Rezension | Kulturation 1/2003 | über Badstübner, Evemarie (Hrsg.): Befremdlich anders | Dietrich Mühlberg | Fünf Anmerkungen zum Buch über das "Leben in der DDR" Rezension anläßlich der Präsentation des Buches "Befremdlich anders. Leben in der DDR",
erschienen im Karl Dietz Verlag Berlin. Kulturwissenschaftliche Diskussion der KulturInitiative '89, 8. November 2000
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1. Warum dieser Titel?
Mit dem Titel "Befremdlich anders" schielen die Macher ein wenig nach dem Markte, doch nicht nur das. Tatsächlich hat der Gang der Dinge vielen Ostdeutschen das eigene Leben "verfremdet". In ostdeutschem Verständnis begann 1990 das Leben in einer anderen Gesellschaft, in der so gut wie Nichts von dem fortgesetzt wurde und werden sollte, was eigene Herkunft war. Das frühere Leben liegt hinter uns, gehört einer Geschichte an, die nun "aufgearbeitet" wird.
Fremd ist es nun in doppeltem Sinne: 1. Wir haben Distanz zu ihm gewonnen und Vieles ist uns selbst so fremd geworden, dass wir es beinahe nicht mehr wahrhaben wollen. 2. Und es ist uns fremd, was die professionellen "Aufarbeiter" uns als unser Leben in der Diktatur präsentieren. So soll es gewesen sein? Blicke ich als Westdeutscher auf den Alltag im Osten, so kann ich mich fragen, wie es mir dort "ergangen" wäre. Ich kenne den Spruch "vom wahren Leben im Falschen", hege aber den begründeten Verdacht habe, dass dort auch falsch gelebt worden ist, mir jedenfalls solch ein Leben fremd bleibt. Ich will anerkennen, dass die Mehrheit der Ostler heute richtig leben möchte, aber alle lernen das wahrscheinlich nie, die meisten bleiben befremdlich anders. Es wird das sicher übertrieben, aber etwas ist schon dran: sie sind ohne wirkliche Einsicht in ihre Verfehlungen, eher unbeweglich, vielleicht sogar faul, aber fordernd, gewalttätig, demokratiefeindlich usw. Sicher ist, dass sie keine politische Kultur haben, über Lebensstil reden wir lieber nicht.
2. Warum Geschichte des Alltagslebens?
Hier muß nicht die große Bedeutung erläutert werden, die die Geschichte in Gesellschaften ohne erkennbare Zukunft hat. Hier werden die Traditionen gepflegt, wird am "kulturellen Gedächtnis" gebastelt. Aber gerade in diesem Punkte sind die gemeinschaftsorientierten Ostdeutschen in einer besonders prekären Situation. Sie haben kein übergreifendes Ziel, keine Visionen mehr. Weder können sie heute noch einen besseren Sozialismus wollen, noch dessen Untergang herbeisehnen. Was also könnten sie wollen? Dass die Renten erhalten bleiben, die Mieten und der Benzinpreis nicht weiter steigen, möglichst wenige Kampfeinsätze zur Verteidigung der Menschenrechte stattfinden? Das alles wäre schon was, heißt aber auf gut deutsch nur: es soll sich nicht verschlechtern.
Und in dieser Zeit und Welt ohne übergreifende Ziele, ohne Visionen wird ihnen das "kulturelle Gedächtnis" verwehrt. Traditionslos stehen sie im sozialen Raum, weil ihnen eine eigene Erinnerungskultur ausgerechnet zu einer Zeit verwehrt, in der in Europa ein tiefgreifender kultureller Wandel stattfindet, bei dem die zukunftsgewandte Utopie von der Topographie der Erinnerung abgelöst wurde und wird und Selbstbewusstsein vor allem Traditionsbewusstsein ist.
