Rezension | Kulturation 2018 | über Gerd Dietrich:
| Horst Groschopp | Rezension einer Kulturgeschichte der DDR:
Umfassende ostdeutsche Kulturkunde
| Gerd Dietrich
Kulturgeschichte der DDR
3 Bände
Band I: Kultur in der Übergangsgesellschaft 1945-1957
Band II: Kultur in der Bildungsgesellschaft 1957-1976
Band III: Kultur in der Konsumgesellschaft 1977-1990
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Verlage 2018, 2.429 S.,
ISBN 978-3-525-30192-0
120 €
Folgt er dem vorliegenden Buch, so hat der Rezensent in drei
Kulturen gelebt, bevor er in eine vierte (und weitere?) übergeben
wurde, die der Bundesrepublik Deutschland; folgt er den aktuellen
Debatten, so ist er ein Vierteljahrhundert nach dem Ende der DDR in die
andere deutsche Gesellschaft nur mangelhaft integriert worden (Petra
Köpping, 2018). Es prägten zum einen seine frühere Sozialisation in der
DDR in Verbindung mit seinem Lebensgang ebenda und zum anderen seine zu
erbringenden Anpassungsleistungen vor und nach der „Wende“ die
eigenartige „Erfahrung, ostdeutsch zu sein“. Das machte ihn womöglich
heimatlos, erzeugte jedenfalls eine gewisse Unbehaustheit seines
Daseins (Engler/Hensel, 2018). Schon 2002 hatte Dorothee Wierling
seinen Jahrgang 1949 einer Studie unterzogen und ihr Buch „Geboren im
Jahr Eins“ genannt. Er gehörte also zu den Ersten.
Auch Gerd Dietrich behandelt in seinem fast
2.500-Seiten-Kompendium die „Generationenfrage“. Er widmet sich
besonders den „Hineingeborenen“ (vgl. III, S. 1.699 ff.), den „Kindern
der DDR“. Sie gelten Historikern und Soziologen als die „eigentlichen
Problemjahrgänge“ (III, S. 1.701) in der ostdeutschen Population. Bernd
Lindner nannte 2003 diese Kohorte eine „integrierte Generation“ (III,
S. 1.704), die (so fügte Marc-Dietrich Ohse im gleichen Jahr hinzu;
ebd., S. 1705) „‘im permanenten Spannungsfeld von politischer
Formierung und privater Gestaltungsfreiheit’“ gelebt habe. Integriert
bedeutet „systemnah“ – nur gut, dass ich aus Rentnergründen
Karrierezwängen enthoben bin. Solches Urteil gilt da nicht mehr viel,
zumal der Autor des Buches in seinem Resümee beruhigend betont, man
habe in der DDR kein unwahres Leben gelebt, wie es eine nach 1990 gern
politisch eingesetzte These Adornos nahelegte, es gäbe kein richtiges
Leben im falschen (vgl. III, S. 2.332).
Die Rezension der vorliegenden „Kulturgeschichte“ erfolgt,
deshalb der lange Vorspruch, nicht voraussetzungsfrei, nicht nur, weil
man die handelnden und zitierten Personen oftmals kennt und auch einige
der angeführten Quellen gelesen hat. Es ist vielmehr der einem ewig
nachschleichende Verdacht der Befangenheit durch den
geographisch-politischen Lebensmittelpunkt, der noch immer zur
„Erfahrung, ostdeutsch zu sein“, dazugehört, gerade wenn es sich um
Urteile über die DDR handelt, auch im wissenschaftlichen Umfeld.
Oft geht es dabei – wohlwollend gemeint – um die
„Authentizität“ des Augenzeugen gegenüber einem Beobachter aus dem
Westen. In der Regel geht es aber um mehr, nämlich um getrübten Blick
durch Zeitzeugenschaft und Erziehung. So fühlte sich auch Hannes
Schwenger in seiner „Tagesspiegel“-Rezension des vorliegenden Buches
dazu angehalten, unbedingt auf die Berufsgeschichte von Gerd Dietrich
hinzuweisen und auf das „Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der
SED“ extra zu betonen, weil dem Autor damit „niemand vorwerfen [könne],
die DDR sei ihm fremd geblieben“ (4.11.2018, S. 29) – und Schwenger
findet dann auch eine Belegstelle für die besondere Nähe zur DDR,
nämlich die rühmende Haltung von Gerd Dietrich zum „Palast der
Republik“ (vgl. II, S. 1479 ff). Dieses vor einigen Jahren abgerissene
Bauwerk, um das Hohenzollernschloss wieder zu errichten, gilt noch
immer als Kampfsymbol. Noch immer werden Bauherr, Funktionalität,
Nutzung, Kosten, Asbestanteil und weitere Parameter mit dem ICC in
Westberlin aufrechnend verglichen. Je gründlicher Dietrichs
„Kulturgeschichte“ gelesen sein wird, umso mehr solche „Geßler-Hüte“
werden sich finden.
