Rezension | Kulturation 2011 | über Anna-Lena Wenzel: : Grenzüberschreitungen in der Gegenwartskunst. Ästhetische und philosophische Positionen | Thomas Hertel | Kunsttheoretisches über Grenzen Anna-Lena Wenzel:
Grenzüberschreitungen in der Gegenwartskunst. Ästhetische und philosophische Positionen. transcript Verlag, Bielefeld 2011, 297 S., 32,80 Euro, ISBN 978-3-8376-1810-5
| Dem Buch liegt eine Dissertationsschrift zugrunde, die Anna-Lena Wenzel an der Universität Lüneburg (unter dem Titel: „Grenzüberschreitungen in der zeitgenössischen Kunst. Von der Überschreitung der Grenze zu unabschließbaren Bewegungen in Grenzräumen“) erfolgreich verteidigt hat. Daher ist nicht zu befürchten, dass die Autorin selbst eine tollkühne Grenzüberschreitung vollzieht und etwa aus dem theoretischen Diskurs ausbricht und mit ihrem Textformat auf die freie Wildbahn der Kunst gelangt. Wer sich der Lektüre zuwendet, darf fundierte wissenschaftliche Ausführungen erwarten, die u. a. eine Neubestimmung des Begriffs Grenzüberschreitung anstreben. Die dabei vorgenommene “transdisziplinäre Untersuchung” soll “als spezifisch kulturwissenschaftliche” angesehen werden (17).
Wenzel versucht, “einem bestimmten Phänomen aus unterschiedlichen Perspektiven” nachzugehen und “die jeweiligen Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Verständnis von Grenzen und Grenzüberschreitungen” herauszuarbeiten (17 f.). Für die Doxographie (- das heißt, bei der Sichtung von vorhandenen Wissensbeständen) hat sie eine gute Auswahl getroffen. Neben der Text- bzw. Diskursanalyse wird von ihr “zugleich auf aktuelle praktische Beispiele zurückgegriffen” (18). Die Autorin versucht (im Anschluss an Foucault und in Allianz mit Anderen), die “überindividuelle symbolische Ordnung der Diskurse” und die Interessenlage für semantische Akzentuierungen beim Begriff der Grenze bzw. der Grenzüberschreitung kenntlich zu machen. Wenzel sichert ihre Unternehmung gründlich ab und geht behutsam (bzw. vor- und umsichtig) vor. Das theoretische Marschgepäck mag das Voranschreiten verlangsamen, aber eine Überlastung für den Leser oder für ihr Vorhaben entsteht nicht. Mit einen “Dreischritt” wird 1. die “Bedeutungsvielfalt des Begriffs Grenzüberschreitung” aufgezeigt, 2. eine Verknüpfung mit theoretischen Konzepten vorgenommen und 3. eine Begriffsneubestimmung entwickelt (20). Ihre “Neubestimmung des Begriffs Grenzüberschreitung” soll nicht ein “kompletter Neuentwurf” sein, sondern zur “Dynamisierung und Verschiebung des bestehenden Konzepts von Grenzüberschreitung” (21) beitragen.
Zunächst wird von ihr dabei der Begriff der Grenze mit seinen Ambivalenzen untersucht. Sie konzentriert sich auf die Unterscheidung von “territorialen Grenzen”, “gesellschaftlichen Grenzen” und “Grenzen des Kunstfeldes”. Mit Bezugnahmen auf relevante Theoretiker einerseits und mit Beispielen aus der Praxis andererseits vermittelt Wenzel Einblicke aus verschiedenen Perspektiven. Pierre Bourdieus Kulturtheorie kommt mehrfach (beispielsweise im Hinblick auf Fragen zur Definitionsmacht über das Kunstfeld) zur Geltung. Nicht immer ist klar erkenntlich, ob Wenzel die aufgegriffenen Positionen unterstützt oder kritisch zurückweist. Sie demonstriert jedenfalls eine breite Kenntnis und erwirbt sich nebenbei ein eigenes Vokabular bzw. kunsttheoretisches Instrumentarium. Im Hinblick auf die künstlerisch relevanten Grenzüberschreitungen gibt sie einen guten Überblick. Es wären natürlich auch andere Darstellungsweisen denkbar, aber ihre Einteilung in “acht Bewegungen von Grenzüberschreitungen” ermöglichen es, einige neuralgische Punkte anzusprechen. Hierbei werden zugleich maßgebliche kunstgeschichtliche Etappen nachgezeichnet bzw. in Erinnerung gerufen. Zuweilen stellt sich der Eindruck ein, dass Aspekte angesprochen werden, die längst überwunden sind bzw. als erledigt gelten. Aber tatsächlich besteht ja gerade im künstlerischen Feld die Möglichkeit, solche (scheinbar) antiquierten oder anachronistischen Ansätze und Konzepte zu reanimieren, neu zu akzentuieren oder wieder ins (veränderte) Spiel zu bringen.
