KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
 Start  Reports  Themen  Texte  Zeitdokumente  Kritik  Veranstaltungen 
 Editorial  Impressum       
RezensionKulturation 2/2007
über Günter Benser:
Volksbühne Heidenau 1906 bis 1939 – 1945 bis 1949.
Dietrich Mühlberg
Selbsthilfe mit untauglichen Mitteln?
Die Geschichte eines Theatervereins sächsischer Arbeiter
Die bewegte Geschichte eines Amateurtheaters,
edition bodoni, Berlin 2007, 238 S., zahlreiche Fotos und Faksimiles


Was kann dazu bewegen, die Geschichte des Amateurtheaters einer sächsischen Kleinstadt zu lesen? Einer „Laienspielgruppe“, die sich bei ihrer Gründung 1906 wohl eher zufällig den beziehungsreichen Namen „Volksbühne Heidenau“ gab, die bis 1939 geschickt überdauern konnte und der es nach 1945 bei dem Versuch, wieder in Gang zu kommen, ähnlich erging, wie vielen anderen Traditionsbeständen deutscher Arbeiterkultur.


 Benser Cover


Zunächst: Kulturgeschichte der Arbeiter und die der Arbeiterkulturbewegung sind heute kein aufregendes Thema mehr. Das war vor gut dreißig Jahren anders. Zuerst begann im Osten der kulturhistorische Blick auf Kultur und Lebensweise der „wirklichen Arbeiter“ das stramm an der politischen Geschichte ausgerichtete Bild von der „herrschenden Arbeiterklasse“ etwas zu relativieren und zu öffnen. Erste Studien zur Arbeiterkulturbewegung erweiterten damals den Horizont der politischen Organisationsgeschichte. Und „im Westen“ ging bald darauf die Kulturfraktion der politisierten 68er daran, die Arbeitertraditionen auf ihre mögliche Lebenskraft zu prüfen und nach dem „Veränderungspotenzial“ der Arbeiter und der Arbeiterorganisationen zu fragen. Dieses Interesse konnte sogar akademisch etabliert werden, und die historische Arbeiterkultur avancierte zum Thema von wissenschaftlichen Konferenzen und Sammelbänden.

Die Erinnerung mag täuschen, aber das Theaterspielen von Arbeitern gehörte damals nicht zu den bevorzugten Gegenständen. Vielleicht war dazu schon alles gesagt, denn hier blieb es weitgehend bei dem, was bereits 1961 von Ludwig Hoffmann (über die Weimarer Zeit) und dann 1971 von Friedrich Knilli und Ursula Münchow (über das frühe deutsche Arbeitertheater) vorgelegt worden war. Für solche eher geringere Aufmerksamkeit ließen sich mehrere Gründe finden. Voran vielleicht die „Musealisierung“ des Liebhabertheaters. Es spielte aktuell für die Geselligkeit der breiten Schichten nicht mehr die Rolle, die es vor dem 2. Weltkrieg hatte. Wohl darum war auch das Interesse an seiner (hauptsächlich politischen) Instrumentalisierung weitgehend erloschen. Und dann die Schwierigkeiten mit den Quellen. Günter Benser führt anschaulich (und lehrreich auch für Kulturhistoriker) vor, was da alles herangezogen und geprüft werden kann und wohin die Spurensuche den motivierten Historiker führt – voran in die diversen Archive und Bibliotheken. Hier aber hat das Theaterspielen so gut keine Spuren hinterlassen, es finden sich günstigstenfalls Nachrichten über seine wirtschaftlichen und organisatorischen Bedingungen, Texte und die Spuren von Zensur und Kontrolle. Es ist darum nicht verwunderlich, dass auch die auf die frühen Arbeiten folgenden kleineren Studien zum historischen Arbeitertheater sich vorrangig mit seiner Organisationsgeschichte oder mit den Texten der dramatischen Literatur befassten.

