KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
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RezensionKulturation 2021
über Anne M. N. Sokoll:
Die schreibenden Arbeiter der DDR.
Gerd Dietrich
„Große“ Geschichte einer „kleinen“ Bewegung
Anne M. N. Sokoll: Die schreibenden Arbeiter der DDR. Zur Geschichte, Ästhetik und Kulturpraxis einer „Literatur von unten“. Düsseldorfer Schriften zur Literatur- und Kulturwissenschaft, transcript Verlag Bielefeld 2021, 493 S., 50,00 €.


Nach einem kurzen Boom Anfang der 1960er Jahre mit 500 bis 600 Zirkeln versandete die Bewegung schreibender Arbeiter keineswegs, wie man es zumeist im Zusammenhang mit dem „Bitterfelder Weg“ als „von oben“ durchgesetzter Kampagne behauptete, sondern pegelte sich ab Mitte der 60er auf einen Stand von ca. 200 Zirkeln mit etwa 2 500 ständigen Teilnehmern ein, die bis zum Ende der DDR, und einige sogar darüber hinaus, wirkten. Als Teil der Volkskunst- bzw. Laienschaffenden in der DDR machten die schreibenden Arbeiter nicht einmal ein Prozent aus, wenn man von ca. 800 000 singenden, musizierenden, tanzenden, malenden, Theater und Kabarett spielenden, fotografierenden und Filme machenden „Arbeitern“ ausgeht. Gleichwohl bekamen sie größte Aufmerksamkeit. Und das ist vor allem damit zu erklären, dass die Literatur im Spektrum der Künste den ersten Platz einnahm, dass im Vergleich mit den anderen Laiengruppen die Zirkel der schreibenden Arbeiter etwas Neues oder, wie Simone Barck schrieb, „in Zielstellung und Praxis ein genuin sozialistisches Experiment darstellten“[1], und dass sie deshalb als „maßgebliches Aktionsfeld“ (S. 12), als „prägnante Sparte“ (S. 61) oder gar als „Königsdisziplin“ (S. 308) der Volkskunstbewegung angesehen wurden, so Anne M. N. Sokoll.

Erstmals liegt hiermit eine umfassende Darstellung der Bewegung der schreibenden Arbeiter vor. Der Originaltitel der 2017 mit den drupa Preis ausgezeichneten Dissertation lautete: „Die Zirkel schreibender Arbeiter der DDR. Zur Geschichte, Ästhetik und Kulturpraxis einer Bewegung“, was die Intentionen der Autorin genauer umriss. Schwerpunkt der Darstellung sind die Bewegung wie die Zirkel und nicht deren literarische Produktionen. Die Studie versteht sich als ein Beitrag zur Grundlagenforschung. Mit recht geht Anne M. N. Sokol davon aus: „Die schreibenden Arbeiter müssen aus einer breiter angelegten Perspektive betrachtet werden, da es sich bei der Bewegung um eine vielfältige, mehrdimensionale und vor allem kontinuierlich bis zum Ende der DDR anhaltende Kulturpraxis handelte… Aus diesem umfassenden Verständnis heraus ergeben sich aus der Rekonstruktion des kulturpraktischen Phänomens ergiebige Ansatzpunkte für drei (Wissenschafts-) Kontexte, nämlich für die Forschungsaktivitäten zur DDR (unter anderem für die Teildisziplinen Sozial- und Alltagsgeschichte, Kultur- und Literaturwissenschaft), die Theorien zur Arbeiterliteratur und die Ansätze zur deutsch-deutschen Erinnerungskultur“ (S. 17) Aus einer westdeutschen Außensicht und nachgeborenen Sozialisierung entwickelt die Autorin ein bemerkenswertes und eingehendes Verständnis sowie eine überzeugende multiperspektivische Sichtweise auf die Bewegung der schreibenden Arbeiter in der DDR. Sie nimmt damit die prägnanten ostdeutschen wissenschaftlichen Ansätze, vor allem von Simone Barck und Rüdiger Bernhard [2], auf und führt sie zugleich weiter. Im Fokus stehen dabei erstens die chronologische Entwicklung der Bewegung von ihren Anfängen in den 1950er Jahren bis zu Versuchen einer Neuetablierung nach 1990, zweitens die Analyse des methodischen, ästhetischen und programmatischen Anleitungssystems und drittens das Selbstverständnis und die Darstellung der alltagskulturellen Praxis der Zirkel schreibender Arbeiter. Die Autorin stützt sich auf eine breite und umfangreiche Quellengrundlage von zeitgenössischen Schriften, Aussagen von Zeitzeugen sowie ausgewählten Archivmaterialien.

