KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
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RezensionKulturation 2/2007
über Perry Friedman:
Wenn die Neugier nicht wär’
Volker Gransow
Ein Kanadier in der DDR


Perry Friedman
“Wenn die Neugier nicht wär’ “. Ein Kanadier in der DDR. Berlin: Karl Dietz Verlag, 2004 (198 S.; 1 CD; ISBN 13978-3-320-02048-X; 14,90 €).

Zu diesem Buch gehören Verspätungen. Der Autor starb 1995, ohne sein autobiographisches Manuskript vollenden zu können. Jahre vergingen, bis seine Frau Brigitte den Text aus dem Englischen übersetzt hatte. Erst nach weiteren Jahren konnte der Nachfolgeverlag des SED-Parteiverlags das Werk herausbringen. Es wurde öffentlich relativ wenig beachtet. Und auch die vorliegende Rezension erfolgt nicht gerade superschnell. Trotzdem ist das Werk eine aufschlussreiche Lektüre auch zeitversetzt und weit über Kanadistik und DDR-Forschung hinaus. Es ist interessant für alle, die an internationalen kulturellen Beziehungen auch jenseits von zwischenstaatlichen Abkommen und offizieller Diplomatie interessiert sind. Warum?

Der Verfasser wurde 1935 als Barry Morely Friedman in Big River, Saskatchewan, geboren. Genannt wurde er aber entweder “Perry” oder “Perele”. Seine Eltern waren jüdische Einwanderer mit teils ukrainischem, teils rumänischem Hintergrund. Er wuchs sowohl in Big River als auch im jüdischen Viertel von Winnipeg bei seinen Großeltern auf. Die Alltagssprache war Englisch, aber bei Oma und Opa wurde nur Jiddisch gesprochen. Der Vater betrieb einen “General Store” in Big River, während die Mutter trotz vieler Talente meist etwas unstet in Winnipeg lebte. Das damalige Winnipeg charakterisiert Friedman so: “Die Polen hassten die Russen, die Russen die Ukrainer. Polen, Russen und Ukrainer hassten … die Juden. Jede Minorität schien die Unterdrückung der anderen zu brauchen, ein Übel, das uns alle erfasste. Die schon sehr alte Cousine meiner Großmutter sprach über ‘Nigger’, als gehörte sie dem Ku-Klux-Klan an” (S.17). Wichtigstes Medium für den jungen Perry Friedman war die “Canadian Broadcasting Corporation (CBC)” wegen der Musik, aber auch wegen der Nachrichten von der europäischen Front. Musikalisch-textliches Vorbild war für den Banjospieler Friedman der US-amerikanische Protestsänger Pete Seeger, der in der McCarthy-Ära zeitweilig nur in Kanada auftreten konnte. Seine Konzerte im Vancouver der fünfziger Jahre wurden von Perry gemeinsam mit seinem Bruder Searle vorbereitet. Seeger “bat uns, ein kanadisches Volkslied zu singen. Wir sahen uns verblüfft an. ‘Es gibt keine kanadischen Volkslieder’. Pete Seeger sang uns ein paar vor, wir hatten keins jemals vorher gehört” (S.29). Fortan sammelte Friedman kanadische Folksongs und wurde ab 1954 Gewerkschaftssänger. Dass er wohl auch der KP Kanadas beitrat (1), lässt sich eher implizit aus seinen Schilderungen der Zurückweisung an der US-Grenze entnehmen.

