KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
 Start  Reports  Themen  Texte  Zeitdokumente  Kritik  Veranstaltungen 
 Editorial  Impressum       
RezensionKulturation 2018
über Wolfgang Herzberg:
Manifest der Teilhabe
Dieter Kramer
Zukunftsbündnisse für eine sozial-ökologische Zeitenwende
Manifest der Teilhabe. Programmatische Grundbausteine zivilgesellschaftlicher Bewegungen und demokratische Steuerungsmittel rot-grün-roter Zukunftsbündnisse für eine sozial-ökologische Zeitenwende. Berlin: Verlag am Park 2017. 135 S. 12,99 €


Der Autor (Jg.1944, Kulturwissenschaftsstudium an der HU 1964-1971, gewerkschaftliche Kulturarbeit, Facharbeiter, Filmer, Liedermacher) will mit seinem Text „auf eine weltweite, sozial-ökologische Mentalitäts- und Zeitenwende im 21. Jahrhundert hinarbeiten“ und macht dazu programmatische Vorschläge. Der neue „rechtskonservative Nationalismus“ und die „Scheinantworten“ in der Krise sind ihm Anlass dafür; ein „möglichst breites, kapitalismuskritisches Bündnis“ soll dagegen antreten. Teilhabe statt nur äußerliche „Demokratisierung“ sind dazu wichtig. „Mehr Teilhabe braucht eine solidarisierende linke Vision!“ (S. 15) Das ist die Parole; die Stichworte dafür liefert er in einer Präambel und in drei Kapiteln: Teilhabe in Geschichte, Gegenwart und Zukunft; Demokratische Steuerungsmittel einer sozial-ökologischen Zeitenwende; Teilhabe durch Solidarisierung der Linkskräfte, sowie abschließende Vorschläge für Minimalforderungen rot-grün-roter Zukunftsbündnisse. Vorangestellt sind jedem Kapitel „gemeinsame Einsichten“ mit Auszügen aus den Programmen von SPD, Bündnis 90/Die Grüne, Die Linke. Das ist eine wichtige Grundlage für alle vertrauensbildenden Strategien.
Im Abschnitt „geschichtliche Teilhabe durch evolutionären und revolutionären Wandel“ wird betont, dass in der bisherigen Geschichte immer evolutionäre und revolutionäre (radikale) Veränderungen „zwei zusammenhängende und widerstreitende Seiten eines sozialen Wandels waren, die schließlich zu einer neuen historischen Synthese verschmolzen.“ (S. 27) „Reformerische und radikale Sozialbewegungen, die sich wechselseitig bedingten und arbeitsteilig, oft widerstreitend, durchdrangen, wirken bis heute fort“ (S. 30): das ist zutreffend benannt. Aber die Vokabel von der so zu erreichenden „höhere(n) Geschichtsstufe“ (S. 27) ist für mich heute nicht mehr motivierend, geht es doch primär um die Sicherung einer (globalen, nationalen, gemeinschaftlichen) Zukunft angesichts eines aus dem Ruder laufenden und als angeblicher „Fortschritt“ und „Modernisierung“ verteidigten selbstzweckhaften Wachstums.
Die Reformansätze der „staatssozialistischen Länder“ „konnten schließlich nur in einer bürgerlichen Restauration enden, weil sich das jahrhundertealte, bürgerliche Zeitalter nicht einfach überspringen ließ“ (S. 33): Auf ein solches Schema würde ich mich nicht mehr einlassen. Der „Springquell des menschlichen Reichtums“ durch den Kapitalismus ist nicht mehr Voraussetzung des Sozialismus. Er hat global und lokal so viel zerstörerische Kraft entwickelt (statt zu realisieren, dass mit seinen Ressourcen längst ein anständiges Lebens für alle weltweit verwirklicht werden kann), dass man nicht über ihn hinaus gehen kann, um eine menschlichere Gesellschaft zu entwickeln. Eine „kritische Synthese der progressiven Reformansätze von Staatssozialismus und Staatskapitalismus, die sich insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts herausbildeten“ weiterzuentwickeln, fordert Herzberg. Gehören dazu auch die neu geschaffenen Strukturen des neoliberalen Finanzkapitalismus?