Eine intensive und zielführende Analyse der Bewegung schreibender Arbeiter kann sich nicht nur mit einer Wissenschaftsperspektive begnügen, so die Autorin. Darum widmen sich die drei großen Kapitel der Arbeit jeweils einer zentralen Fragstellung, um zu einer aussagekräftigen Gesamtanalyse zu gelangen. Dabei liegt der erste Schwerpunkt auf der Frage nach der Einschätzung der Bewegung als neues Konzept einer Wissens- und Kulturgesellschaft (Kapitel II). Der zweite Schwerpunkt beleuchtet die Frage nach der Einordnung der Bewegung als neues ästhetisches Konzept (Kapitel III). Einen dritten Schwerpunkt bildet die Frage nach der Beurteilung der Bewegung als neues kulturpraktisches Konzept (Kapitel IV).“ (S. 41) Jedes der Kapitel endet mit einer Zwischeneinschätzung und beantwortet die Fragestellung. Die Umfänge der Kapitel sind freilich sehr unterschiedlich. Während das Grundlagen-Kapitel II 269 S. umfasst, sind die Kapitel III und IV mit 61 bzw. 43 S. wesentlich kürzer geraten. Eine Schlussbetrachtung fasst die zentralen Ergebnisse zusammen und gibt uns ein ambivalentes Fazit der Bewegung schreibender Arbeiter.

Kap. II verortet die Bewegung in den Traditionslinien von Künstlerzusammenschlüssen (Salons, Bünde, Zirkel) und einer politisch links orientierten Literatur „von unten“. Mithilfe eines kulturhistorischen und -politischen Ansatzes wird die Bewegung vom Ideal des lesenden zum Ideal des schreibenden Arbeiters chronologisch rekonstruiert. Die Autorin glaubt, dass die von ihr vorgenommene Gliederung nach Jahrzehnten der natürlichen Entwicklung der Bewegung entsprechen würde. Aber bei genauerem Hinsehen hätten die zwei Zäsuren 1958/59 und 1971/72 eine stringentere Chronologie ermöglicht und Redundanzen, insbesondere was die 70/80er Jahre betrifft, vermieden. Das Kapitel geht von den utopietheoretischen Grundlagen aus, die die Phase der sozialistischen Kulturrevolution kennzeichneten. Es weist nach, dass die 1. Bitterfelder Konferenz 1959 Auftakt und zugleich erster Höhepunkt der Bewegung schreibender Arbeiter war. Die „Blütezeit“ in den 60ern ging mit einer Strukturierung, Kanonisierung und Feinjustierung der Bewegung einher. In den 70/80ern vollzog sich danach eine Konsolidierung, Ausdifferenzierung und Positionierung der Bewegung in Arbeitswelt und Gesellschaft. Die gravierendste Zäsur ergab sich mit der deutschen Einheit 1990 und der folgenden Abwicklung der Mehrzahl der Zirkel.

Nach dieser detaillierten Rekonstruktion geht das Grundlagen-Kapitel II auf die quantitativen und qualitativen Merkmale der Bewegung und deren normative und operative Ausrichtung ein. Sozialgeschichtlich angelegt wird die oben erwähnte Quantität der Bewegung in ihrer Entwicklung beschrieben und zugleich deren soziale Zusammensetzung analysiert. Denn es stellte sich die Frage, ob nicht eher von einer

„Bewegung schreibender Werktätiger“ zu sprechen war, um den realen Begebenheiten Rechnung zu tragen, weil Arbeiter zumeist weniger als 50 Prozent der Zirkel ausmachten. Ideologisch beharrte man freilich auf dem illusionären Begriff analog zu „Arbeiterpartei“ und „Arbeiterstaat“. Und mit dem Aufruf des „lesenden Arbeiters“ waren ja auch zuerst einmal die kulturarmen Funktionäre in Partei und Massenorganisationen gemeint. Hinsichtlich der an die schreibenden Arbeiter gestellten qualitativen Anforderungen geht die Analyse kulturästhetisch vor und verortet die Bewegung im Spannungsfeld zwischen kulturpolitischer Ausrichtung, qualitativen Anforderungen und Maßnahmekatalogen aus den Jahren 1967, 1973 und 1984. Ende der 50er/Anfang der 60er divergierte die normative Ausrichtung noch zwischen Beitrag zur Nationalliteratur und Breitenbewegung. Danach fand eine Ausdifferenzierung statt, in deren Folge die Bewegung mehr und mehr als ein Medium verstanden werden kann, mit dessen Hilfe Kultur einen Aufschwung und eine Entfaltung in der Gesellschaft erlebte, sowohl durch die passive als auch durch die aktive Beschäftigung mit der Kunst und ihrer Ästhetik.

