KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
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RezensionKulturation 2021
über Steffen Mau:
Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft
Thomas Koch
Ostdeutschland als Gesellschaft der Bruchzonen (Frakturen) Innovatives und Konventionelles
Steffen Mau Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft, Suhrkamp Verlag Berlin, 3. Auflage 2019, 285 Seiten, 22 Euro.

Dreißig Jahre Mauerfall, >friedliche Revolution< und deutsche Einheit boten 2019/20 Anlass zu vielfältigen Bilanzen, Analysen, Kommentaren. Unter ihnen sticht die des Soziologen Steffen Mau gleichermaßen durch ihren innovativen Charakter wie dichte Beschreibungen des Lebens in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft hervor.

Die welthistorische Relevanz der ostdeutschen Entwicklung

Innovativ ist schon, wie Mau die seit 30 Jahren andauernde Auseinandersetzungen über den Lauf der Dinge in Ostdeutschland einordnet. Das Thema erscheint als >offenes Deutungsfeld, das den lange Zeit triumphierenden Geist des Westens herausfordert. Die Fortschritts- und Modernitätserzählung der westlichen Modellgesellschaft wirkt angekratzt…< (16).

Der Autor interpretiert die Auseinandersetzung mit der sogenannten ostdeutschen Transformation nicht als überflüssige Nabelschau, nicht als lässliche Thematisierung einer im internationalen Vergleich letztlich privilegierten Gesellschaft, sondern sieht in Ostdeutschland tendenziell einen >Verdichtungsraum für auch andernorts zu beobachtende Verwerfungen< (17).

Mau bereichert den einschlägigen Diskurs mit seiner >These struktureller Brüche im ostdeutschen Entwicklungspfad< und seinen Einsichten in die soziale Reproduktion wesentlicher Elemente der DDR-Gesellschaft in den neuen Bundesländern.

Obschon der Terminus Transformation im vorliegenden Buch keineswegs ausgespart wird, findet sich an keiner Stelle eine Definition oder ein reflektierender Bezug auf Transformationstheorien. Daher muss der Begriff auch hier nicht weiter bemüht werden. Dennoch scheint Mau sich in der Sache an eine von Erik Olin Wright entwickelte Matrix zu halten, ohne freilich dessen weltanschauliche Position zu teilen. Wright hatte 2010 in Envisioning Real Utopias einen Gedanken entwickelt, dem Mau offenbar in seiner Darstellung folgt oder der unserem Autor unabhängig von Wright gekommen ist. Wright, den ich nach der deutschen Ausgabe zitiere, schrieb

>Eine... Theorie sozialer Transformation beinhaltet vier miteinander verschränkte Komponenten: eine Theorie der sozialen Reproduktion; eine Theorie der Lücken und Widersprüche innerhalb der Reproduktion; eine Theorie des Verlaufs unbeabsichtigter gesellschaftlicher Veränderungen; und eine Theorie transformativer Strategien< (375) (Erik Olin Wright: Reale Utopien - Wege aus dem Kapitalismus. Aus dem Amerikanischen. Mit einem Nachwort von Michael Brie, Suhrkamp Berlin 2017. S.375).

Wie wir noch sehen werden, hat Mau die ersten drei Komponenten im Blick, die vierte spart er aus.

Zunächst einmal lässt Mau all jene blass erscheinen, die die Einheit noch immer als eine einzige Erfolgsstory oder aber Vnicht enden wollende Misere wahrnehmen. Der Autor hebt sich mit seinem wohltuenden Vermögen von anderen ab, die Ambivalenzen der Einheitsbilanz, das Nebeneinander von Einheitserfolgen und Scheitern, von Gewinnen und Verlusten, von Entfremdung und Gewöhnung an die Reviere, Regeln und Rituale der neuen Ordnung konsistent wie kohärent einzufangen.

Und obschon oder gerade, weil er wenig Zweifel über seinen Standort als ostdeutscher Parteigänger der >liberalen Demokratie< lässt, der offenbar frei von >Systemskepsis< ist, spricht er es aus: >Der Frust…hat in Ostdeutschland vielleicht nicht seine Heimat, aber doch wichtige Trägerschichten gefunden< (13).

Systemwechsel mit überraschenden Kontinuitäten

Sodann überrascht Mau sicher manche mit seinem Blick auf das, was gemeinhin als >Systemwechsel< bezeichnet wird.