Die DDR ist heute, um es in der Sprache der Briefmarkenfreunde
zu sagen, ein abgeschlossenes Sammelgebiet. Sie selbst kann zu ihrer
Geschichte nichts mehr hinzufügen. Es gibt auch keine Repräsentanten,
die sie in deren Namen interpretieren, so sehr sich auch immer Stimmen
aufschwingen, dies zu tun. Michael Rutschky provozierte 1999 („Der
Alltag“, Band 72), die DDR entstehe erst jetzt. So ist es. Da kommt
Dietrichs Werk gerade richtig.
Rutschky meinte damit, dass das, was die DDR auszeichne,
Produkt sowohl einer Debatte über sie als auch sich wandelnder
Zeitumstände sei. Das Bild der DDR bleibt weiter strittig. Verblüffend
ist die in die Tausende gehende Zahl der in den letzten zweieinhalb
Jahrzehnten veröffentlichten sach- und wissenschaftsorientierten
Artikel und Bücher zum Thema (vgl. die sehr umfängliche, obwohl
sparsame Auswahlbibliographie III, S. 2.365-2.379).
Gerd Dietrichs „Kulturgeschichte“ bringt sich in diesen Reigen
auf mehrfache Weise ein. Sie ist eine Ausnahmeerscheinung, nicht nur
vom Umfang her, weil dicker als das „Handbuch der Kulturwissenschaften“
von 2004 (Jaeger/Rüsen), sondern auch, weil es das Werk eines
Einzelautors ist, was auch zeigt, Computer haben zunehmend mehr
Speicherkapazitäten.
Eingangs diskutiert der Autor die gängigen Thesen über die DDR
ausführlich. Er versucht, sie historisch zu ordnen, inklusive der am
Schluss des Werkes (mit ironischem Unterton) angefügten „Sieben Arten
Ostalgie zu beschreiben“. Er möchte den Streit aus der westdeutsch
konnotierten, engführenden Opfersicht herauslösen (vgl. III, S.
2.346-2.355). Das Vorwort (vgl. I, S. XI-XLII) unterzieht vorliegende
wissenschaftliche Ordnungsmuster und Paradigmen der DDR-Geschichte
ebenfalls einer wertenden Betrachtung. Dabei wird der Gegenstand „DDR“
definiert als „Komplementärbegriff für die ostdeutsche Gesellschaft“
von 1945 bis 1990 (vgl. I, XXIX).
Es werden kulturwissenschaftliche Methoden der
Geschichtsforschung und praxeologische Ansätze gegen eine
ausschließlich politische Betrachtung gesetzt, um die DDR
„ambivalenzfähig zu machen“ (Lutz Niethammer, zitiert I, S. XXVI).
Kulturpolitik und das Politische überhaupt werden bei Dietrich zu
Teilen „eines kulturellen Feldes“ (I, S. XXVI), wobei „Kultur“ sowohl
in den sozialen Lebensformen des Alltags (und ihren ökonomischen
Verursachungen) wie in den spezialisierten Kunstbereichen (und deren
Präsentationen) aufgesucht wird.
Der Autor entzieht sich nicht der bisher dominierenden
Diktaturforschung, sondern ist an einer dialektischen Sicht auf die
Zusammenhänge interessiert. Er fragt danach, wie sich die Diktatur
konkret in dem äußert, was er als Kultur bestimmt; wie dieses
Kulturelle auf die Formen und Methoden zurückwirkt, in denen sich das
Diktatorische äußert.
Deshalb folgt seine zeitliche Einteilung auch nicht den
üblichen politisch-staatlichen Großereignissen mit den markanten
Einschnitten: Gründung der DDR 1949, Mauerbau 1961 (den „viele
Funktionäre inoffiziell als den heimlichen Gründungsakt der DDR
begriffen“ [II, S. 829]), Untergang der DDR 1990 oder Ulbricht- versus
Honeckerzeit. Er unterteilt vielmehr in drei Bände, um seine Befunde um
die jeweiligen typischen Widersprüche zwischen dem Kulturellen und der
angewandten Diktaturform in dem jeweiligen Zeitabschnitt zu erfassen:
Übergangsgesellschaft und Mobilisierungsdiktatur (1945-1957),
Bildungsgesellschaft und Erziehungsdiktatur (1958-1976),
Konsumgesellschaft und Fürsorgediktatur (1977-1990).