Nicht ganz klar ist bei Wenzel die (partiell übernommene) Bestimmung von Kunst und anderen ästhetischen Praktiken. Es werden von ihr (bzw. von den Referenzautoren) z. B. Design, Mode, Architektur usw. (zustimmend) im Bereich der „angewandten Künste“ (64) - also noch innerhalb der künstlerischen Sphäre verortet. Später finden sich Darstellungen, bei denen diese Disziplinen jenseits der Grenze zur Kunst liegen und erst durch Grenzüberschreitungen tangiert bzw. berührt werden.
Eine der klassifizierten Grenzüberschreitungsbewegungen führt dahin, dass der Künstler zum „Cultural Worker“ mutiert. Nicht alle Bezugspunkte sind günstig. Mit Bezug auf Walter Benjamins Text „Der Autor als Produzent“ (1934) wird etwa Tretjakovs Modell vom >fortschrittlichen Schriftsteller< als exemplarisch angeführt (71 f.). An dieser Stelle würde jedoch schon die alte Tretjakov-Kritik von Gottfried Benn (vgl.: “Die Neue Literarische Saison. Rundfunkvortrag in Berlin am 28. August 1931“) die so geknüpften sinnstiftenden Fäden jäh zertrennen. Überzeugender wird von Wenzel diejenige grenzüberschreitende Bewegung skizziert, die auf „Skandal, Tabubruch und Provokation“ hinausläuft (75). In Anlehnung an Gustav Seibt lautet ihr Befund: „Um öffentliche Aufmerksamkeit zu bekommen, aber auch um gesellschaftliche Zustände anzuklagen, brechen Künstler Tabus, verursachen Skandale und öffentliche Provokationen. Durch die Angriffe auf Moral-, Scham- und ethische Grenzen werden gesellschaftliche Grenzen, Normen und Tabus sichtbar und öffentlich verhandelbar […]. Die Künstler dringen dazu in jene Grenzbereiche vor, >wo Lust und Schrecken ihre maximale Amplitude versprechen, oder da[hin], wo die Sinne noch jung und unabgestumpft sind<“ (75). Freilich stellt sich im vorderen Teil der Arbeit die Frage, ob radikale künstlerische Provokationen im letzten Jahrzehnt überhaupt noch signifikante öffentliche Empörung hervorrufen konnten. Leser, die (z. B. im Hinblick auf den „schwer ertragbaren semantischen Schwebezustand“ bei künstlerischen Zeichenoperationen) an dieser Stelle etwa den Namen Christoph Schlingensief vermissen, sollten sich bis zum Kapitel 2.5 gedulden. Dort (176) ist die Analyse dann auch so weit vorangetrieben (und mit Praxisbeispielen untersetzt), dass z. B. eine Klassifikation von „Informationskunst“, „Impulskunst“ und „Interventionskunst“ vorgestellt werden kann. Wenzel reichert ihre Darlegungen mit mehreren Exkursen an. Aufschlussreich sind schon die Streiflichter, die auf Joseph Beuys und Olafur Eliasson (77 ff.) geworfen werden, da mit diesem Vergleich veränderte Produktions- und Rezeptionsbedingungen durchscheinen und an bestimmte Dilemmata herangeführt wird, welche mit den auffälligen und weniger auffälligen Grenzüberscheitungen verbunden sind. Es drohen nämlich die Gefahren: „der Kommerzialisierung, der Beliebigkeit im Mainstream, der Vereinnahmung durch die Politik und der Instrumentalisierung für Stadtmarketing und Sozialarbeit“ (81). Eigentlich dürfte es kaum verwundern, dass Kunstprozesse ihren Charakter verändern, wenn sie in Räume vordringen, die jenseits des traditionell legitimierten Spielfeldes liegen. Dort wird nämlich künstlerische Kommunikation nicht so gut vor Übergriffen geschützt und leichter anderen Regeln bzw. Zwecken unterworfen. Die Überschreitung von Kunstgattungsgrenzen im Binnenraum der künstlerischen Sphäre war schon nicht unproblematisch (Wenzel verweist u. a. auf Adornos Position), aber im Alltagsleben und in kulturindustriellen Kontexten wächst die Gefahr, dass Kunst ihre spezifische Qualität nicht nur wandelt, sondern verliert. Eine Diagnose lautet: „Letztlich kann alles zur Kunst werden, denn es handelt sich lediglich um eine Zuschreibung von außen, ob etwas als Kunst gilt oder nicht. Der Begriff wird beliebig, ökonomische oder rationale Kriterien gewinnen an Einfluss.“ (93) Schließlich wird „auch das ‚Innen’ (die Kunst-Institution)“ zur Gefahr, wenn es durch Institutionalisierung „zu Stillstand und einem Verlust von kritischer Distanz kommt“ (96).