>Zwar haben wir uns angewöhnt, >>die Wende<< vor allem als Moment der Diskontinuität zu verstehen, diese Sicht verdeckt aber, wie stark – bei allen Brüchen und allen sich vollziehende Wandlungen – die Verbindungen zwischen dem Vorher und Nachher ist< (12).

Der Zusammenhang werde durch die Menschen und ihre Biographien, Mentalitäten und soziale Praktiken gestiftet. Wer indes der Literatur und den Künsten >Entdeckungen< zubilligt, findet diesen Gedanken schon früher, etwa in dem Roman von Günter de Bruyn Der neunzigste Geburtstag, Erstauflage 2018, S. 132 bei einer der Gestalten aufblitzen (>Kurz gesagt: Was wir Wende oder gar Umsturz nennen, habe ich allmählich als Fortsetzung zu sehen gelernt<). Mau führt indes die Kontinuitäten stiftenden Verbindungen zwischen dem Vorher und Nachher aus.

Dieser Gedenke liegt auch der Gliederung des Buches zugrunde. Es teilt sich in zwei Hauptabschnitte: Leben in der DDR (24-111) und Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft (112-237).

Ortsbezug als Vorzug oder auch Schranke?

Der ausdrückliche Bezug auf Lütten Klein zu DDR-Zeiten und in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft erweist sich dabei als Vorzug und Nachteil zugleich.

Der Ortsbezug ermöglicht zwar dichte Beschreibungen. Allerdings glaube ich nicht, das Lütten Klein für das Ensemble der geistigen Lebensformen der DDR annähernd stehen könnte. Und wenn doch, zweifle ich ein wenig daran, dass der Autor die die Möglichkeiten voll auszuschöpfen vermochte, die der Stadtteil zum Erfassen von gelebtem Leben bietet. In der Hafen- und Universitätsstadt Rostock, zu der Lütten Klein gehört, will der Autor zu DDR-Zeiten nur oberflächliche und punktuelle Binnenkontakte mit anderen Kulturen und ethnischen Gruppen gehabt haben (vgl. 92 f). Wenn es so war, woran lag es? Der Autor meint, in der DDR habe man solche Kontakte verhindert und erschwert. Wer wie der Rezensent das Lehr- und Forschungsgebiet Internationale Kulturprozesse mit vertrat, wird hier dem Autor nur bedingt folgen. Doch welche Zusammenhänge zwischen dem Vorher und dem Nachher rückt Mau explizit in den Blick?

Sechs Zusammenhänge zwischen der DDR-Entwicklung und der in den neuen Bundesländern werden von Mau behandelt

Erstens:
Die mangelnden Aufstiegschancen für die nachrückenden Altersjahrgänge. Gehörte die DDR in den ersten Jahrzehnten ihrer Existenz zu den Gesellschaften mit der größten sozialen Mobilität in Europa, so stellte sie sich in den beiden letzten Jahrzehnten für die nachwachsenden Kohorten als eine Gesellschaft der >Mobilitätsblockaden< dar. Nach 1990 kam es zwar zu einem weitgehenden Elitenwechsel in Ostdeutschland, doch dieser erfolgte zugunsten aus dem Westen importierter Eliten.

Zweitens erkennt Mau Kontinuitäten in sozialstruktureller und lebensweltlicher Hinsicht: War die DDR, wie Gaus einst befand, ein >Land der kleinen Leute<, so ist Ostdeutschland im Grunde dabeigeblieben.

Drittens erkennt er Kontinuitäten im Hinblick auf Eigentum und Vermögen und bleibende unterdurchschnittliche Chancen der Eigentum- und Vermögensbildung: dominierte in der DDR staatliches Eigentum, so profitierten von dessen nach 1990 erfolgten Privatisierung primär Eigentümer aus dem Westen und aus dem Ausland.

Viertens stellt sich der Osten weiterhin als >Auswanderungsgesellschaft< dar: Erlitten Sowjetische Besatzungszone und DDR große Wanderungsverluste, so setzte sich nach 1990 die Abwanderung fort…

Fünftens: Die Zivilgesellschaft war vor 1989 schwach und ist es bis heute geblieben.

Kontinuität sieht Mau sechstens auch im Verfolgen eines >nationalen Projekts<: Die DDR war nicht frei von nationalen Anwandlungen, die Mau natürlich als negativ zu bewertendes >Erbe des DDR-Nationalismus< (147) wahrnimmt. Dieser sei indes anschlussfähig an die 1990 erfolgende >Aufwertung von Herkunft und Zugehörigkeit< gewesen. So habe >das nationale Projekt das demokratische Projekt der deutschen Einheit überlagert<, sei das Politische durch das Nationale immunisiert worden (vgl. S. 147-149).