Dementsprechend werden in allen drei Bänden die gleichen
Kriterien als Urteilsmaßstäbe angelegt, um die Ziele und Ergebnisse von
Kulturpolitik anhand der jeweiligen Befunde des Zeitabschnittes zu
diskutieren. Sie sind der Kultursoziologie der Bundesrepublik
entnommen, wie sie Gerhard Schulze 1992 entfaltete, in einem Buch, das
nach dem Ende der DDR und damit auch der alten Bundesrepublik erschien
und das deshalb nicht die Beachtung fand, die es bis heute verdient,
denn „Erlebnisgesellschaft“ war für die neue Zeit einfach ein
unpassender Titel.
Dietrich formuliert, sich auf Schulze stützend, für sein Buch
folgende sieben Motive kulturpolitischen Handelns und damit zugleich
die Gegenstände seiner Kulturanalyse (vgl. I, S. XXXII-XXXV), hier in
Stichworten: Umerziehung, Hochkultur, Demokratierung, Kampf,
Produktivität, Breitenkultur, Unterhaltung. Die Erörterungen sind
jeweils sehr dicht. Der Autor kommt an keiner Stelle seines Buches in
Versuchung, sich der einen oder anderen vorgestellten Position
vorbehaltlos anzuschließen oder durch allzu flotte Formulierungen
Themen für das Feuilleton zu liefern, die dann vielleicht den Verkauf
ankurbeln.
Die abwägende Schreibweise verführt allerdings zum Stil der
Berichterstattung über das Gewesene und Gelesene und manchmal ist aus
dem Ton auf Motivation der Quelle zu schließen, besonders wenn man
gelernt hat, zwischen den Zeilen zu lesen. Doch die Leserschaft kann an
der Masse des Stoffs nicht vorbei, soll sich selbst ein Urteil bilden,
bekommt dafür vielfältig Material, Ereignisse, Episoden,
Originalquellen, Zitate die Menge, Standpunkte, Meinungen und
entsprechende Fußnoten. In jeder „Etappe“ wird an Ergebnisse der
vorherigen erinnert, so entsteht, wenn man diesen oder jenen Bereich
herauslösen und gesondert publizieren würde, eine „Literaturgeschichte
der DDR“ oder eine Geschichte ihrer Arbeitsauffassungen. In historisch
neue Phänomene wird eingeführt. Band III bietet vierzig Seiten
Personen- und sechs Seiten Ortsregister. Auf ein Sachregister auf der
Homepage des Verlages wird verwiesen, es ist aber dort nicht
auffindbar.
Es bringt nicht viel zu sagen, der Autor wendet einen
erweiterten Kulturbegriff an. Um anzudeuten, was das praktisch heißt,
sollen einige Themen aufgezählt werden: Arbeitswelt (inklusive der
durchgängigen Arbeitszentriertheit der DDR-Kultur), Agrar- und
Rechtspolitik, Architektur und Wohnungsbau, Autokauf und Kleingärten,
Belletristik und Lyrik, „Bitterfelder Weg“ und künstlerisches
Volksschaffen, Brigaden als „Ersatzvereine“, Essgewohnheiten und
Bekleidung, Filme, Frauen, ihre Emanzipation und dqas Heiratsverhalten,
Gesundheitswesen, „jüdische Kultur“ (III, S. 2.125 ff.), die Jugend und
die Rentner, Kabarett und Karneval, Kulturbund, Kunstausstellungen und
Konzerte, Radio und Fernsehen, Schallplatten und Musik, Schulreformen
und Hochschulwesen mit Akademien, Sorben, Sport als Leistung und
Freizeit, „Sportnation“ und Sonderrolle Fußball, Stadt und Land,
Stalinkult und Ulbricht-Ehrung, Verbandsarbeit, Verlage und Presse,
Vergnügungen, Umweltprobleme, Naturschutz und Stadtsanierung, Wohlfahrt
und Lebenshilfe usw. bis hin zu begründeten Vermutungen über die
Sexualität (vgl. III, S. 1958 ff.) und die Wirkung bestimmter Schlager
und Witze – und immer eingebettet die großen Intellektuellendiskurse,
etwa über Erbe, Tradition, Moderne, Formalismus, Funktionalismus und
Realismus, „Tauwetter“ und Entstalinisierung oder über die Nation,
stets mit Ausflügen in die Philosophie und Geschichtswissenschaft, so
weit die Streitfragen dort Kulturauffassungen spiegeln.