Auch die von Günter Benser erschlossenen Quellen sprechen nur sehr indirekt über das reale Vereinsleben, über die persönlichen Eigenheiten seiner Protagonisten, ihre Motive, Erfolge und Enttäuschungen. Es ist also nur zu vermuten, was da wirklich geschah, wenn sich arbeitende Menschen in ihrer freien Zeit zusammenfanden, um für andere aus ihrem sozialen Umfeld Vergnügliches zu inszenieren und sich ihnen in anderer Rolle zu präsentieren. Bestenfalls in Erinnerungen von Zeitzeugen ist noch erkennbar, welche Selbstwertsteigerung für die Vereinsmitglieder damit verbunden war, sich solcherart Lebensbereiche außerhalb von Arbeit und Familie zu erschließen, in bescheidenem Maße öffentlich zu werden, Freundschaften und gesellige Kontakte zu pflegen. Und dabei zu lernen, andere Rollen zu spielen und zu erleben, welchen inszenatorischen Regeln das Leben gehorcht. Wichtig war sicher auch die Gelegenheit, sich selbst körperlich auszustellen und in Stücken mitzuspielen, die meist von Liebe und Herzeleid handelten. Das Vergnügen an den vorgespielten amourösen Affären muss beträchtlich gewesen sein - man schaue sich nur die unternehmungslustigen jungen Damen von der Volksbühne Heidenau auf dem Foto von der Demonstration des Kulturkartells an (S. 77) oder das der feschen Eltern des Verfassers (S.14), die beide zu den Stützen des Ensembles gehört haben.

 Demo Kulturkartell


Auf solche Art von „Arbeitertheater“ mochte die hier erwähnte kulturhistorische Literatur kaum eingehen und fand dafür bestenfalls entschuldigende Worte. So heißt es in der Einleitung (der 3. Auflage von 1977) von Ludwig Hoffmann (nun zusammen mit Daniel Hoffmann-Ostwald): „Außerdem schlossen sich politisch uninteressierte Arbeiter lediglich deshalb zu Theatervereinen zusammen, um gesellige Abende mit Theateraufführungen und anschließendem Ball zu veranstalten.“ Von „minderwertigem Ersatz für das herrschende Berufstheater“ (S. 24) ist da die Rede. „Diese Form des proletarischen Laientheaters unterschied sich kaum vom üppig wuchernden Dilettantentheater des Kleinbürgertums.“ Weil es sich aber um theaterfreudige Arbeiter handelte, wurde wenigstens nachsichtig angefügt: „Auch der Theaterverein war eine Gegenwehr gegen die verkrüppelnde Wirkung der Ausbeutung, war ein Versuch, am kulturellen Leben teilzunehmen. Er war Selbsthilfe mit untauglichen Mitteln. Daß aber die Mittel untauglich blieben, ging auf andere Ursachen zurück.“ (S. 16)

Entschuldbar war solches Versagen für die DDR-Autoren freilich nur bis 1919, danach war es klar: als wirkliches Arbeitertheater konnte nur noch akzeptiert werden, was sich selbst als kommunistisch verstanden hat. So grundsätzlich mochte einst auch Günter Benser geurteilt haben – im Widerstreit mit den eigenen Erfahrungen. Sein Großvater gehörte zu den Begründern des Theatervereins und war über Jahrzehnte ihr Regisseur. „In meinem Elternhaus – wir wohnten im Hause der Großeltern in der Dohnaer Straße 41 – drehte sich fast alles um die Volksbühne.“ (Im umfangreichen Personenregister ist der Name Benser siebenmal aufgeführt.) Der Verfasser selbst stand als Kind auf der Bühne. Ein Foto zeigt ihn als (kleinsten) Zwerg mit geschultertem Hammer in Hauptmanns „versunkener Glocke“. Sein herzkranker Vater verstarb während einer Aufführung als Schauspieler in der Garderobe. „Trotz dieser Kindheitserinnerungen ergriff mich nie das Verlangen, als Amateurschauspieler in die Fußtapfen meiner Eltern und meiner beiden Großväter zu treten. Ich bin Historiker geworden, und habe es nie bereut.“ (S. 13).