Das III. Kapitel widmet sich mithilfe eines literaturwissenschaftlichen Ansatzes der Frage, ob die Bewegung schreibender Arbeiter als neu installiertes ästhetisches Konzept bewertet werden kann. Dargestellt wird die methodisch-ästhetische Anleitung der Laienautoren über Regelpoetiken und -programmatiken, die in den vier Jahrzehnten speziell für die Bewegung als didaktische Gattungen von Institutionen wie dem Zentralhaus für Kulturarbeit oder dem Bundesvorstand des FDGB herausgegeben wurden. Ebenso wird auf die Zeitschrift „ich schreibe“ eingegangen. Zudem analysiert die Autorin die zwei großen Anleitungskompendien – das „Handbuch für schreibende Arbeiter“ von 1969 und „Vom Handwerk des Schreibens“ von 1976 -, die das kulturelle Wirken der Bewegung schreibender Arbeiter im Sinne eines sozialistischen Literaturverständnisses fördern sollten, und stellt sie als Herausarbeitung ästhetischer Ansprüche wie gattungsspezifischer Muster einander gegenüber.

Im IV. Kapitel geht die Autorin mithilfe eines kulturwissenschaftlichen Ansatzes exemplarisch auf die Zirkelpraxis ein, auf Trägerschaft wie Verortung der Zirkel, inwieweit die kulturpolitischen Ziele in den Zirkeln umgesetzt wurden und sich ein neues kulturpraktisches Konzept herausbildete. Ganz konkret steht dabei der Zirkel schreibender Arbeiter des VEB Starkstromanlagenbau/ VEB Schiffselektronik Rostock im Mittelpunkt, dessen Zirkelalltag anhand der Kriterien Gruppencharakter, Organisation, Alltag, Öffentlichkeit und Einflüsse rekonstruiert wird. Ebenso werden die produktionsästhetischen Bedingungen und die eigenwillige Selbst- und Gruppenreflexion der Zirkelmitglieder beschrieben und der Zirkelalltag schließlich als umfassende und vielfältige Kulturpraxis und gleichzeitig als heterogenes Konzept umrissen, das zwischen einem mikrokosmischen kulturellen Freiraum und einem makrokosmischen strikt strukturierten System funktionierte.

Anne M. N. Sokoll hat einen enormen interdisziplinären und theoretischen Aufwand betrieben, man gehe nur den einzelnen wissenschaftlichen Ansätzen nach, und sie hat eine detaillierte und weitgreifende Darstellung der Bewegung der schreibenden Arbeiter vorgelegt. Eine gewisse Faszination oder gar Überschätzung der utopietheoretischen bzw. ideologischen Aspekte und Ansprüche ist dabei nicht zu übersehen, das zeigt sich auch daran, wie oft der sogenannte neue Mensch und die kulturrevolutionäre These von der „Erstürmung der Höhen der Kultur“ akzentuiert werden. Zwar wird die Bewegung der schreibenden Arbeiter als Konzept einer Wissens- und Kulturgesellschaft der DDR angesehen, aber diese Gesellschaft vor allem idealiter gehandhabt, eine explizite Definition oder Beschreibung der Realität einer Kulturgesellschaft DDR sucht der Leser vergebens. Allein im Mikrokosmos der Zirkel wird diese reale Kulturgesellschaft angedeutet. Gleichwohl kommt die Autorin zu beachtenswerten Ergebnissen.

In ihrer Schlussbetrachtung evaluiert die Autorin die anfänglich aufgestellten Thesen hinsichtlich der zeitlichen und räumlichen Kontinuität, des gesellschaftlichen und literarischen Erfolgs und des heterogenen Charakters der Bewegung: Erstens unterstreicht sie die Kontinuität der Bewegung, die von den 50ern bis 1990 ein kontinuierlich wirkender und operativ wirksamer Akteur auf dem Feld der Kultur in der DDR war. Nicht mehr der anfänglich geforderte Beitrag zur sozialistischen Nationalliteratur stand dabei im Vordergrund, sondern die Wirksamkeit im direkten Umfeld, im Betrieb und im Wohngebiet. Kontinuität und Vehemenz widerlegen die bis dato in der (westdeutschen) Forschung präsente These vom allmählichen Versanden der Bewegung.