Angesichts dieser Misere insistiert Wenzel quasi auf den “zwanglosen Zwang des besseren Arguments” (Habermas) und versucht, dem “Anything Goes” (Feyerabend) etwas Verbindliches entgegenzusetzen. Hierzu werden im Folgenden quasi mit dem “Motiv der kooperativen Wahrheitssuche” (Habermas) philosophische Konzepte gesichtet, die alternative Paradigmen bieten oder Anregungen für einen zeitgemäßen kunsttheoretischen Diskurs bzw. für innovative Funktionsbestimmungen der (politisch engagierten) Kunst geben können. Wenzel favorisiert hierbei die poststrukturalistischen Denker, denn diese zeichnen sich (trotz aller Unterschiede zwischen ihnen) durch folgende Punkte aus, die sie latent gemeinsam haben:
„a) Die Auflösung binärer Oppositionen und des dichotomischen Denkens bei Betonung der Hybridität, Vielschichtigkeit und der Interdependenz von Politik und Ästhetik.
b) Die Hinwendung zu einer zeitlichen und räumlichen Erweiterung der Überschreitung sowie die Betonung der Differenz, der Kontingenz des Sinns, der Schwellen- und Zwischenräume.
c) Die Frage nach dem Gesellschaftsbezug und dem subversiven Potential von Kunst und Kultur.
d) Die Interdisziplinarität der Vorgehensweise und Reflektion der und Intervention in die Form“ (99).
Bedeutsam für Wenzels Betrachtung ist sodann folgende Differenz zwischen Bataille und Deleuze, bei der das „Umdenken des Begriffs der Grenzüberschreitung deutlich“ wird, das sie in ihrer Arbeit herauszuarbeiten versucht: „Nicht das Darüber-hinaus-gehen ist entscheidend wie noch bei Bataille, sondern das Unterbrechen, Infragestellen und gleichzeitige Dynamisieren der Grenzbewegung bei Deleuze“ (100).
Die Autorin knüpft eine Kette, deren Glieder u. a. die Namen George Bataille, Michel Foucault, Roland Barthes, Jacques Derrida, Gilles Deleuze / Félix Guattari, Jacques Rancière und Giorgio Agamben tragen und destilliert aus den damit verbundenen Konstrukten geeignete Komponenten, um ihre Begriffsneubestimmung zu entwickeln. Sodann werden auch der “Postkoloniale Diskurs” (126), das “Konzept der Tranversalität” (129), der “Begriff der Ambivalenz” (131) und die Bezeichnungen “das Zaudern” und “die Schwelle” (132) zur Erkenntnisanreicherung herangezogen. Die Versuche, mit der radikalen Pluralität oder Heterogenität umzugehen, die seit der Moderne vorhanden ist, führen dazu, dass Grenzen “nicht länger Symbole des Trennenden, sondern des In-Beziehung-Setzens” sind (134). Zielsicher gelangt Wenzel zum Herzstück ihrer Untersuchung. Dabei sind u. a. Holger Kube Ventura, Gerald Rauning, Maria Muhle und Judith Butler verlässliche Lotsen.
Im 2. Teil werden Grenzbewegungen zum Gesellschaftlich-Politischen von den Avantgarden bis zu den 90er Jahren betrachtet. Wieder bringen insbesondere die Bezüge auf Deleuze und Rancière produktive Aufschlüsse. Bemerkenswert ist z. B. der Befund, dass die in den 90er Jahren forcierten “interventionistischen, störenden Kunstpraxen durch eine Vervielfältigung und Mikropolitisierung” inzwischen relativiert wurden und die Ansätze “ihren dogmatischen und aufklärerischen Duktus” (195) verloren haben. Das Verhältnis von Kunst und Politik “wird nicht länger als antagonistisches gedacht wie bei den historischen Avantgarden, als sich die Künstler als Vorhut und Feinde der trägen Massen verstanden, oder wie in den 60er Jahren als sie Teil der Gegenkultur waren” (195). Gesten der “Ablehnung und Dissidenz”, Einteilungen in “Innen und Außen, in Freund und Feind” oder auch die “strikte Trennung von Kunst und kapitalistischer Logik” verlieren an Relevanz - es “deutet sich ein Ende der Radikalität, der Negation und der aggressiven Grenzüberschreitungen an” (196).