In einem Motto wird Marx zitiert: „Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist“ (S. 7). Und so wird auch gesagt, dass Staatssozialismus wie Reformkapitalismus an ihre historischen Grenzen geraten sind. Aber das, was der Kapitalismus inzwischen geschaffen hat, ist überhaupt nicht geeignet, den Übergang zu einem Sozialismus zu leisten – denn ein solcher ist nie als grenzenlose Wachstumsgesellschaft zu denken. Der „Sozialismus“ ist nicht einfach die durch Zähmung des Kapitalismus zu erreichende „neue Stufe“, er muss sich grundsätzlicher neu definieren. Wie das aussehen kann, ist mit der Programmatik von Herzberg noch nicht überzeugend erkennbar. Erst die politische Praxis des von Herzberg vorgeschlagenen und anstehenden Reformbündnisses könnte Ansätze erkennen lassen, und dabei steht im Vordergrund die Verteidigung der sozialen Demokratie, an deren Zerstörung der reale Kapitalismus arbeitet. Wolfgang Abendroth in Marburg hat schon in den 1970er Jahren den Studenten aus dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund die Aufgabe gestellt, den sozialen und demokratischen Rechtsstaates mit den sozialen Grundrechte zu verteidigen, und gerade letztere sind heute mehr denn je gefährdet.
Ein „neues solidarisierendes, linkes Geschichts-, Gegenwarts- und Zukunftsbewusstsein“ soll entwickelt werden, fordert Herzberg (S. 48). Care-Arbeit, die im Alltag anfallende Pflege-, informelle Bildungs- und Suffizienzarbeit (S. 50) gehören dazu, und auch dem Mittelstand wird Aufmerksamkeit geschenkt (S. 52, 63). Von „Steuerungsmitteln“ ist die Rede, aber ehe die vereinigte Rot-Grün-Linke die Kraft dazu hat, sind erst einmal bescheidene neue Pfade zu erkunden. Sie können Reformen anregen, die zu weiteren Veränderungen Anstoß geben. Da würde dann auch geprüft werden müssen, wozu es führt, wenn die „Mehrheit aller Arbeitskräfte selbst Teilhaber der Produktionsmittel werden“ (S. 58) – die Beispiele aus dem späten Jugoslawien waren da nicht sehr überzeugend.
„Starke Gewerkschaften und Berufsverbände“ sind wichtig (S. 59) als Gegengewicht zu einem Kapitalismus, der sich rücksichtslos den Zwängen der Finanzwelt und dem Erwirtschaften von „Shareholder-Value“ unterwirft. Für die Entwicklung einer kulturellen Öffentlichkeit sind gerade Berufsverbände besonders wichtig, wenn es um die Informations- und Kommunikationsarbeiter geht: Ohne unabhängigen Journalismus gibt es keine kritische Meinungsbildung. Bei den Pfaden einer „sozial-ökologischen Wirtschaftspolitik“ (S. 62) sind Planungs- und Übergangsfristen wichtig, damit vor allem den betroffenen Beschäftigten die Furcht vor der Zukunft genommen wird (in den Zentren des diskreditierten Automobilismus neigen manche der AfD zu, weil sie ihre Arbeitsplätze im Bau von Luxusautomobilen gefährdet sehen).
Die „Herausbildung von ökologischen Lebensstilen, die übertriebenen Konsumismus zurückdräng(en) und eine gesunde Ernährung und Lebensweise förder(n)“ vorzuschlagen (S. 71), ist interessant, aber wie macht man das? Die Auseinandersetzung mit der Macht des Marketings ist dazu unerläßlich (zu „marktkonformen Einschränkungen“ kann auch die Werbung gezwungen werden, hat Kurt Biedenkopf schon vor mehr als dreißig Jahren bestätigt). Verbraucher- und Umweltschutz (S. 74) gehören zusammen: Müssten z. B. die (lokalen und globalen) Umweltkosten in die Preiskalkulation einbezogen und bei der für jeden lesbaren Warendeklaration genannt werden, könnte wenigstens etwas Transparenz erreicht und permanent auf die Externalisierung der Kosten des Wohlstands der Prosperitätsgesellschaften (Brand/Wissen: Imperiale Lebensweisen, München 2017) hingewiesen werden. Und Vorbilder sind wichtig: Warum soll nur das Marketing mit „Influencern“ (s. dazu Berard, Andreas: Komplizen des Erkennungsdienstes. Frankfurt/M. Fischer 2017) die Konsumgewohnheiten beeinflussen (dürfen)?
