Rezension | Kulturation 2/2009 | über Renate Hürtgen:
Angestellt im VEB. Loyalitäten, Machtressourcen und soziale Lagen der Industrieangestellten in der DDR. 309 Seiten, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2009. | Isolde Dietrich | Angestelltenhierarchien
| Noch ein Buch über die DDR, diesmal über die Angestellten in den volkseigenen Betrieben. Zwanzig Jahre nach dem Ende des "Arbeiter- und Bauernstaates" hält die Flut der retrospektiven Deutungsversuche unvermindert an. Woher rührt solcherart Erklärungszwang? Wozu dieser geistige Aufwand für eine "Fußnote der Geschichte", deren Überreste als "Vereinigungsschrott" zwar noch eine finanzielle Belastung für das neue Deutschland darstellen, aber keine "Gefahr" mehr.
Renate Hürtgen nennt für ihre Studie mehrere Beweggründe. Sie versteht ihre Untersuchungen wissenschaftlich als Beitrag zur Klassentheorie, politisch als Vorleistung für "linke emanzipatorische Kräfte". Ihrer Meinung nach seien in der DDR Forschungen zur Sozialstruktur unzulänglich gewesen. Es habe kaum eine Anwendung oder gar konsequente Weiterentwicklung der Klassentheorie gegeben. Debatten über soziale Unterschiede hätten bestimmten Erwartungen nachkommen und Schritte auf dem Weg zu einer klassenlosen Gesellschaft markieren müssen. Das habe sich schon in der unscharfen Terminologie ausgedrückt. Während der Begriff "Arbeiterklasse" zum politisch-ideologischen Konstrukt verkommen sei, hätten "Arbeiter und Angestellte" eher eine statistische Größe angegeben und die Kategorie der "Werktätigen" alle Arbeitenden umfaßt. Die jeweilige Lebenslage der so Bezeichneten sei in der theoretischen Arbeit vernachlässigt worden. Der Großgruppe der Angestellten schließlich sei wissenschaftlich keine nennenswerte Beachtung geschenkt worden.
In dieser soziologischen Brache wagt die Autorin, Neuland zu betreten. Sie analysiert die Industrieangestellten im DDR-Betrieb der siebziger und achtziger Jahre in ihrer horizontalen Differenzierung und vertikalen Hierarchisierung mit dem Ziel, Auskünfte über die generelle Verfaßtheit der Gesellschaft zu bekommen. Im einzelnen werden dabei einfache Angestellte (überwiegend Frauen, die als Sekretärinnen, Sachbearbeiterinnen und Buchhalterinnen in den Büros arbeiteten), Fach- und Hochschulqualifizierte (vor allem die sogenannte technische Intelligenz) sowie die leitenden Angestellten (die herrschende Funktionselite) untersucht. Ein besonderer Abschnitt ist den Meistern an der Nahtstelle zwischen Kontrolle und Unterordnung gewidmet. Produktionsarbeiter werden nur insofern einbezogen, als sie eine Kontrastgruppe bei der Selbst- und Fremdwahrnehmung von Angestellten bilden. Die Darstellung belegt, daß die soziale Ungleichheit in keiner Beschäftigtengruppe so groß war wie unter den Angestellten. Das galt für berufliche Qualifikationen und Arbeitsfunktionen, Einkommen, Stellung in der betrieblichen Machthierarchie, Organisationsverhalten und kulturelles Profil. Bei aller Differenziertheit macht die Autorin auch übereinstimmende Merkmale von Angestellten in DDR-Betrieben aus, die sie deutlich von Arbeitern unterschieden. Zu diesen Gemeinsamkeiten gehörten die größere Nähe zur Betriebsleitung, die höhere Anzahl von SED-Mitgliedern, die stärkere Übernahme von ehrenamtlichen Funktionen sowie ein generell staats- und parteikonformeres Verhalten.
Interessant und anregend, aber kaum ausgeführt, sind die Anmerkungen zu verschiedenen Angestelltenmilieus, besonders zur außerberuflichen und außerbetrieblichen Lebenswelt. In Anlehnung an Bourdieu, Vester und andere werden hier eher Vermutungen skizziert, als Tatbestände analysiert. Aber nicht dies stand im Zentrum der Studie, sondern Machtverhältnisse und Herrschaftsstrukturen. Es ging der Autorin darum, die ungleiche Verteilung der innerbetrieblichen Macht- und Kontrollbefugnisse unter die verschiedenen Angestelltengruppen aufzudecken. Diese Abhängigkeiten seien in der offiziellen DDR-Ideologie geleugnet worden. Das Parteimonopol der SED und der Gesamtunternehmer bzw. -eigentümer Staat hätten aber nicht nur die Gesellschaft geprägt, sondern auch jeden einzelnen Betrieb. Insofern stellten Betriebe keine herrschaftsfreien Räume oder klassenlosen Zonen dar. Ein wichtiges Anliegen der Untersuchung habe in der Entschleierung dieses Sachverhaltes bestanden. An anderer Stelle geht die Autorin ausführlicher auf ihre damit verbundenen politischen Intentionen ein. Alternative Zukunftsvorstellungen seien nur als Gegenentwurf zu Kapitalismus und untergegangenem Realsozialismus zu entwickeln, da beide sich auf entfremdete Arbeit gründeten, Herrschaft und Ausbeutung nur auf je verschiedene Weise reproduzierten. An den Verhältnissen in der DDR und speziell in den DDR-Betrieben habe nichts über den Kapitalismus hinausgewiesen, auch nicht in Ansätzen oder der Möglichkeit nach. Im Gegenteil, es müsse gefragt werden, ob gegenüber bürgerlich-demokratischen Strukturen hinsichtlich der Lage der Werktätigen, ihrer rechtlichen Stellung, der Bedingungen für Emanzipation und Partizipation die Gegebenheiten in der DDR "nicht sogar als Rückschritt gesellschaftlicher Entwicklung gewertet werden" müßten (PROKLA 155, 39. Jg. Nr. 2, Juni 2009, S. 340). Diesem Gedankengang wird nicht jeder Leser folgen.