Verschiedene Aspekte konnten in dieser Arbeit nicht oder nicht tiefschürfend behandelt werden, aber meist führt Wenzel an anregende Fragestellungen heran. Beispielsweise dürfte die Frage der Autonomie der Kunst viele Gemüter bewegen. Da in den 90er Jahren Autonomie „erneut als negative Kategorie verstanden“ und bekämpft wurde (233), versucht Wenzel (mit Bezug auf „Rauning, Adorno und Rebentisch“) ein „Zusammendenken von Autonomie und Gesellschaftsbezug“ herauszuarbeiten. Es werden „Beispiele für eine Erweiterung und Vergesellschaftlichung des Begriffs der Autonomie genannt.“ (236). Erfreulich ist, dass nicht nur prominente Namen (aus Frankreich) fallen, sondern auch Vertreter einer jungen Generation von (Kunst)Wissenschaftlern wie Juliane Rebentisch zu Wort kommen und gut durchdachte (Hypo)Thesen zur Geltung bringen.
In einer bestimmten Hinsicht könnte man behaupten, die Arbeit von Wenzel ist >grenzwertig< - und zwar in dem Sinne, dass dieser Ausdruck, der im konventionellen Gebrauch überwiegend eine negative Konnotation besitzt, quasi dynamisiert, umgedreht oder semantisch verschoben wird, um den Wert zu zeigen, welcher in Grenzräumen generiert wird. Wenzel macht deutlich, „dass Grenzüberschreitungen nicht an Aktualität und Bedeutung verloren haben“, plädiert aber ausdrücklich „für ein Umdenken von Grenzüberscheitungen […,] für ein Verständnis […], das nicht mehr die Überschreitung der Grenze in den Mittelpunkt stellt, sondern Prozesse auf der Grenze“ (264) bzw. Manöver im Grenzraum. Die als wertvoll angesehenen Grenz-(Raum-)Bewegungen der Kunst sollen Dichotomien vermeiden, Überlagerungen bewirken und das strikte Entweder-Oder durch ein einfallsreiches Sowohl-Als-Auch ablösen. Herauslesen könnte man an manchen Stellen eine gewisse Angst vor Stillstand oder Entropie. Die Grenzbewegungen sollen nämlich unabschließbar sein; es geht um „das permanente Aufdecken, Sichtbarmachen“ und Dynamisieren der Grenzen (275); in „unabschließbaren Grenzbewegungen werden Verschiebungen und Brüche […] möglich“ (275); Kunst soll „sich in einen permanenten Werden […] befinden“ (275); „Grenzbewegungen als unabschließbare Bewegung auf und an den Grenzen lassen sich in diesem Sinne als permanente Verunordnung beschreiben, die Spannungen herstellen, feststehende Meinungen unterlaufen und heterogene Sphären zum Oszillieren bringen” (275); insbesondere „der Kunstbegriff wird beweglich gehalten und beständig hinterfragt“ (275); auch geht es um „eine Haltung der permanenten Suche nach Formen des Nicht-so-regiert-werden“ (275). Diese (geballt auf Seite 275 anzutreffende) eindringliche Betonung der Permanenz und Unabschließbarkeit muss kein Symptom für eine Schwachstelle sein. Das Insistieren auf unaufhörliche oder unabschließbare Dauerbewegungen ist durchaus verständlich, aber gar nicht so dringend, denn irgendwie geht es sowieso immer weiter. Auch wenn man z.B. Wenzels Buch schließt, läuft (bewusst oder unbewusst) das Nachdenken weiter. Es geht der Autorin also zurecht um den Prozesscharakter von Kunst und von Grenzüberschreitungen. Sie hat anfangs auf Heidegger angespielt, und bemerkt, dass die Grenze das "Ruhende [...] in der Fülle der Bewegtheit" und ein Ort des Streites ist, weshalb sie auch die Grundlage für Prozesse bildet, welche Kunstwerke konstituieren (26). Heidegger hat einst den Ausdruck “Schließung der Metaphysik” geprägt. In diesem Sinne könnten nun aber andererseits sogar (nicht-metaphysische) künstlerische Grenzbewegungen (ab-)geschlossen werden. Es ließe sich ferner darauf hinweisen, dass selbst die energischsten Grenzmanöver der Gegenwartskunst irgendwann einen Abschluss finden, zur Ruhe kommen und erst später wieder (mit anderen Konstellationen und Konfigurationen) neu starten.