Aber “in Kanada vom Singen zu leben war so unmöglich, wie Orangen anzubauen” (S.42). So ging er zunächst nach England, wo er von Kurt Seibt in die DDR eingeladen wurde. Dessen Stellung in der SED-Hierarchie war ihm natürlich unbekannt (2). Am 28. April 1959 bezog er ein Zimmer im damaligen Hotel “Newa” in der Friedrichstraße - ein neuer Lebensabschnitt hatte begonnen. Edith Anderson (3) förderte ihn energisch. Er gab Einzel- und Gruppenkonzerte, bis er 1960 das erste “Hootenanny” in der DDR startete. So etwas gab es in Ostdeutschland bisher noch nicht - ein zwangloses gemeinsames Singen von Künstlern und Publikum. Er hatte prominente Mitwirkende: Wolf Biermann, Hermann Hähnel, Lin Jaldati, Gisela May, Eberhard Rebling u. v. a. Man sang nordamerikanische Kampflieder und Folksongs ebenso wie deutsche Arbeiter- und Volkslieder. Bewusst versuchte Friedman mit dem 5-Saiten-Banjo dabei, den deutschen Volksliedern den Nazischwulst zu nehmen. Es fiel ihm gar nicht auf, dass russische Lieder genauso fehlten wie die FDJ. Beides wurde bald nachgeholt, und so wurden aus “Hootenanny” der “Oktoberklub der FDJ” und eine republikweite Singebewegung. Der damalige Ostberliner SED-Chef Paul Verner tat sich bei diesen Repressionen und Kanalisierungsversuchen sehr hervor. Es folgten u. a. Dreharbeiten in Vietnam (“Piloten im Pyjama”), Auftritte im Rummelsburger Gefängnis und in Westdeutschland bei DGB und DKP, Jusos und Falken.

1971 kehrte Friedman nach Kanada zurück, wohl nicht zuletzt auf Drängen seiner (ersten) deutschen Frau, der das östliche Deutschland zu eng war. Das konnte aber die Ehe auch nicht retten. Vielleicht waren Erfahrungen wie diese beim CBC mit “Cabaret Canada” ebenfalls wichtig, von denen sein Freund Jack Winter berichtet: “Das … Highlight war ohne Frage eine berühmte Sängerin aus Quebec ... Unsere Regisseurin ... bemerkte, dass ‘wahre kanadische Sängerinnen’ niemals ... gestikulieren, wenn sie sich nicht die Achselhöhlen rasiert hätten ... Als das Lied endlich über die Bühne war, schnitt die Regisseurin den Applaus ab, um sich zu erkundigen, ob die Sängerin nicht eine englische Version als Ersatz hätte mitbringen können. ‘Für den Fall, dass unser berühmter Gast es nicht bemerkt hat’, fügte sie hinzu, ‘dies hier ist Ontario.’“ (S.118). Seitdem hatte Perry Friedman immer “Speak White” in seinem kanadischen Programm, in dem Frankokanadier mit schwarzen Amerikanern verglichen wurden.

1976 war er wieder in “seiner” DDR, ohne an frühere Erfolge anknüpfen zu können. Im Gegenteil, er erfuhr noch einmal deutlich das Repressionspotenzial des autoritären Systems. So führte eine öffentliche Nennung Ulbrichts zur Unzeit zum Langzeit-Wegfall von Auftrittsangeboten. Nach einem Herzinfarkt und weiteren schweren Erkrankungen starb er 1995, vielleicht auch aus Trauer über das Scheitern der von ihm trotz aller Kritik grundsätzlich unterstützten DDR.

Das Buch enthält reichlich Fotomaterial sowie Texte seiner zweiten Frau, seines seit 1980 wieder in Toronto lebenden Sohnes Michael Friedman sowie seiner Freunde Heinz Kahlau, Rudolf Raupach, Eberhard Rebling, Hannes Stütz, Manfred Vosz und Jack Winter. Dem Buch liegt eine CD bei, die einen guten Querschnitt durch Friedmans Schaffen bietet, vom jiddischen “Shankoje” über Woody Guthries “Down the Road” bis hin zu “Ade nun zur guten Nacht”. Ein Namens- und Stichwortverzeichnis fehlt wie eine Bibliographie und (noch mehr) eine Diskographie.


Anmerkungen

1 Vgl. etwa den Abschnitt über die KP Kanadas in Sozialismus und Kommunismus im Wandel, Köln, Bund, 1993.

2 Vgl. “Seibt, Kurt”. In: Wer war wer in der DDR? Ein biographisches Lexikon, Berlin , Links, 2. Aufl. 2000.

3 Vgl. Edith Anderson, Liebe im Exil. Eine amerikanische Schriftstellerin im Berlin der Nachkriegszeit, Berlin, Basisdruck, 2007.