Rezension | Kulturation 1/2003 | über Enno Bünz, Rainer Gries und Frank Möller (Hg.): Der Tag X in der Geschichte. Erwartungen und Enttäuschungen seit tausend Jahren | Harald Dehne | Die Zukunft von gestern
| Die Zukunft von gestern
von Harald Dehne (Berlin)
Enno Bünz, Rainer Gries und Frank Möller (Hg.): Der Tag X in der Geschichte. Erwartungen und Enttäuschungen seit tausend Jahren, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt) 1997, 381 S., 25 Euro.
Auch an Zeitläuften, die heute noch äonenweit voraus liegen mögen, ist der Strom der Weltgeschichte morgen schon vorbeigeflossen und hat sie hinter sich gelassen. Nur der historiographischen Aufmerksamkeit ist es zu verdanken, wenn davon Notiz genommen wird, dass auch das Zukünftige schon einmal vorgestellt worden ist: als Erwartung des Kommenden aus der Sicht der jeweils Heutigen. Die Menschen des Mittelalters mit ihrer ansonsten zyklischen Zeitvorstellung erwarteten zukunftsgewiß das Ende ihres irdischen Lebens - zuerst für das Jahr 1000 christlicher Zeitrechnung, danach mußte das genaue Datum offenbleiben. Dass man sich seit der Vertreibung aus dem Paradies auf einer absteigenden Bahn befand und schließlich nur die Besten von ihnen nach Christi Wiederkunft eine ewige Chance würden erhalten können, galt als selbstverständlich. Erst in der Neuzeit verbanden sich die Zukunftserwartungen mit einer Vorstellung vom Fortschreiten der Zeit zu immer besseren Zuständen: unaufhaltsamer Aufstieg ersetzte den früher gedachten programmierten Niedergang menschlichen Daseins. Als Beitrag zu einer Erwartungsgeschichte versucht der vorliegende Band die jeweiligen Zukunftsvorstellungen im Verlaufe des zweiten Jahrtausends zu ermitteln. Man kann somit das, was wir heute Geschichte nennen, noch einmal erleben als einstige Zukunft, sozusagen von vorn, retrospektiv - wie wenn man einen Weg nochmal zurückläuft, um ihn dann ganz entspannt ein weiteres Mal zu gehen, da man nunmehr weiß, dass auf dieser Wegstrecke eine Begegnung mit der Apokalypse nicht zu befürchten steht.
So zeigt gleich der erst Beitrag, wie die Menschen mit dem Ablauf des ersten Saeculums mit dem Weltuntergang rechneten und sich entsprechend vorbereiteten, aber, als er denn ausblieb, genauso unaufgeregt sich von neuem im irdischen Leben einrichteten. Noch gelassener sah man dem Jahr 1300 entgegen, das als dem ersten Heiligen Jahr vollkommenen Ablaß versprach. Für das späte Mittelalter wird uns dargestellt, wie man durch Beobachtung von Phänomenen wie Seuchen, Hungersnöten, Witterungsverhältnissen oder Kometenauftritte versuchte, „göttliche Zeichen“ zu erkennen und zu verstehen und sich fragte, ob der massenhafte „Schwarze Tod“ Gottes Strafe sei oder bereits das Ende der Menschheit ankündige.
Den Übergang zur Moderne vollzieht der Band mit einem Text über den unglaublichen Eingriff in das Leben der russischen Gesellschaft, den Zar Peter der Große mit der Einführung des Jahres 1700 anstelle des Jahres 7208 byzantinischer Zeitrechnung vornahm. Auch hier waren Endzeitpropheterie und die eigene Alltagserfahrung, dass es doch irgendwie weiterging, seit dem Ausbleiben des von der Kirche für das Jahr 7000 (1492 n. Chr.) berechneten Weltuntergangs längst auseinandergedriftet. Der tiefgreifende Wandel der Zeiten, den die Kalenderreform des Zaren eingeleitet hatte, brachte ihm bei den Altgläubigen den Ruf des Antichrist ein, öffnete aber eine Perspektive in die Zukunft.
