Rezension | Kulturation 2017 | über Maria Grewe: Teilen, Reparieren, Mülltauchen. | Dieter Kramer | Spielräume für mehr Nachhaltigkeit
| Grewe, Maria: Teilen, Reparieren, Mülltauchen. Kulturelle Strategien im Umgang mit Knappheit und Überfluss. Bielefeld: transcript 2017 (Kultur und soziale Praxis). 320 S.
Knappheit ist eine Kategorie der Wirtschaftswissenschaft, sie ist nur in Verbindung mit der Kunstfigur des homo oeconomicus relevant: „Das 'Gesetz der Knappheit' ist eine Erfindung der Ökonomen: Es drückt die Unterstellung aus, daß der Mensch große, wenn nicht gar unendliche große Ansprüche hat, aber begrenzte Möglichkeiten der Verwirklichung.“ (Gustavo Esteva in Sachs, Wolfgang (Hrsg.): Wie im Westen, so auf Erden. Ein polemisches Handbuch zur Entwicklungspolitik. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt Tb. 1993, S.119; s. auch Fischer, Andreas; Zurstrassen, Bettina (Hrsg.): Sozioökomische Bildung. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2014, 71).
Bei wissenschaftlichen Diskursen, die von ganz unterschiedlicher Begriffsarbeit ausgehen, ist die interdisziplinäre Kommunikation extrem schwierig, auch bei verwandten Themen. Die Einführung (7f.) zum Thema „Wirtschaften mit Knappheit und Überfluss als (kultur-)wissenschaftliches Forschungsfeld (17ff.) betreibt in dem Buch von Maria Grewe dann auch bezogen auf die ökonomischen Begriffe gar keinen großen Definitions-Aufwand. Die Autorin geht aus von der verbreiteten Annahme, „dass die Wahrnehmung und Deutung von Knappheit und Überfluss situiert und sozial konstruiert ist“ (14, 21). „Der Konsum von Waren ist dabei geprägt durch soziale, ökologische, wirtschaftliche und politische Rahmen sowie durch die Funktion von Dingen, die neben der lebensnotwendigen Versorgung 'deren Charakter ihrerseits kulturgeprägt ist, dk' auch Distinktion und Statusmarkierung sind.“ (14) Irgendwo versteckt sich in der kulturellen Klassifizierung auch der Naturstoffwechsel samt seinen Folgen für die Lebenswelt.
Beim Umgang mit den Dingen konstituieren sich „soziale Netzwerke“ (14). Akteur-Netzwerk-Theorie und science and technologiy studies (STS) (21) sind Stichworte für den Zugang: „Die Beziehung zwischen Akteuren und Objekten, die Interaktion von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren in Netzwerken ist durch Knappheit und Überfluss bestimmt“ (21) – da kommen aber auf jeden Fall die Wertungen hinzu. Dass zwischen Konsum und Produktion in der Alltagsökonomie keine scharfen Grenzen zu ziehen sind, wird nicht nur, wie dieser Text meint, durch die Praktiken des DIY (Do it yourself) bestätigt (29), sondern viel stärker noch in der Sozioökonomie und der Diskussion um Frauenarbeit und Care-Arbeit. Als „produzierende Konsument(inn)en“ nehmen Verbraucher in vielfältiger Weise teil an der Produktion (Piorkowsky, Michael-Burkhard: Produktive Konsumenten sind basale Akteure in der realen Ökonomie. In: Fischer, Andreas; Zurstrassen, Bettina (Hrsg.): Sozioökomische Bildung. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2014, S. 223 – 242, 225f.).