Zweitens schneidet die Bewegung im Hinblick auf quantitative Kriterien und im Vergleich zu westdeutschen ähnlich gelagerten Kulturaktivitäten nicht so schlecht ab, wie bisher zumeist angemerkt wurde, wenn sie auch im Vergleich der Teilnehmerzahlen zu anderen Sparten der Volkskunst marginal blieb. Aber natürlich konnte eine Bewegung Schreibender keinen Massencharakter annehmen, ihre literarischen Ergebnisse wurden auch in der DDR stets kritisch gesehen. Eine qualitative Evaluierung gestaltet sich somit ambivalent, denn die Bewegung ist kaum anhand des tradierten Literaturkanons zu beurteilen. „Die Zirkel schreibender Arbeiter fungierten – und das macht ihre Besonderheit aus – als ein in der gesellschaftlichen Basis wirkender Impetus, der bis in die Gesellschaftsbereiche hineinwirkte, denen in tradierten elitären Konzepten der Zugang zu Wissen und Kultur zum größten Teil bis dahin verweigert worden war, und verortet sich mit diesem Kernziel in der Traditionslinie einer ‚Literatur von unten‘“. (S. 427) Trotz relativ rigider Vorgaben und auch repressiver Maßnahmen sei darum der praktizierte Ansatz einer allgemein zugänglichen und zusätzlich geförderten Volkskunst in der DDR nicht gering zu schätzen.

Drittens war die Bewegung schreibenden Arbeiter nicht nur ein „von oben“ gesteuertes kulturpraktisches Phänomen und die Deutung als gänzlich abhängige Bewegung wird ihr nicht gerecht. Denn der zirkelinterne Alltag und Kollektivsinn bescherte durchaus „ein alternatives und Freiraum ermöglichendes Öffentlichkeitsforum für die laienschriftstellerischen Werke“. (S. 428) Insgesamt war die Zirkelarbeit von Mehrdimensionalität geprägt. Damit fungiert die Bewegung als kulturpraktisches Beispiel für einen Ansatz, der gleichsam Komplexität wie Heterogenität erfasst. Dass es nicht zu einem eindeutigen „Pro- oder Contra-Fazit kommen kann, liegt sicherlich auch in dem ambivalenten Charakter der Kunst und Kultur in der DDR begründet“, so die Autorin. „Was für die Schriftsteller der DDR galt, kann auch auf die Bewegung schreibender Arbeiter ausgeweitet werden. Aus dem sich ambivalent gestaltenden Künstlerdasein in der DDR heraus kann der Evaluierung des kulturpraktischen Phänomens Bewegung schreibender Arbeiter nur ein Bewusstsein zugrunde gelegt werden, das dem heterogenen und ambigen Alltagshorizont Verständnis entgegenbringt. Gleichzeitig darf diese Außenperspektive die Laienautoren nicht als von der DDR losgelöstes Kulturphänomen betrachten, sondern sie in allen für die DDR-Literatur und -Kultur üblichen Kategorien von Anleitungs-, Kontroll- und Repressionsmechanismen wahrnehmen.“ (S. 431)

Es ist für ein neues und gegenwärtiges, west- wie ostdeutsches Verständnis der historischen Bewegung schreibender Arbeiter durchaus von Vorteil, dass Anne M. N. Sokoll an Joseph Beuys These „Jeder Mensch ist ein Künstler“ erinnert und in der Einleitung wie in der Schlussbetrachtung darauf hinweist, dass Beuys erweiterter Kunstbegriff als Matrix wie als Narrativ auch für die Untersuchung und Darstellung der Bewegung schreibender Arbeiter angewendet werden kann. Denn die Bewegung „knüpfte in ihrem grundlegend offen und popularisiert angelegten Verständnis von Kunst und Kultur für die ‚Arbeiterklasse‘ durchaus an den Beuys’schen Kunstbegriff“ an. Leider habe es das vereinigte Deutschland verpasst, „derart positiv angelegte Konzepte von ihrem repressiven Charakter zu befreien und in die demokratische Gesellschaft fruchtbringend zu überführen... Ein derart umfassend angelegtes gesellschaftskulturelles Konzept wie die Bewegung schreibender Arbeiter hätte in die Gesellschaft des wiedervereinten Deutschlands zahlreiche produktive Impulse einbringen können, wenn es in deren Lebensalltag integriert worden wäre“. (S. 438/439)

Anmerkungen

[1] Simone Barck: Ein ganzes Heer von schreibenden Arbeitern? In: Simone Barck/Stefanie Wahl (Hg.): Bitterfelder Nachlese. Ein Kulturpalast, seine Konferenzen und Wirkungen, Berlin 2007 S. 141.

[2] Vgl. Rüdiger Bernhardt: Vom Schreiben auf dem Bitterfelder Weg. Die Bewegung schreibender Arbeiter – Betrachtungen und Erfahrungen, Essen 2016.