Doch war es offenbar diese berufliche Karriere, die Günter Benser nach einer Lehre als Industriekaufmann über die Arbeiter- und Bauernfakultät und das Geschichtsstudium in Leipzig bis in das Institut für Marxismus-Leninismus brachte, die ihn lange Zeit daran gehindert hat, seine lebendigen Erfahrungen mit der Arbeiterkultur auch als würdigen wissenschaftlichen Gegenstand zu akzeptieren. „Es gab immer tatsächlich oder angeblich Wichtigeres zu tun.“ (S. 14) Nun stellt er „mit großem Bedauern“ fest, dass er als versierter Historiker „so manches Dokument, so manches Photo, so manches museale Stück [hätte] zusammentragen können. Da wäre manche Erinnerung aufzuschreiben gewesen, die mit ins Grab genommen worden ist. Mit Hilfe von Zeitzeugen hätten sich viele Geschehnisse und Zusammenhänge rekonstruieren lassen. Warum nur habe ich das nicht getan, obwohl mein Interesse an der Volksbühne mit der Zeit wuchs, repräsentiert sie doch ein bemerkenswertes Kapitel in der Geschichte meiner Heimatstadt wie auch ein Stück unserer Familiengeschichte.“ (S. 14)

Es macht den Charme des Buches aus, dass man miterleben kann, wie ein Politik-Historiker der DDR (überdies langjährig Spezialist für kommunistische Parteien) daran geht, sorgsam und mit Empathie die Geschichte eines künstlerischen Arbeitervereins zu rekonstruieren, der nach Auffassung der politischen Bewegung zu jenem abzulehnenden Klimbim gehörte, der die Arbeiter von ihrer eigentlichen Aufgabe ablenke. Vielleicht ist das doch nicht nur der Altersweisheit geschuldet – wie Günter Benser es selbst nahe legen möchte - wenn er anmerkt, dass beim Autor „im Laufe der Jahre der Respekt vor den Akteuren der Volksbühne gewachsen ist und er als Siebzigjähriger wohl mit mehr Verständnis und Wärme über diese zu schreiben vermag, als er dies als Vierzigjähriger vermocht hätte.“ (S. 17) Hier war eine ideelle Barriere zu überwinden, denn schädlich waren solche „kleinbürgerlichen Unterhaltungen“ ja nicht nur nach Auffassung früher SED-Geschichtsschreiber. Bereits für die alte Sozialdemokratie, vor allem für ihre Bildungsausschüsse, waren sie minderwertig bis schädlich. Seit Franz Mehring und der Gründung der Volksbühnenorganisation ging es darum, diese Formen der Selbstversorgung ebenso zu überwinden wie das so genannte Volkstheater. Arbeiter sollten Zugang zur „echten Kunst“ erhalten. Kriterium der Wertschätzung war das, was in heutigen Worten „kulturelle und politische Bildung“ heißt.


 Dreimädlerhaus


Günter Benser begründet seine salomonische Lösung so: „Die Agit-Prop-Szene und die Dramatischen Vereine vom Charakter der Heidenauer Volksbühne - das waren zwei verschiedene Welten. Doch beide Strömungen schöpften aus dem gleichen sozialen Milieu, zeugten vom Streben nach Selbstverwirklichung von Werktätigen auch außerhalb der Arbeitswelt. Beide Strömungen wandten sich an die gleichen Adressaten - an die arbeitende Bevölkerung. Die einen wollten diese aufrütteln und belehren, die anderen wollten diese unterhalten und etwas Freude ins triste Dasein bringen, ohne immer den Finger in die durch soziale Gegensätze und politische Frontlinien aufgerissenen Wunden zu legen. Zeitgenössisch waren dies unvereinbare Motivationen. Rückblickend gesehen, hatten beide ihre Berechtigung. Denn wieso eigentlich sollte ein Arbeiter nicht am Sonntag über eine Klamotte wie ‚Die verschwundene Pauline’ lachen und am Montag für seine Rechte demonstrieren oder streiken?“ (S. 96)

Günter Benser kann diese Wertung durch seine Studie belegen. Sie schildert, wie ein Kreis von engagierten Arbeitern, Angestellten, kleinen Gewerbetreibenden und ihren Ehefrauen, das Amateurtheater „Volksbühne“ als eine geachtete Institution des städtischen Kulturlebens über Jahrzehnte am Leben hielten und mit ihrem Dramatischen Verein ein wichtiger Akteur des örtlichen „Kulturkartells“ waren. Ähnlich anderen Vereinen, vornehmlich in Sachsen. Ob sich deren Mitglieder, wie die der Volksbühne Heidenau, gleichfalls mehrheitlich als politisch Linke verstanden haben, mag Benser nicht belegen. Als sicher gilt ihm, dass „diese dramatischen Vereine … zweifellos überwiegend ein Betätigungsfeld der zu kultureller Selbstbetätigung drängenden unteren Volksschichten“ waren. (S. 36)