Die These von den strukturellen Brüchen im ostdeutschen Entwicklungspfad

Um die Diskrepanzen, Ambivalenzen, >Unwuchten< der Einheitsbilanz sowie die eigenartigen Verbindungen, Kontinuitäten zwischen Entwicklungen in der DDR und in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft abzubilden, operiert Mau mit dem Begriff der gesellschaftlichen Frakturen.

Damit sind Bruchzonen bzw. Brüche des gesellschaftlichen Zusammenhangs gemeint, die >…zu Fehlstellungen führen können. Anders als bei Knochen ist die Wahrscheinlichkeit für eine… Ausheilung gesellschaftlicher Brüche…< niedrig, ja kaum zu erwarten (13). Frakturen machen Gesellschaften weniger anpassungsfähig und belastbar.

Mutmaßungen, warum Mau keine Reparaturempfehlungen parat hat

Mau präsentiert >keine konkreten Reparaturempfehlungen< (248). Seine Diagnose einer >frakturierten Gesellschaft< versteht er vielmehr als >Einladung zur Reflexion über den Transformationspfad und die Konstitution des ostdeutschen Lebenszusammenhangs< (248). (Er beruft sich dabei nicht auf die mangelnde Prognosefähigkeit der Sozialwissenschaften.) Ich sehe drei mögliche Gründe für die Zurückhaltung des Autors in dieser Hinsicht.

Zunächst könnte es sich so verhalten, dass Mau sich eher aus >pädagogischen Gründen< mit Handlungsempfehlungen schwer tut, weil er eine Debatte anstoßen will? Dies könnte so sein.

Ich glaube aber eher, dass Mau die Brüche und Fehlstellungen für so schwerwiegend hält, dass er im Diskurs befindliche Vorschläge, etwa einer innerdeutschen Gesprächstherapie, wie sie von Thierse und anderen immer mal wieder in die Debatte eingebracht worden sind, für naiv erachtet (vgl. 249). Die Frakturen sitzen nach Mau tiefer als das hier der >Schmierstoff der Anerkennung< (249) Abhilfe schaffen könnte.

Zwar gebe es ostdeutsche Eigenarten allemal aus der gemeinsamen Geschichte in der DDR und der Transformation. Doch aus der DDR und >aus der gemeinsamen Transformationserfahrung entstand…kein kulturelles Repertoire, das vorbehaltlos genutzt werden könnte, um Selbstwert zu gewinnen, Stigmatisierung zu überwinden oder Ansprüche anzumelden< (210), meint der Autor.

Weiterhin erkennt Mau keinerlei Ansätze für die Aufhebung struktureller Schieflagen, die zu einer im Laufe der Zeit sich einstellenden Konvergenz führen könnten. Er glaubt nicht, dass sich die Unterrepräsentation der Ostdeutschen unter den Eliten im Osten selbst wie auf gesamtdeutscher Ebene wenden ließe. Wie auch? Mau sagt es nicht, aber er weiß es natürlich, Eliten tendieren dazu, sich aus sich selbst zu reproduzieren. Daher ist eine angemessene Repräsentation der Ostdeutschen unter den Eliten unter sonst gleichen Bedingungen nicht zu erwarten. Eben so wenig lassen sich die Diskrepanzen bei Eigentum und Vermögen zugunsten ostdeutscher >Habenichtse< angleichen, sofern soziale Ungleichheit überhaupt in dieser Gesellschaft ein bearbeitbares Thema werden kann. Unter sonst gleichen Bedingungen ist auch eine Beseitigung der demographischen Schieflage (Entleerung der strukturschwachen ländlichen Räume im Osten, Überalterung und Männerüberschuss in den mittleren Altersjahrgängen, Ablehnung von Zuwanderung…) schwer vorstellbar.

>Erschwerend kommt hinzu, dass der ostdeutschen Gesellschaft bis heute die zivilgesellschaftlichen und politischen Ressourcen fehlen, um sich der populistischen Bewegung entgegenzustellen< (247).