Zu wenig hervorgehoben wird, dass die „Konsumgesellschaften“ nicht einfach durch „Knappheiten und Überflüsse gekennzeichnet sind“ (30), sondern durch die Dominanz des Marktes mit der Tendenz, alle Beziehungen zu Marktbeziehungen werden zu lassen. Die Wertung von Fortschritt als Bestandteil von Kapitalismus und als Voraussetzung für Wohlstand und Freiheit (zit. S. Kocka) hängen damit zusammen. Andere Wertsetzungen wie Lebensqualität werden dadurch verdrängt, erst recht steht Zufriedenheit (das spirituelle diesseitige oder jenseitige „Seelenheil“) nicht mehr im Vordergrund der handlungsleitenden „Standards des guten und richtigen Lebens“ (wo im Gegensatz zu dem bloßen „guten“ Leben immer die Sozialität der vergemeinschafteten, vergesellschafteten Individuen mitgedacht wird). Hinter der modischen Frage, wieviel Konsum zum „guten Leben“ nötig ist (81), verbergen sich immer auch die nach anderen Möglichkeiten.
„Dinge und Waren in der Kulturanalyse“ (39) werden in der traditionellen „Sachforschung“ der Europäischen Ethnologie behandelt; die ihnen da zugeschriebene „Dingbedeutsamkeit“ wird bei Bruno Latour so weiterentwickelt, dass „Dinge als nicht-menschliche Akteure“ (44) verstanden werden. „Theorien sozialer Praxis: Lebensstil – Agency – Communities of Practice“ sind begriffliche Zugänge für die Forschung, gestützt auf Reckwitz, Bourdieu und andere (49 f).
Drei ausführlich mit Feldforschung, mit teilnehmender Beobachtung und Auswertung der verschiedenste tagesaktuellen Medien-Quellen in Hamburg und Berlin 2012/2013 erforschte Bereiche werden präsentiert mit narrativen Elementen und Auszügen von Interviews. Die Ergebnisse und Quellen sind durchaus unterschiedlich zu interpretieren:
Wenn für das Kleidertauschen (102) (Kleider-)Tauschpartys als Event aufgezogen werden, sind sie trotz aller konsumkritischer Untertöne kaum mehr als eine Fortsetzung von Shopping in der Prosperitätsgesellschaft (131, 133), freilich mit deutlich geringerem Umsatz. Für die Beschreibung der entsprechenden Prozesse muss man dankbar sein (133-142) – so kann Europäische Ethnologie nützliche Erfahrungen und Erkenntnisse vermitteln.
Bei Repair-Cafés ist die Kritik an der gewollten Obsoleszenz deutlich. Zunächst geht es um das Reparieren aus Not, dann wird eingegangen auf die gezielte Ausstattung mit reparaturunfreundlichen elektrischen und elektronischen Haushaltsgeräten (mit z. T. zweifelhafter Nützlichkeit für die Hausarbeit) (146), und es geht um die gesellschaftlich verhandelten Problemen dieser Technik, Entsorgung usf. eingeschlossen. 2009 gab es in Amsterdam das erste Reparaturcafé, aus dem sich ein Handbuch und eine Stiftung entwickelten. Die Akteure fühlen sich handlungsmächtig (171), die Cafés werden soziale Ort (173) und Teil der Infrastruktur (178), eingebundenen in eine Form von Commons (183) und in ökologische Praxis (185).
Reparieren wird verstanden als Protestpraxis (157) auch gegen geplante Obsoleszenz (163), die so zum öffentlichen Thema wird, ebenso die Verwertungsketten bis hin zum Müll-Export (186, 187). Es ist eine Nische entstanden, durchaus mit Auswirkungen auf den öffentlichen Diskurs. Gern hätte man auch etwas erfahren über die Reaktionen der Anbieter bzw. des Marktes.
Beim Thema Lebensmittelretten (193) geht es einleitend über die Kulturanthropologie der Nahrung (Barlösius) und den Wandel der landwirtschaftlichen Produktivität im 19. Jahrhundert (Uekötter). Die Nahrungsmittel-Abfälle sind in der Gegenwart zum öffentlichen Problem geworden (wenn zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Autobiographen aus dem Dienstboten-Bereich mit Erstaunen zur Kenntnis genommen wird, wie viel Abfall es im Privat- und Restaurant-Haushalt gibt, so geht es da noch nicht um Mengenprobleme wie heute). Seit 2012 spätestens diskutiert auch die Politik darüber (196), und es wird im Rahmen der Produktions- und Verwertungsketten von geregelter Zwangsentsorgung gesprochen (197 ff.).