Angesichts der Forschungs- und Quellenlage ist der Mut der Autorin bemerkenswert. Da es sich um eine übergreifende Darstellung handelt, tauchen unter den ausgewerteten Überlieferungen keine konkreten Betriebsarchive auf. Umfänglich herangezogen werden dagegen Bestände, die von Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes (BStU-MfS) verwahrt werden. In ihnen findet die Autorin Belege für die Loyalität bzw. Illoyalität der verschiedenen Angestelltengruppen gegenüber der Partei- und Staatsmacht und deren betrieblichen Repräsentanten. Man kann in diesen Dokumenten realitätsnahe Urteile über die jeweilige Lage und Stimmung in den Betrieben vermuten, sollte sie aber zugleich als interessengeleitete Selbstdarstellungen der Informanten begreifen. Zu den Quellen gehören auch Befragungen von ehemaligen Angestellten volkseigener Betriebe aus den Jahren 2005 bis 2007. Diese Interview-Passagen bedeuten für den Leser zwar eine Erholung vom dürren sozialwissenschaftlichen Vokabular, hätten aber ebenfalls eine stärkere quellenkritische Relativierung vertragen. Nach einem Systemwechsel und nach zwanzig gelebten Jahren sieht die frühere Welt für jeden anders aus als sie ehedem war. Dies ist der Autorin selbstverständlich bewußt, nur macht sie nicht darauf aufmerksam.
Es gehört zu den Verdiensten der Autorin, darüber hinaus einige seinerzeit nicht veröffentlichte Materialien - darunter drei Dissertationen zum Thema – ausgegraben und sich zunutze gemacht zu haben. Diese Untersuchungen zeigen, daß sich DDR-Wissenschaftler durchaus für die Analyse der Klassen- und Sozialstruktur engagierten, ihre Ergebnisse aber nicht zum Allgemeingut werden konnten.
Insgesamt erfährt der Leser allerlei Erhellendes über die soziale und politische Anatomie der Betriebe – über renitente Arbeiter und machtlose Meister, über die kleinen Arbeitsbienen in den Büros, über frustrierte Techniker und über durch Planauflagen strangulierte Betriebsleiter. Ein Geheimnis aber bleibt: Wie konnten solche Belegschaften die DDR-Unternehmen 40 Jahre lang am Laufen halten?
Noch etwas verblüfft: Weshalb hat die Autorin – eine studierte Kulturwissenschaftlerin – eine bestimmte, relativ umfangreiche Gruppe der Industrieangestellten nicht einmal erwähnt? Es handelt sich um die Träger der betrieblichen Kultur- und Sozialarbeit, um die dafür Verantwortlichen auf den verschiedenen Leitungsebenen und um all jene, die in den werkseigenen Polikliniken und Kindergärten, in Lehrwerkstätten, Berufsschulen und Lehrlingswohnheimen, in Betriebsakademien und Bibliotheken, in Urlaubsheimen und Ferienlagern, Kantinen und Verkaufsstellen, in Betriebssportgemeinschaften, in Kulturhäusern und anderen Einrichtungen der sogenannten kulturellen Massenarbeit beschäftigt waren. Betriebe hatten in der DDR nicht nur industrielle Güter zu erzeugen. Ihnen kamen darüber hinaus weitreichende soziale, kulturelle, bildungs- und gesundheitspolitische Aufgaben zu, die sich nicht auf die Sicherung von Macht und Herrschaft reduzieren lassen.
Ein Wort noch zum sehr gelungenen Buchumschlag des Verlages Westfälisches Dampfboot. Der pfiffige Einfall, die Titelzeile auf einer Büroschreibmaschine der Marke Optima oder Erika mit üblicherweise leicht lädierten bzw. verdreckten Typen und abgenutztem Farbband zu schreiben, läßt bei Insidern im Geiste sofort den volkseigenen Betrieb wieder auferstehen. Des blassen DDR-Emblems im Hintergrund hätte es da gar nicht mehr bedurft - es paßt aber gut dazu.
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