Kunst kann die hegemoniale Politik oder die etablierte Gesellschaft auch dann wirksam stören und die verfestigten Verhältnisse in Bewegung (bzw. “zum Tanzen”) bringen, wenn sie die Kontrahenten zwischenzeitlich in Ruhe lässt. Oft genug ist die politische Klasse schon hyperaktiv genug und in der Gesellschaft werden mit inszenierter Betriebsamkeit reichlich Ressourcen verschwendet. Nach der 'totalen Mobilmachung' wäre nicht nur aus ökologischen Erwägungen eine partielle Demobilisierung für gesellschaftliche Entwicklungen vorteilhaft. Andererseits wird der ökonomische Druck der globalisierten Märkte ohnehin auch künftig für Dynamik sorgen und permanent Strukturen verändern. Die Impulse der Kunst müssen nicht unbedingt solche Bewegungen forcieren, sondern können durchaus auch auf Entschleunigung, Beruhigung oder Gelassenheit zielen.
Wenzel ist es im Kapitel 1.1 gut gelungen, einige Definitionen zum Terminus der Grenze aufzunehmen. Genauso gut hätte sie es vermocht, eine angemessene Bestimmung für den Begriff Bewegung aufzubereiten. Dazu wäre eventuell schon ein Rückgriff auf Aristoteles hilfreich gewesen. Die >kínēsis< hatte dieser antike Denker keineswegs auf eine Ortsbewegung von A nach B beschränkt. Aristoteles differenzierte beispielsweise zwischen Bewegungen, denen das Ziel inhärent ist und solchen, die ihr Ziel außerhalb haben. Er unterschied zwischen der quantitativen Veränderung, der qualitativen Veränderung, der Ortsbewegung und dem Prozess des Entstehens/Vergehens. Auch sein Konzept von dynamis und energeia oder seine Klassifikation von eigenständigen (quasi erotischen) Bewegungen, die ein Ideal anstreben, besitzen vermutlich durchaus Anregungspotenzial für aktuelle (kunst-)theoretische Überlegungen. Das gilt freilich erst recht für moderne Konzepte zur Bewegung (z.B. Konzepte zum Prinzip der Selbstorganisation – vgl. u.a. Cramer, Friedrich / Kaempfer, Wolfgang: „Die Natur der Schönheit: Zur Dynamik der schönen Formen“, Frankfurt am Main 1992).
Selbst wenn dieser hier skizzierte Wunsch nach einer Ergänzung berechtigt sein sollte, beleibt unbenommen die Würdigung, dass es Wenzel nicht nur gelungen ist, einzelne Begriffe und Stichworte herauszuarbeiten, sondern die Autorin hat auch Argumentationsmuster vorgestellt, die die kunsttheoretische Diskussion bereichern können. Die darin enthaltenen Kategorien und Syllogismen könnte man auch mit der Bezeichnung >Vokabular< fassen. Dabei gilt dann Richard Rortys Einschätzung, dass es „aus irgend einem Grund […] gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts möglich [wurde], den Akt der Neubeschreibung leichter zu nehmen als je zuvor. Es wurde möglich, mit verschiedenen Beschreibungen des selben Ereignisses zu jonglieren, ohne zu fragen, welche von ihnen die richtige sei - Neubeschreibungen als Werkzeuge anzusehen, nicht als den Anspruch, das Wesentliche entdeckt zu haben. Dadurch wurde es möglich, ein neues Vokabular nicht als etwas anzusehen, das alle anderen Vokabular ersetzen sollte, das den Anspruch auf Darstellung der Realität erhob, sondern einfach als ein weiteres Vokabular, noch ein von Menschen gemachtes Projekt, eine Metaphorik, für die sich eine Person entschieden hat.“ (RORTY: Kontingenz, Ironie und Solidarität. 1989, S. 77).
Anna-Lena Wenzel hat sich mit guten Gründen für bestimmte Beschreibungsweisen der Grenz-Dynamisierung entschieden und brauchbare Werkzeuge hergestellt. Denjenigen, die im gläsernen Gehäuse der Kulturbürokratie oder in Kunstinstitutionen sitzen, vermittelt sie Impulse zur (selbst)kritischen Reflexion. Auch den Nomaden, die im offenen Gelände der Kunst umherziehen, könnte ihr Buch gelegentlich als Kompass dienen. Fazit: Wenzels Behandlung der Grenzüberschreitungen in der zeitgenössischen Kunst ist anregend, das heißt: vermittelt Fachwissen, ruft kunsthistorische Etappen in Erinnerung, provoziert in einigen Punkten Einwände und führt zu weiterreichenden Fragen.
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