Rezension | Kulturation 2011 | über Terry Eagleton: Why Marx Was Right | Volker Gransow | Jenseits von Karikatur und Travestie
| Terry Eagleton: Why Marx Was Right. Yale University Press, New Haven und London 2011,272 Seiten, 25,- US-Dollar.
Das Böse - ziemlich selten. Karl Marx - weitgehend im Recht [1]. Wie das? War und ist nicht das Böse ubiquitär “von Adam und Eva bis hin zu Abu Ghraib” (John Banville) oder gar bis zu den Schüssen von Abbottabad im Mai 2011? Waren die Ideen von Karl Marx nicht ursächlich für das “Reich des Bösen” (Ronald Reagan), für Massenmord und Zwangswirtschaft von Stalin bis zu Pol Pot? Terry Eagleton scheint beides zu bezweifeln. Vor etwa einem Jahr publizierte er einen Essay über “das Böse (On Evil)”, der nunmehr auch in deutscher Übersetzung vorliegt. Sehr klar plädiert er hier für ein genaueres Hinsehen. “Ein Kleinkind mag entsetzt sein beim Anblick einer Frau, die einen menschlichen Finger absägt, weil es nicht begreift, dass die betreffende Frau eine Chirurgin ist und der betreffende Finger sich nicht mehr retten läßt” [2]. Wenn wir Dinge im Zusammenhang betrachten, können wir als gut erkennen, was als schlecht erscheint. Und auch Schlechtes ist nicht gleichzusetzen mit Bösem, wie Eagleton, einer der wohl bedeutendsten lebenden Kulturtheoretiker, in einer brillanten tour d’horizon durch Belletristik, Philosophie und Geistesgeschichte von Jane Austen bis Slavoj Zizek demonstriert. Folgerichtig betrachtet er den islamischen Terrorismus als eher “schlecht”, nicht als “böse” im Sinn von Nihilismus und Selbstzerstörung. Kein Wunder, dass im deutschen Feuilleton Verharmlosung des Bösen befürchtet wird.
In “das Böse” geht es vor allem um Moralphilosophie, auch um Religionssoziologie. Eagletons neuestes Buch, bisher noch nicht übersetzt, befasst sich dagegen mit dem Kapitalismus und der Kritik daran. Kein Zweifel, der profundeste Kritiker der kapitalistischen Gesellschaft war Karl Marx. Aber ist er im 21. Jahrhundert noch aktuell? Mit den Antworten auf diese Frage verbindet der bekennende Katholik und überzeugte Marxist - bitte die Adjektive nicht verwechseln - zwei Ziele. Er will weitverbreitete Fehldeutungen der Marxschen Ideen Punkt für Punkt widerlegen und gleichzeitig eine gut zugängliche Einführung in dessen Werk liefern. Gelingt ihm das? Schauen wir uns doch einmal Eagletons Antworten auf einige der gängigsten Marx-Klischees genauer an.
I
Marxismus ist vorbei. Er mag relevant gewesen sein in einer Welt der Fabriken und Schornsteinfeger. Aber er hat nichts zu tun mit der klassenlosen, sozial mobilen postindustriellen Welt heutiger westlicher Gesellschaften.
Schön wär’s. Selbstverständlich gibt es ein Leben nach dem Marxismus, aber er bleibt lebendig zumindest solange der Kapitalismus existiert. Und der ist munterer denn je, wenn auch nach dem Ende des Wiederaufbau-Booms 1945 - 1980 in gewandelter Form. Informationstechnologien, Dienstleistungen, Deregulierungen werden wichtiger, die Arbeiterbewegung ist seit Ronald Reagan und Margaret Thatcher vermehrt heftigen Angriffen ausgesetzt, Ungleichheiten haben sich vertieft. Noch immer ist es ein Mythos, dass der fabelhafte Reichtum, den der Kapitalismus produziert, allen gleichermaßen zur Verfügung steht. Kapitalismus schafft seine eigene Kritik, Marxismus bleibt mithin relevant.
Der Marxismus kann als Theorie taugen. In der Praxis führt er zu Terror, Tyrannei, Massenmord in unvorstellbaren Dimensionen. Sozialismus bedeutet nicht nur Mangel an Freiheit, sondern auch Mangel an materiellen Gütern.