Auch der Blick des deutschen aufstrebenden Bürgertums war vorwärts und aufwärts gerichtet. Als Beispiel treffen wir in diesem Band das Wartburgfest im Oktober 1817, das Freiheit und Einheit für das deutsche Vaterland als Zukunftserwartung sehr leidenschaftlich thematisierte. Exemplarisch deutlich wird der „Traum vom endlosen Fortschritt“ aber in den mit dem Jahr 1900 verbundenen Hoffnungen. Von einer Endzeitstimmung könne nicht die Rede sein, so der Text, der sich leider auf die bürgerlichen Quellen beschränkt. Im Gegenteil: Angesichts der enormen technischen, aber im gewissen Rahmen auch sozialen Fortschritte in der zurückliegenden Zeit sah man dem 20. Jahrhundert mit ausgesprochen positiven Erwartungen entgegen, im Vergleich zur Säkularwende 1800 allemal. Der Fortschrittswahn erlebte zwar Brüche, aber er hielt an.
Mit dem Eintritt in die zeitgeschichtliche Abteilung (Erster Weltkrieg, Russenangst 1945, Walter Ulbrichts Einheitsträume) legt sich die Spannung des Bandes, der aus einer Vortragsreihe an der Universität Jena hervorgegangen ist, zunächst. Dies mag zum Teil daran liegen, dass das Faszinosum fehlt, das den bisherigen Beiträgen zu eigen war, aber man vermißt jetzt auch den wohltuenden Odem einer großartigen Abhandlung. Dieser Anspruch kehrt erst wieder zurück in dem sehr anregenden und souveränen Beitrag über die Vorbereitungen in Westdeutschland auf eine Wiedervereinigung. Hier und in den letzten beiden Texten zeigt sich Erwartungsgeschichte als Geschichte einer abnehmenden Erwartung. Gingen im Jahre 1956 noch 66 Prozent der Westdeutschen von einer Wiedervereinigung aus, so teilten diese Zukunftsvorstellung 1987 nur noch drei Prozent. Am Beispiel der Aktivitäten des zwischen 1952 und 1975 bestehenden Forschungsbeirates für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands wird die Metamorphose des Zieles der Wiederherstellung der deutschen Einheit von einer „Naherwartung“ bis zur fast vollständigen Aufgabe sichtbar. Die dazu vorgetragene Hypothese lautet, dass der Wandel in der deutschen Frage nicht durch Annäherung, sondern durch Abwendung als Bedingung der Möglichkeit ihrer Lösung erfolgt ist.
Die beiden abschließenden Texten führen zurück in die DDR-Vergangenheit. Geht es in dem einen um die für die DDR wohl letzte Chance einer Reformierung 1963 und um das klägliche Scheitern dieses Frühlings von immerhin drei Jahren, so zeigt der letzte Beitrag anhand der Propagandageschichte, „wie der DDR das Jahr 2000 abhanden kam“. Wurden 1959 noch paradiesische Zukunftsvisionen für den messianisch erwarteten Kommunismus entworfen, so wird die verbleibende Zeit der DDR von einem kontinuierlichen Zurücknehmen heilsgeschichtlicher Versprechungen begleitet. Auch wenn zu Recht von sozialen Errungenschaften die Rede ist - den einstigen Träumen entspricht nichts mehr. Der Erwartungshorizont in der DDR verkürzt sich immer mehr, bis er schließlich in sich zusammenfällt: „gestorbene Zukunft“.
Nach so viel beeindruckender Lektüre historischer Erwartungsforschung, in deren Themen Zukunft immer Vergangenheit ist, fragt man sich unwillkürlich, wie es denn sein kann, dass die Zukunft wirklich schon begonnen haben soll. Unlängst – ja wann? etwa am 1. Januar 2000 oder doch erst ein Jahr später? – stand auch uns Heutigen eine Wende zu einem neuen Saeculum ins Haus, begleitet von Hoffnungen und Ängsten. Mit den Ungewißheiten haben wir, so sieht es jedenfalls aus, leben gelernt. Da wir von Pest wenigstens in letzter Zeit und vom Jüngsten Gericht bisher überhaupt verschont geblieben sind, wage ich es zum Schluß denn doch zu sagen: Eigentlich ist es schade, dass wir diese flinken Lufttaxis, von denen 1959 auch die Kinderzeitschrift FRÖSI schwärmte, immer noch nicht haben. Na, vielleicht hinterm nächsten Zukunftsfenster.
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