KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
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RezensionKulturation 1/2008
über Thomas Flierl:
Berlin: Perspektiven durch Kultur
Volker Gransow
Hauptstadtkultur und Kulturhauptstadt


Thomas Flierl: Berlin:Perspektiven durch Kultur. Texte und Projekte. Redaktion von Ute Tischler und Harald Müller. Mit Fotografien von Arlett Mattescheck. Berlin: Theater der Zeit. 2007 (317 S.; ISBN 3934344968; 16,00 €).

Die Kraft der Vergangenheit, die aus der Gegenwart zu uns spricht, ist nach Adorno etwas, mit dem gesellschaftliche Bindungen hergestellt oder gebrochen werden. Mit diesem Diktum wird das Buch des früheren Berliner Kultursenators begonnen. Es verweist darauf, dass trotz des Titels “Perspektiven durch Kultur” auch die “Arbeit an der Geschichte” mehr als die Hälfte des Gesamttextes einnimmt. Chronologisch geordnet geht es in diesem 1. Kapitel um mehr als zwanzig Jahre Berliner Kulturgeschichte in Texten und Projekten. Die Auswahl beginnt mit dem Protest des jungen Ost-Berliner Philosophen gegen den Abriss der Gasometer in Berlin-Prenzlauer Berg 1984. Dem folgt ein längerer Aufsatz, dessen Titel ironisch ein seinerzeit in der DDR viel gesungenes Lied aufnimmt: “Thälmann und Thälmann vor allem”.

Nachdenklich und kenntnisreich analysiert der Verfasser das Ende eines Nationaldenkmals in Niemandsland: “Bereits ein Jahrzehnt arbeiteten Ruthild Hahne und ihr wechselndes Kollektiv schon an der Realisierung des Thälmann-Denkmals, als mit dem im März 1961 bestätigten Bebauungsplan für das Stadtzentrum von Groß-Berlin schwerwiegende Eingriffe in die städtebauliche Situation vorgenommen wurden... Die Wilhelm/Otto-Grotewohl-Straße endete nach dieser Planung im Vorhof des Preußischen Herrenhauses... Eine bemerkenswerte historisch-stadträumliche Sackgasse!” (S.70). Die Ost-Berliner Stadtplanung nahm mit diesem Entwurf Flierl zufolge die spätere Abriegelung zu West-Berlin vorweg. Das Thälmanndenkmal wurde nun zeitweilig vor dem Gebäude des SED-Zentralkomitees geplant, doch im Juli 1979 beschloss das Politbüro die Kreuzung Dimitroffstraße (heute Danziger Straße)/Greifswalder Straße als Standort eines “Ernst-Thälmann-Parks” inklusive Denkmal. Mit dem heutigen Thälmann-Denkmal bleibt nach Meinung des Verfassers “nur noch das Zeichen eines Zeichens übrig, das sich gegen seinen virtuellen Charakter gegenständlich umso monströser behaupten muss” (S.88).

Im zweiten Kapitel geht es nicht nur um Stadtkultur, sondern speziell um Hauptstadtkultur oder auch die Frage einer Kulturhauptstadt. Hier wird Flierls Konzept für die drei Berliner Opernhäuser ebenso dokumentiert wie eine Bilanz der Berliner Kulturpolitik. Diese Bilanz gerät zu einem Plädoyer für die kulturpolitische Öffnung zur multikulturellen Hauptstadt und Metropole ebenso wie - bescheidener und daher realistisch - zum Ausblick auf eine künftige kommunale Kulturpolitik der Stadt Berlin in einem Land Berlin-Brandenburg. In einem gleichfalls abgedruckten Interview mit Katrin Bettina Müller von der “tageszeitung” über den Widerspruch von Marktwert und kulturellem Wert antwortet Thomas Flierl auf die Frage, ob ein System der subventionierten Kultur überhaupt ohne den Widerspruch von Markt und Kultur auskommen könne, “selbst wenn klar ist, dass die Utopien der bürgerlichen Welt inzwischen anachronistisch sind?” wie folgt: “Utopien sind nicht anachronistisch... Im Bereich der Kultur ist nichts umsonst, selbst wenn es mitunter oft als kulturelle Tat erscheint, sich davon etwas zu befreien. Im kulturellen Zusammenhang macht auch Scheitern Sinn”(S.233).

Ein dritter Teil des Buches ist “Engagement und Kontroversen” überschrieben. Themen sind hier die Regierungsbauten der DDR, immer wieder die Kontroverse um den Palast der Republik bzw. das Humboldt-Forum, aber auch das Schaffen von Berhard Heisig oder die Zukunft des Studentendorfs Schlachtensee. In einer Rezension von Stefan Heyms Roman “Die Architekten” behauptet Flierl explizit, dies Buch sei “kein Schlüsselroman”, Heyms fiktiver Architekt Sundstrom nicht Hermann Henselmann, einer der Haupt-Planer der Stalin-Allee. Trotzdem widmet sich Flierl Henselmann intensiv, grenzt sich von vermeintlich totalitären Parallelen zur NS-Stadtplanung eines Albert Speer deutlich ab und behauptet mit Wolfgang Engler, “dass der Arbeiteraufstand vom Juni 1953 just von hier seinen Ausgang nahm, wäre dann weder purer Zufall noch Missverständnis, sondern Freisetzung, Sichtbarmachung der dem Gemäuer inhärenten Spannung” (S.268). Eben jener Engler hat auch ein kurzes Nachwort beigesteuert. Der Rektor der Schauspielschule “Ernst Busch” vergleicht hier Schauspieler und Politiker und schreibt wohl ad personam, “der Vorteil des Intellektuellen in der Politik - das reflektierte Verhältnis zu sich selbst - ist auch sein Nachteil: Reflexion hemmt die Reflexe”(S.302). Abgerundet wird das Buch außerdem mit einer Kurzvita, einer Bibliografie und ausgesprochen ungewöhnlichen Stadtansichten.

Ärgerlich ist, dass schon ganz zu Anfang ausgerechnet der Name des Verfassers falsch geschrieben wird (“Fierl” statt “Flierl”, S.8). Störend wirkt der Abdruck eines Zitats aus einem Gespräch mit Günter Gaus auf der 4. Umschlagseite, das im Text des Buches selbst nicht auftaucht. Trotz solcher Quisquilien kann der Sammelband aber nur empfohlen werden. Und zwar gleichermaßen wegen Themenvielfalt, Reflektiertheit und intelligenter Strukturierung durch die Redaktion von Harald Müller und Ute Tischler.