrundlage der Bevölkerung sich nicht ausschließlich auf einen wirtschaftlichen Sektor stützt.“ Auch der „Aufbau sozialer Netzwerke“ und der „Bezug auf regionale Traditionen und Gebräuche“ (89) tragen dazu bei, aber wegen der Machtverhältnisse in ländlichen Räumen (91) ist oft die „ländliche Bevölkerung … nicht in die Entwicklung der Programme einbezogen“ (89)

Das LEADER-Programm der EU ist „dem Ansatz der endogenen Entwicklung verpflichtet“ und soll „modellhaft innovative Projekte in ländlichen Räumen fördern“ (s. 3.4.2). Ein besonderes Gewicht liegt dabei auf der Stärkung lokaler Ressourcen und Kompetenzen sowie auf den lokalen Entscheidungsprozessen. Angestrebt und gefördert werden Partnerschaften zwischen öffentlichen, privatwirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren für eine „integrierte Entwicklung ländlicher Räume“. (95) In der Praxis dominieren freilich oft Verwaltung und Behörden-Vertreter.

Modernisierungsparadigma und endogenes Entwicklungsparadigma werden unterschieden. (96/97) Aber oft kommt das Gleiche heraus. Eine „neoendogene Entwicklung bezieht lokale und extralokale Akteure ein sowie „partizipative Steuerungsformen“: (99) Aber wer setzt die Ziele? Sind es ökonomische, vor allem auf Wachstum orientierte Ziele, in deren Dienst staatliche (regionalpolitische) Akteure sich stellen lassen, oder Ziele der lokalen Bevölkerung, die sich an der eigenen Lebensqualität und Nachhaltigkeit orientieren, oder ist es eine lokale Bevölkerung, die sich von den fremdbestimmten politischen und ökonomischen Interessenten vorgaukeln lässt, dass deren Wachstumsziele zukünftigen Wohlstand bedeute und dabei nicht daran denken, dass Wohlstand nicht mit Lebensqualität gekoppelt ist?

Lokale Selbstorganisation im ländlichen Raum, angebunden an Überlegungen zu Resilienz, kann kompatibel sein mit neoliberalen Zielen, bei denen bürgerschaftliches Engagement eingefügt werden soll in Wachstumsstrategien. (108) So sollen jene Lücken gefüllt werden, die entstehen, weil der Staat wegen der angestrebten „schwarzen Null“ im Haushalt das Infrastruktur-Netz und die „Daseinsfürsorge“ vernachlässigt (wie bei Krankenhausschließungen?

Lokale Selbstorganisation kann sogar als Teil einer neuen gesellschaftlichen Segregation in kommenden Krisen gesehen werden: politisch und wirtschaftlich relevante Gruppen, vielleicht auch kulturelle Akteure, die für diese genannten Gruppen wichtig sind, werden in geschützten Arealen konzentriert, die anderen aber sollen sich bitte mit selbstorganisierten Resilienz-Strategien in anderen Territorien gefälligst selbst irgendwie am Leben zu erhalten versuchen. (Neckel)

Sie kann aber auch Teil einer demokratischen „progressiven Entstaatlichung“ sein, bei der die Menschen unter Schutz und Förderung des Staates in die Lage versetzt werden, ihren eigenen Zielen selbstorganisiert und ohne Gängelung durch fremde Gewinninteressen gemeinwohlorientiert zu folgen. (Kramer)

Aussteiger und Aussteigerinnen im ländlichen Raum, kleinbäuerliche Landwirtschaft mit Selbstversorgung (111) und Gemeinschaftsgüter werden in dem Buch zurückverfolgt bis zur Magna Carta von 1215 und mit Elinor Ostrom neu gewertet. (113) Sie können als utopisches Projekt eines „libertären und neuen Munizipalismus“, wie er 1986 von Bookchin vorgeschlagen wird, in eine gesellschaftliche Transformation münden. (117) Andere denken ähnlich, meinen aber eher ein ideologiefreie allmähliche Transformation. (D. Klein, Ulrich Brand). Über einen „neuen Munizipalismus“ für ländliche Räume wird diskutiert. (119) Vom „Recht auf Dorf“ wird geredet wie vom „Recht auf Stadt“, ebenso wie über den Weg „von der kritischen Landforschung“ zu einer „alternativen Landpolitik“ mit „gleichwertigen Lebensbedingungen“. (125) „Was eine kritische Landforschung und eine emanzipatorische Politik in ländlichen Räumen bedeuten, ist dabei immer wieder aufs neue auszuhandeln.“ (Schluss, 125)

Der Text will vor allem auf die englischsprachige Literatur hinweisen. Nicht ausdrücklich berücksichtigt wird „Soziale Landwirtschaft“ wie sie in Italien praktiziert wird (Elsen 2020) Im deutschsprachigen Raum gibt es in vielen Fällen ähnliche Entwicklungen, zudem solche, die auch Kulturwissenschaften (etwa Europäische Ethnologie/Volkskunde einbeziehen (Scholze-Irrlitz 2019)


Im Text erwähnte Literatur:

Abendroth, Wolfgang: Der Entwurf eines sozialdemokratischen Agrarprogramms. In: Abendroth, Wolfgang: Gesammelte Schriften Bd. 1 1926-1948. Hg. und eingeleitet von Michael Buckmiller, Joachim Perels und Uli Schöler. Hannover: Offizin 2006

Bauer, Otto: Der Kampf um Wald und Weide. Studien zur österreichischen Agrargeschichte und Agrarpolitik. Wien: Wiener Volksbuchhandlung (Agrarsozialistische Bücherei, hg. von der Agrarpolitischen Kommission der Deutschösterreichischen Sozialdemokratie Nr. 1).

Brand, Ulrich: Post-Wachstum und Gegen-Hegemonie. Klimastreiks und Alternativen zur imperialen Lebensweise. Hamburg: VSA 2020.

Elsen, Susanne (Hrsg.): Perspektiven der Sozialen Landwirtschaft unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklungen in Italien: Bozen: Bu,press 2020.

Kramer, Dieter: Es gibt ein Genug. Lebensqualität, Enkelgerechtigkeit und die kulturellen Dimensionen zukunftsfähigen Lebens. München: Oekom Verlag 2019.

Neckel, Sighard: Im Angesicht der Katastrophe. Der nahende Zusammenbruch des Erdsystems und die sozial-ökologische Transformation. In Blätter 2/2021 S. 51-58.

Scholze-Irrlitz, Leonore: Paradigma „Ländliche Gesellschaft“. Ethnografische Skizzen zur Wissensgeschichte bis ins 21. Jahrhundert. Münster: Waxmann 2019.

Wielenga, Bastiaan: Art. Dorfgemeinschaft. In: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus Bd. 2. Hamburg: Argument-Verlag 1995, Sp. 825 – 830.

© Dieter Kramer kramer.doerscheid@web.de März 2021