Grundlage der Darstellung von „Mülltauchen“ und verwandten Praktiken sind Interviews. Vegetarismus und Veganismus, wie sie in diesem Milieu wichtig sind, werden historisch betrachtet und in die Lebensreformbewegung eingeordnet (214), und sie werden als Protestpraxis erläutert (222). Hingewiesen wird auf die Rechtslage und Prozesse dazu (222).
Wie bei Fairtrade oder Bioprodukten geht es auch beim Mülltauchen nicht um die Lösung der Probleme, „sondern die Etablierung solcher Alternativen mache ‚nur aufmerksam‘ auf die Probleme“ (225). Vielleicht will man auch ein bisschen sabotieren (226) und gegen Verschwendung kämpfen (228). Es ist eine (kleine) soziale Bewegung, Netzwerke entstehen, werbende Fotos kursieren, eine Petition wird geschrieben, über juristische Fragen (237), Spots und Gefahren (240) tauscht man sich aus. Lebensmittel werden nicht nur für den Eigengebrauch, sondern auch für andere gerettet (246). Das Ganze ist fluid, vielfältig, aber durchaus politisch (233). Infrastrukturierungsprozesse finden statt, Change agents treten auf (264/265), das Tätigsein ist allein schon ein Gewinn (268). All die Geschichten sind wunderbare Vorlagen für Journalisten (und die haben das Thema ja schon lange entdeckt).
Erwartet werden auch hier keine „konkret spürbaren Auswirkungen“ (251) auf gesellschaftlichen Wandel. Dass Dieter Klein und andere solche Basisbewegungen und solche Prozesse, bei denen Menschen sich aus den scheinbaren Selbstverständlichkeiten der Marktgesellschaft verabschieden, als „molekulare Wandlungen“ und Vorstufen auf dem Weg zu einer großen Transformation betrachten und würdigen, wird hier nicht erwähnt.
Beim Kleidertausch, beim Mülltauchen, und wenn es um die „geplante Obsoleszenz“ geht, fehlt eine Dimension: Man fragt nach den Motiven der „anderen Seite“: Welcher betriebswirtschaftlichen Rationalität verdankt sich das Angebot der Produzenten und Händler? Wie planen die ihr Angebot, mit welchen Raten von Ladenverkauf, Outlet-Verkauf, Sonderverkauf, Ausverkauf, Vernichtung von Überschuss rechnen die Produzenten, wie disponieren die Einzelhändler? Welcher Logik folgt die Datums-Markierung (237)? Und wie sieht z. B. die Logistik der Nahrungsmittelindustrie aus, wie die der Groß-und Einzelhändler, wenn sie mit solchen (welchen?) Mengen von Überschuss und von nicht verkaufter Ware umgehen? Und wie kalkulieren die Produzenten, Importeure, Groß- und Einzelhändler der Waren mit mehr oder weniger geplanter Obsoleszenz, damit so große Gewinne entstehen, wie man sie kennt? Wenigstens einige Hinweise auf diese Dimensionen bräuchte man, um das Ganze zu begreifen, wenn man nicht neben der Feldforschung im Milieu auch „studiing up“ bei den Verursachern treiben kann (Luykendijk: „Unter Bankern. Eine Spezies wird besichtigt“ hat dies 2016 gemacht).
Wenn Europäische Ethnologie mit Hilfe sensibel geführter Feldforschung die nutzerbezogenen Motive des „Shopping“ und des Alltagskonsums deutlicher machen kann, dann profitieren andere Wissenschaften davon, und man kann überlegen, welche Spielräume für mehr Nachhaltigkeit es gibt.
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