Bei allen Formen der außerparlamentarischen Demokratie (auch bei Abgeordnetenbeiräten) (S. 77) sind gemachte Erfahrungen zu berücksichtigen: Erhält dann die „Latte Macchiato“-Fraktion vom Berliner Kollwitz-Platz noch mehr Gewicht? Kulturkritische und moralisierende Medienschelte (S. 83) führt auch nicht weiter, wichtiger ist die Förderung eines investigativen Journalismus, der für Transparenz und Öffentlichkeit sorgt.
Dass nur Reiche sich einen Armen Staat leisten können (S. 77, 84) kann nicht oft genug betont werden. Die Grundversorgungssysteme (S. 88) sind nicht einfach nur Teil des Sozialstaates, den die Reichen gern zurückbauen möchten, sie sind vielmehr unverzichtbarer Bestandteil der sozialen Grundrechte, die vom Grundgesetz und den Verfassungen garantiert werden.
Kultur wird in diesen Vorschlägen endlich nicht auf Künste reduziert, sondern ist anerkannt als Grundlage dessen, wie wir leben, arbeiten und leben wollen. Deswegen wird auch die Privatisierung kulturbezogener Leistungen zurecht als Förderung der kulturellen Spaltung der Gesellschaft kritisiert (S. 104). Dass nicht nur von der sozialen, sondern auch der kulturellen Spaltung die Rede ist, stellt eine wichtige Akzentuierung dar. Die sozialkulturellen Leistungen der Kirchen (der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften allgemein müsste man sagen) werden anerkannt (S. 106). Soziale Kompetenzen und Allgemeinwissen (nicht nur naturwissenschaftliches) sind wichtige Bestandteile der „ideellen Lebensgrundlage“ der staatlichen Gemeinschaft (S. 102).
Für die Außenpolitik soll nicht nur die UN aufgewertet, sondern auch der „Ausgleich mit Russland“ angestrebt werden (statt der zielgerichteten Einkreisung Russlands durch EU und NATO).
Verbindend für die Vorschläge ist eine Orientierung auf die Qualität des Lebens für alle, und es wäre an der Zeit, endlich nicht einfach nur Wachstum, Wohlstand oder immer besseres Leben ins Zentrum der Politik zu stellen, sondern LEBENSQUALITÄT.
Immer wieder wird die gemeinsame Verantwortung aller Reformkräfte betont (128): Das war auch der Tenor der gemeinsamen Erklärung von SPD und SED von 1988, und die ist in vielem nicht überholt. So werden viele gute Vorschläge und programmatische Forderungen entwickelt, aber wie kommt man auf Pfade, die zur Implementierung führen? Interessant wird es sein, dieses Programm auch kompatibel zu machen mit der Maxime von Thomas Seibert (Luxemburg-Stiftung und Solidarische Moderne): „Strategisch aber können soziale und Demokratiefragen gleich welcher Art und Dimension nur noch beantwortet werden, wenn sie als Fragen des Übergangs in eine globale Postwachstumsgesellschaft gestellt werden. Alles andere ist ‚Klassenpolitik‘ im elendsten Sinne des Wortes, d.h. in einem Sinn, der bourgeoise und proletarische Positionen nicht einmal mehr durch einen Millimeterspalt trennt.“ (Seibert, Thomas: Zur Ökologie der Existenz. Freiheit, Gleichheit, Umwelt. Hamburg: LAIKA Verlag 2017, S. 405)

Dieter Kramer Dörscheid/Loreleykreis 08.01.2018 kramer.doersheid@web.de