Bei dieser Methode wird zweifellos das subjektive Urteil
zurückgestellt. Wo es anhand der Quellen dann doch durchdringt, etwa
bei der Behandlung der letztlich einsamen Entscheidung Honeckers auf
Vorschlag der Staatssicherheit, Wolf Biermann auszubürgern (vgl. II, S.
1572), was eine Partei und eine Bevölkerung dann ausbaden musste mit
all den kulturellen Formen, die das in der DDR annahm, da bietet
Dietrich spannende Geschichten und Kulturbeschreibungen, die den
mitunter trockenden Stoff anderer Abschnitte allerdings kenntlicher
machen.
Hat die Kultur der DDR irgendeine Fortsetzung gefunden oder
ist sie mit dem Staat zuende-, gar untergegangen? Dazu zwei
Anmerkungen: Bereits unmittelbar nach Abschluss des Einigungsvertrages
und den dort gefundenen schwerwiegenden (aber nichtssagenden) Begriffen
vom gemeinsamen „Kulturstaat“(was den Inhalt von Kultur im Vagen lässt)
und der „Substanz“ der DDR-Kultur, die es zu erhalten gelte, begann
eine Grundsatzdebatte. Auf kulturwissenschaftlichen Tagungen fragte
Diethart Kerbs penetrant die anwesenden Ostdeutschen, was denn diese
Substanz sei, etwa die „Kulturhäuser“? Letzteres kann, auch nach der
Lektüre von Dietrichs „Kulturgeschichte“, wie schon 1990/91 verneint
werden, denn es gab zu diesen Einrichtungen, bei allen Besonderheiten
und Betonungen in der DDR, deutsche Vor- und westdeutsche
Parallelformen.
Was also war das Besondere? Es ist die „Substanz“, die sich
selbst generiert, die im Nachhinein noch immer feststellbar ist,
zuvörderst das Fortleben bestimmter Haltungen, aber auch Debatten. Wenn
man das Buch liest, dann erstaunt die fortdauernde, oft überhöhte
„Gesellschaftlichkeit“ nahezu aller Kulturereignisse und Kunstdebatten,
überall scheint Atem der Geschichte durch – bei nahezu jedem
diskutierten Theaterstück oder in der „Kaffeekrise“ oder bei was auch
immer. Nie ging es nur um das Detail, etwa einen FDGB-Ferienplatz oder
einen „Kessel Buntes“, sondern um das Ganze, die große Idee, das
„System“, den neuen Menschentyp. „Dahinter verbarg sich jene
traditionelle und naive Illusion eines utopischen Humanismus, die in
der … DDR immer wieder eine Folie für ideologischen Druck darstellte.“
(I, S. 193)
Wie paradox: Diktatur des Humanismus wegen. Wie unmittelbar
aber auch: Humanismus als Handlungsmotiv, bis dann die Opposition
diesen Anspruch aufgriff, bei Dietrich vom Ablauf her genau erzählt. In
allen drei Bänden wird über „Humanistisches“ berichtet. Wahrscheinlich
wird bis heute auch deshalb so viel an die DDR erinnert, gerade auch
wissenschaftlich, weil das Heute dagegen irgendwie als Kleinklein
erscheint, sich die DDR von der BRD durch ihr ideologisch
allgegenwärtiges „Menschheitsprogramm“ noch immer abhebt.
Dietrich sieht und beschreibt die Modernität der DDR als
„Doppelgesicht: moderne soziale Formen in autoritärem politischem
Gewand“ (II, S. 798). Seine „Kulturgeschichte“ dreht sich in all ihren
Details letztlich um die Frage, was könnte Zukunft haben nach Wegfall
der diktatorischen Hemmnisse.
In seiner Antwort verweist der Autor zunächst auf die Tragik
des deutschen Einigungsprozesses und zitiert Peter Bender („Unsere
Erbschaft. Was war die DDR – was bleibt?“ 1992, S. 146, hier III, S.
2.345): „Die Westdeutschen brauchen die Ostdeutschen nicht“, aber
umgekehrt.
Doch dann, nach Erörterung der „Ostalgie“, die in keiner
Variante ein Rückkehrprogramm aufweise, kommt er zwangsläufig zu
Wolfgang Englers These von den „Ostdeutschen als Avantgarde“ (2004) und
zu Hans Mayers „Der Turm von Babel“ (1991): Die Westdeutschen „könnten
freilich die ‘Ostdeutschen als Avantgarde’ auch fürchten, denn diese
haben ihnen die Erfahrung des Scheiterns voraus. Indem Ostdeutschland
zu einem großen Experimentierfeld geworden ist [was es 1945-1990 schon
war, HG], wäre womöglich von den Ostdeutschen zu lernen, neue Formen
des gesellschaftlichen und persönlichen Lebens zu finden.“ (III, S.