Marx hat nie angenommen, dass Sozialismus unter den Bedingungen von Elend und Krieg erreicht werden könnte - genausowenig, dass “Sozialismus in einem Lande” möglich sei. Den Sozialismus nach den Aufbauversuchen in einem verzweifelten und isolierten Land im Krieg erst gegen Reaktion und Intervention, dann gegen den Faschismus zu beurteilen, das heißt falsche Maßstäbe anzulegen. Sozialismus benötigt eine gebildete Bevölkerung, blühende zivile Institutionen, liberale Traditionen, die Verankerung der Demokratie und die Verkürzung des Arbeitstages. Und das international. Eine materialistische Kritik der Sowjetunion geht deshalb tiefer als die durch westliche Liberale allein. Ein guter Vorschlag für die nichtkapitalistisch orientierte Organisation eines Teilbereichs der Gesellschaft wurde vor mehr als 50 Jahren von Raymond Williams in seinem Buch “Communications” gemacht - mit einem sozialistischen Plan für Künste und Medien, der staatliche Kontrolle genauso ablehnt wie die Souveränität des Profits.
Marxismus ist eine Form des Determinismus. Er sieht Männer und Frauen als Werkzeuge der Geschichte und beraubt sie ihrer Freiheit und Individualität. Marx’ Geschichtstheorie ist die säkulare Vision einer schicksalhaften Vorsehung.
Marx’ Gedanken waren in vieler Hinsicht unoriginell. Einzigartig ist allerdings die Verbindung von Klassenkampf und Produktionsweise, wenn auch auf problematische Weise. Es ist jedoch ein Mißverständnis, eine lineare Abfolge von Gesellschaftsformationen anzunehmen. Geschichte verläuft durchaus im Zick-Zack, verschiedene Produktionsweisen können innerhalb einer Gesellschaft koexistieren.
Marxismus ist der Traum von einer Utopie. Er glaubt in erstaunlich naiver Weise an eine perfekte Gesellschaft und die gute menschliche Natur. Er übersieht die Tatsache, dass wir aggressiv, selbstsüchtig und kompetitiv sind. Diese Träume sind so unrealistisch wie eine marxistische Politik insgesamt.
Marx war kaum an der Zukunft interessiert, stand insofern ganz in der jüdischen Tradition. Ihm war wirkliche Bewegung weit wichtiger. Möglicherweise waren seine - verstreuten und unsystematischen - Notizen zum Kommunismus als freie Entfaltung der Individuen naiv. Aber dann sollte man ihm nicht das Ziel einer Gesellschaft wie in Orwells “1984" unterstellen. Adorno schreibt, dass Marx ein Feind der Utopie um ihrer Realisierung willen gewesen sei. Der Rezensent meint, dass darüber hinaus dem Marxismus ein Stück Utopie (und noch mehr davon) vielleicht ganz gut tun würde. Zum “Prinzip Hoffnung” (Ernst Bloch) gehört eine “konkrete Utopie”, die “abstrakte Utopie” und die damit verbundene despotische Gewalt entschieden ablehnt, Fritz Behrens’ fast vergessene “Zeitsummenmethode” ist hierfür nur ein Beispiel unter vielen. Darin ging es um einen gewichteten Index zur Messung notwendiger Arbeitszeit [3].
II
In den eben referierten Gegenüberstellungen von Marx-Klischees und Eagleton-Kommentar steckt keine bestimmte Systematik. Der Verfasser beginnt mit der These vom veralteten Marxismus, kommt dann zu Terror, Determinismus und Utopie. Er setzt die Reihe fort mit ökonomischem Reduktionismus, plattem Materialismus, Verabsolutierung des Klassenbegriffs, Gewaltorientierung und Etatismus. Erst der zehnte und letzte Punkt hat eine andere Qualität.
Die interessantesten radikalen Bewegungen der letzten vierzig Jahre entstanden außerhalb des Marxismus: Feminismus, Ökologie, Anti-Globalisierungsbewegung treten an die Stelle eines antiquierten Klassenkampfes.
Tatsächlich ist manches in der marxistischen Tradition geschlechtsneutral oder schlicht patriarchalisch. Aber wenn Marx’ idealtypischer “Arbeiter” männlich ist, dann deshalb, weil Marx selbst ein altmodischer Patriarch war, nicht wegen der Essenz des Kapitalismus. Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie ist eng verbunden mit einer Analyse des Verhältnisses von Natur und Gesellschaft. Die teilweise Separierung der Menschen von der Natur ist Teil ihrer eigenen Natur, Stichwort “Entfremdung”. Und wieso soll eine antikapitalistische Bewegung gegen die Globalisierung des Kapitals nichts mit marxistischer Kapitalismuskritik zu tun haben? Insgesamt zeigen die Möglichkeiten atomarer und ökologischer Katastrophen, dass Kapitalismus tödlich für alle sein kann.