 Aufruf Stadionweihe


Und es versteht sich, dass der Autor nicht nur die eigene Erinnerung mobilisiert und die Geschichte der Familie und des Heimatortes lebendig werden lässt. Als versierter Politikhistoriker präsentiert er keine bornierte Lokalgeschichte, sondern leuchtet zugleich die Hintergründe des Organisationslebens deutscher Theatervereine aus und deutet immer wieder auch die Zusammenhänge mit der großen Politik an und rekonstruiert, auf welche Weise sie auf das lokale kulturelle Leben durchschlägt. Das gilt besonders für die beiden Kapitel über die NS-Zeit („Unter den braunen Machthabern“ und „Die Liquidierung der Volksbühne Heidenau“). Auch hier wird auf die verwickelten kulturpolitischen Bemühungen der NS-Funktionäre hingewiesen, um anzudeuten, an welchen Umständen die (letztlich vergeblichen) Bemühungen zu messen sind, die Heidenauer Spielgemeinschaft zu erhalten. „Wie im einzelnen versucht worden ist, das Schiff der Volksbühne zwischen Zerschlagung und Anpassung hindurchzusteuern, können wir nur ahnen. Eine offene Konfrontation hätte zweifellos nicht nur das jähe Ende der Volksbühne bedeutet, sondern auch viele Mitglieder an Leib und Leben gefährdet. Also arrangierte man sich zumindest äußerlich.“ (S. 121) Instruktiv und lesenswert auch das Schlusskapitel über die letztlich erfolglosen „Bestrebungen zur Neubelebung der Volksbühne“. Hier werden sowohl einige der Schwierigkeiten sichtbar gemacht, die einer Wiederbelebung der Arbeiterkultur entgegenstanden als auch angedeutet, in welchen neuen Formen das Laientheater nun neue Chancen bekam. Die lagen aber eher in seinen anspruchsvoll-bildenden und politisch-bekennenden Varianten.

Im Kern ist es wohl dem Credo „kultureller Hebung“ und der damit verbundenen distanzierten Haltung gegenüber den („politisch indifferenten“ und „kulturell minderwertigen“) Arbeitervergnügungen geschuldet, dass die Forschungen zur Arbeiterkultur sich auf bestimmte Bereiche beschränkten. So finden sich wissenschaftliche Berichte über das Arbeitertheater der Kultursozialisten, über proletarisch-revolutionäres Theater, über sozialdemokratische und sozialistische Arbeiterdramatik, über das Arbeitertheater als Instrument politischer Propaganda, über Sprechchöre und Massenspiele, über die Volksbühnenorganisation, proletarisch-revolutionäres Berufstheater – aber so gut wie nichts über die vielen vornehmlich von Arbeitern getragenen Amateurtheater vom Typus der Heidenauer „Volksbühne“. Außerhalb des Schrifttums der diversen (bis in die Gegenwart rührigen) Verbände der Laienbühnen, hat es bislang keine wissenschaftliche Studie gegeben, die die Geschichte eines solchen Arbeitertheaters zu rekonstruieren versucht hätte. Hier ist das Buch von Günter Benser ein Novum. Auch weil der umfangreiche Anhang (detaillierte Aufstellung aller zwischen 1920 und 1939 aufgeführten Stücke, Funktionsübersicht aller Vereinsmitglieder, ausgewählte Pressestimmen u. a.) ausweist, was mit etwas Glück noch zu sichern möglich ist. Er hat zeigen können, dass ein solches Unternehmen trotz schwieriger Quellenlage lohnen kann und mehr einträgt als eine lokalgeschichtliche Bestandsaufnahme. Denn sein „Bericht über das Wirken eines dramatischen Vereins“ ist nicht nur das geworden, was er sich vorgenommen hatte, nämlich „eine Würdigung aller vergleichbaren Unternehmungen und ihrer engagierten Akteure“ (S. 16). Es ist zugleich eine exemplarische Studie zur Kulturgeschichte der deutschen Arbeiter im 20. Jahrhundert geworden, ein Lehrstück. Und überdies ist es ein vergnüglich zu lesendes Buch, das man gerne in die Hand nimmt, weil die Spezialisten von der edition bodoni dem eine würdige und angemessen schöne Form gegeben haben.