2.356)
Wenn man, dies in Rechnung stellend, nach dem Ertrag der
DDR-Kulturgeschichte sucht, so besteht eine Methode in soziologischen
Analysen, die sich derzeit häufen. Eine andere Methode ist, in der Welt
und „Fremde“ zu fragen, was Nichtdeutschen an Ostdeutschland auffällt,
was aus der DDR herstammen könnte. Die Antworten sind ziemlich
identisch und auch Gerd Dietrich geht darauf ein.
Er nennt den „Volksatheismus“ (vgl. III, S. 1.963 ff.), der
mit einem „Volkshumanismus“ korrespondiert (vgl. III, S. 1.968). Es
handelt sich hier nicht um ein bloß erkenntnismäßiges Ereignis der
Abkehr vom Gottesglauben, sondern um eine besondere Lebensform,
Resultat auch der konsequenten Trennung von Staat und Kirche (vgl. I,
S. 336 ff; II, S. 984 ff., 1.248 ff., 1.482 ff.; III, 1.720 ff.) und
der Hinwendung zur modernen Massenkultur, die „für den westlichen
Menschen in der DDR durchaus prägend“ war (III, S. 1.969).
Das Beispiel wird hier gegeben, um anzuregen, der Studie
Dietrichs die Geschichte einzelner Kulturbereiche irgendwann folgen zu
lassen, etwa (wegen des „Volkshumanismus“) die Geschichte des
Bestattungswesens und der daran gebundenen Festkultur, die aktuell zu
einem deutlichen Nordost-Südwest-Gefälle in Deutschland bei der
Feuerbestattung geführt hat, wie Jane Redlin 2009 sie in ihrer Studie
über selbstverständliche „Säkulare Totenrituale“ in der DDR beschrieb
und die fortzusetzen wäre. Das „Kulturproblem“ ist hier, den
Säkularisierungsvorsprung Ostdeutschlands als Fortschritt anzuerkennen
oder zu versuchen, weil diese Entchristlichung vorrangig als Produkt
der Diktatur und Verlust des „Abendlandes“ gilt, diese Prozesse
rückgängig zu machen – wofür die „neuen Länder“ und die Kirchen ab 1991
ja hohe Summen vergeblich in die „Remissionierung“ investieren.
Die jeweiligen Einleitungen in die drei Bände, die Prologe zu
den einzelnen Kapiteln sowie die zwei Schlussabschnitte und der
abschließende Ausklang sind die stärksten des Gesamtwerkes und könnten
auch für sich stehen. Das hätte vielleicht ein leserfreundlicheres und
kostengünstigeres einbändiges Werk von etwa 300 Seiten ergeben. Die
Folgerungen in dieser Verdichtung stünden dann allerdings ohne ihre
Belege da und das Ergebnis wäre keine Kulturgeschichte, sondern eine
Art erweiterte Prolegomina zu einer solchen, eine weitere theoretische
Erörterung über die DDR, keine umfassende empirische Studie.
Der Rezensent ist ein Anhänger der Papierformen für Sammlungen
in eigenen Regalen und bibliothekarischen Dokumentationszentren. Er hat
zu viel Gesammeltes durch Software-Systemwechsel und Stromausfälle
verloren, um der digitalen Speichermethode voll zu vertrauen. Wie auch
immer Gerd Dietrich den sicher horrenden Druckkostenzuschuss
aufgetrieben oder durch „Konsumverzicht“ selbst beigesteuert haben mag,
das schwerwiegende Ergebnis ist nun unwiderruflich in der Welt, trotz
der ehrenwerten Relativierungen durch den Autor selbst, wenn er
schreibt: Es sei „um Nachsicht für die Paradoxie und Verwegenheit
gebeten, Erklärungen über die Kulturgeschichte der DDR abgeben zu
wollen, wo doch alle um deren Komplexität und Widersprüchlichkeiten
wissen. Immerhin hat sich der Autor fast vier Jahrzehnte lang damit in
Forschung und Lehre auseinandergesetzt. Nun hat er das Nachschlagewerk
geschrieben, das ihm dabei immer gefehlt hat.“ (I, S. XLI) Jetzt liegt
es erfreulicherweise vor.
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