Begünstigt würden deren Vormarsch durch ein eher löchriges Netz zivilgesellschaftlicher Assoziationen, die personelle und intellektuelle Schwäche der politischen Eliten und eine Bevölkerung, >die kritisch auf die politischen Institutionen, ihre Repräsentanten und die Medien schaut…<(247).

Mau glaubt auch nicht an die heilsamen Wirkungen eines Wertewandels: >Heutzutage kann man nicht mehr selbstverständlich davon ausgehen, dass der Wertewandel nach unten durchsickert und nach und nach alle Schichten erfasst. Vor dem Hintergrund steigender Ungleichheit, der räumlichen Separierung der Milieus und wachsender Abstände zwischen den Schichten werden solche Trickle-down-Effekte sogar unwahrscheinlicher< (231).

Alles in allem lassen sich die bislang aufgeführten Gründe für Maus Zurückhaltung mit Reparaturempfehlungen dahingehend zusammenfassen, dass der Autor zum einen so redlich ist, einzugestehen, dass er angesichts der analysierten und beschriebenen Lage keine brauchbaren Reparaturvorschläge beizubringen weiß. Zum anderen hindern den Autor die Bindungen und Selbstbindungen an die liberale Demokratie, an den gesellschaftlichen Status quo, das Ja zum Lauf der Dinge – zumindest im Grundsätzlichen – das Vertrauen in das System daran, konkrete Empfehlungen zu geben. Denn unter sonst gleichen Bedingungen und im Banne der Bindungen und Selbstbindungen, in denen der Autor steht, sind die gesellschaftlichen Frakturen, die Mau erkennt, tatsächlich nicht heilbar oder auch nur entscheidend zu mindern.

Mir scheint, die Mitgiften der DDR werden verkannt

Der Autor von Lütten Klein nimmt offenbar [manche] Selbstbeobachtungen und Selbstbeschreibungen, Selbsttäuschungen und Lebenslügen westlicher Gesellschaften über sich selbst für bare Münze, auch wenn er sich beispielsweise von der Modernisierungstheorie absetzt (vgl. S 137). Sie bestimmen und leiten jedenfalls seinen Analyserahmen, sein Beobachtungsradar für das Leben in der DDR und in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft. Er teilt überdies im Hinblick auf das aus der DDR überkomme kulturelle Repertoire die negativen Bewertungen seiner westdeutschen Bezugsgruppen und gehört mithin zu den >Native Informants<, die sich aus der stigmatisierten sozialen Gruppe entfernt haben und gelegentlich Kronzeugen-Status genießen. Diese negativen Bewertungen der kulturellen und sozialen Mitgiften der DDR durchziehen das gesamte Buch. Daher steht Mau im doppelten Sinne nicht auf dem Boden der Kulturgeschichte der DDR, auch wenn er manch stimmige lebensweltliche Beschreibungen bietet und besser als viele andere informiert ist. Zum einen wird die dreibändige Kulturgeschichte der DDR von Gerd Dietrich zwar erwähnt, doch hatte der Autor von Lütten Klein kaum eine Chance, sie zu rezipieren, schon weil Dietrichs DDR-Kulturgeschichte im gleichen Jahr wie Maus Opus erschienen ist. Zum anderen unterschätzt er wohl die in der realen Kulturgeschichte der DDR angelegte, akkumulierte kulturelle Mitgift, kann er sich eine Umwertung und Neubewertung kaum vorstellen. Nur: so wie es ist, bleibt es nicht.

Übergreifende Herausforderungen, Probleme, vor denen die bundesdeutsche Gesellschaft steht und die den Wert oder Unwert von sozialen Strukturen, Denk- und Verhaltensqualitäten im neuen Licht erscheinen lassen, sind indes nicht sein Thema. Ich meine die Kriegsgefahr angesichts des USA-China- sowie des NATO-Russland-Konflikts, Klimawandel und Umweltkrise, die Krise der europäischen Integration, der Übergang zu erneuerbaren Energien, die Transformation von Schlüsselindustrien der Wirtschaftsmacht Bundesrepublik, die Neujustierung der internationalen Beziehungen, die wachsende soziale Ungleichheit, Terrorismus…). Der Autor von Lütten Klein ist für meine Begriffe zu sehr dem Status quo verhaftet, sieht die bundesdeutsche Gesellschaft zu wenig in Bewegung.

Dennoch: Mau hat ein sehr wichtiges Buch geschrieben, dass ich allen zur Lektüre empfehle, die die Entwicklung und die Perspektiven Ostdeutschlands umtreibt.