III
Damit hat Eagleton weitgehend sein erstes Ziel erreicht. Er porträtiert Marx jenseits von Karikatur und Travestie. Kein dogmatischer Utopist und kein reduktionistischer Determinist, vielfach seiner Zeit voraus. Seine Gedanken sind so aktuell wie der Kapitalismus selbst, auch wenn es heute nicht mehr der Kapitalismus ist, “wie wir ihn kennen” [4]. Das zweite Ziel ist ebenfalls in Sichtweite, es handelt sich um eine klare und gut verständliche Einführung. Allerdings nicht nur in den Marx, wie er “wirklich” war, d.h. ein Genie mit all seinen Schwächen, Fehlern, Irrtümern und Fehlprognosen. Sondern auch in eine undogmatische Marx-Interpretation, die Konstrukte wie etwa “Marxismus-Leninismus” unmöglich macht. Die berühmte 11. Feuerbach-These zum Beispiel muß nicht nur “cum grano salis” gelesen werden, sondern hier ist eine gehörige “Prise (pinch)” Salz nötig. Es “kömmt” nicht nur auf Veränderung der Welt an, sondern auch auf Interpretation. Ähnlich ist es mit der wenig nuancierten Beschreibung des Staates als Instrument der herrschenden Klassen, mit Basis und Überbau, mit Sein und Bewußtsein. Marx verdient gewiß Kritik, aber auch viele Marxisten und nicht zuletzt manche Marx-Gegner könnten desgleichen noch einmal nachdenken.
Eagletons imponierende Belesenheit hindert ihn nicht, einen “Marx” zu präsentieren, der oft sowohl aus “Karl Marx” als auch (vom Autor einleitend zugegeben) aus “Friedrich Engels” besteht. Und die hinzugefügten “Marxisten” entstammen vielfach der angloamerikanischen Kulturkritik oder der deutschen Kritischen Theorie. Dabei hätte nicht selten u.a. eine Lektüre der Austro-Marxisten von Max Adler und Otto Bauer bis hin zu Rudolf Hilferding ebenfalls einiges an Innovation und Vertiefung erbracht, etwa beim Thema “Finanzkapital”. Raymond Williams wird mit guten Gründen als den Marxismus voranbringend zitiert, Pierre Bourdieu und manche anderen marxistisch inspirierten Autorinnen und Autoren innovativer Beiträge kommen dagegen nicht vor.
Stilistisch ist der Text bemerkenswert verständlich geschrieben. Er zeugt von einem vielleicht an “Monty Python” geschulten Humor, den man britisch nennen könnte, wenn man nicht wüsste, dass der Autor Ire ist. So wird “Käse” sowohl zur genaueren Bestimmung der materiellen Welt allgemein als auch der französischen Revolution herangezogen. Die Daily Mail, Fox News, Mel Gibson und Brad Pitt fungieren als Symbole kapitalistischer Kultur. Karl Marx wird als “Meister” nicht nur mit Sigmund Freud verglichen, sondern auch mit Alfred Hitchcock (bis auf Freud alles nicht im Register ausgewiesen). Trotzdem ist das Buch sehr ernst zu nehmen, gerade weil Geschichtsdeterminismus abgelehnt wird. Vielleicht fragen die wenigen Überlebenden vorstellbarer nuklearer oder ökologischer Katastrophen (die Schrift wurde vor Fukushima verfasst) genauer nach deren sozialen Ursachen? Und nach den Wegen zu ihrer Beseitigung?
Anmerkungen
[1] Eine gekürzte Fassung dieses Beitrags erscheint gleichzeitig in "Blätter für deutsche und internationale Politik", Heft 6 /2011.
[2] Terry Eagleton, Das Böse, Berlin 2011, S. 169 f.
[3] Fritz Behrens, Man kann nicht Marxist sein, ohne Utopist zu sein. Hamburg 2010; Volker Gransow, The Value Law and Utopia. In: “Historical Materialism”, Jg. 14 / 2011 [im Erscheinen); Richard Saage, Das Ende der politischen Utopie? Frankfurt 1990.
[4] Elmar Altvater, Das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen. Münster 2005.
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