Herbert Pietsch zitiert in seinem Beitrag zum Totengedenken eingangs Jan Assmann zum Konstrukt des kulturellen Gedächtnisses: erinnert wird, was bedeutsam war, was erinnert wird, war bedeutsam. Den Ostdeutschen wird ein kulturelles Gedächtnis, ein professionelles Bild ihrer Vergangenheit verwehrt, es wird auf dem Niveau der Laienpraxen gehalten. Als sog. „Ostalgie“ ist diese „symbolische Laienpraxis“ (Thomas Ahbe) hinreichend beschrieben worden. Kulturell verfügen die Ostdeutschen nur ansatzweise über ein funktionierendes Medium der Aneignung, der inneren Verständigung, der Präsentation und Mitwirkung, der Selbstdarstellung innerhalb der dominanten, westdeutsch geprägten Kultur. Verursacht wurde dieses Defizit durch das Aufgeben eigenstaatlicher Strukturen, durch den Verlust aller Organisationen und Kommunikationsnetze und durch die Ausschaltung ihrer Funktionseliten.
Bei dieser Sachlage kann nur sehr bedingt von der Existenz einer „ostdeutschen Teilkultur“ gesprochen. Dennoch: es nimmt die Zahl der eigenen Institutionen, Projekte und Kommunikationsnetze, der Bücher, Bilder, Filme und Theaterstücke, der sozialen Analysen und politischen Konzepte zu, mit denen Ostdeutsche versuchen, selbständig in die Öffentlichkeit der Bundesrepublik zu treten. Das gelingt noch selten. Dieses Buch über das Alltagsleben ist ein solcher Versuch, sowohl den Erinnerungen der Vielen im Osten Interpretationsangebote zu machen als auch möglichen westdeutschen Lesern das frühere Leben der Brüder und Schwestern nahe zu bringen.
3. Ist es politisch korrekt, die deutsch-deutschen Unterschiede in der Lebensweise herauszustellen?
Über sie wird ja geredet und sie sind - so die Ostdeutschen in der bundesdeutschen Öffentlichkeit vorkommen - ein herausragendes Thema. Die Unterschiede nicht nur klar herauszustellen, sondern auch ihre Hintergründe und Zusammenhänge aufzuklären, das dient in doppeltem Sinne der Annäherung der Deutschen. Einmal könnte es bei Westdeutschen - obwohl der Ostdeutsche gerade kein quotensteigerndes Thema ist - also: bei nachdenklichen Westdeutschen, das Verständnis für ein gewisses Anders-Sein der Ostdeutschen erweitern. Und es könnte zweitens bei Ostdeutschen ein bewussteres, vielleicht sogar historisch-kritisches Verhältnis zur eigenen Vergangenheit bewirken und damit auch zum selbstbewussteren Umgang mit den heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen. Insofern richtet sich das Buch - es ist ja ein Rückblick von heutiger Position - auch gegen die Vorstellung von der "inneren Einheit" der Deutschen. Denn "innere Einheit" ist ja nichts anderes als die Forderung an die Ostdeutschen, sich freudig der westdeutschen Leitkultur anzupassen.
Das ist ja weitgehend geschehen, jedoch nicht als Garderobenwechsel, sondern als ein Aneignungsprozeß, bei dem die eigene "Kultur" modifiziert wurde. Die Identität als Bürger der neuen Bundesrepublik beruht darauf, sich der eigenen Art und Besonderheit bewusst sein, sie zu nutzen (und darum auch zu verteidigen). Der kritische Einwand, es ginge doch darum, die "innere Einheit" herzustellen, enthält - kaum versteckt - die Vorstellung, dass "wir Deutschen" ja ein Volk sind. Vielleicht sollten wir uns an den alten DDR-Terminus "Staatsvolk" erinnern. Das sind wir zweifellos, doch jenseits dieser politischen Einheit beginnen bekanntlich die sozialen und kulturellen Unterschiede. Vor allem die kulturelle Verschiedenheit ist ein Glücksfall. Und wir können uns dazu gratulieren, dass wir keine "innere Einheit" haben. Denn das hieße ja wohl, alle Deutschen haben sich um ihre Leitkultur nach innen zusammengeschlossen.
4. Ist solche rückwärtsgewandte Betrachtung überhaupt aktuell?
Wenn die Transformation der Ostdeutschen ein kultureller "Aneignungsprozeß" ist, so folgt daraus, dass die besondere ostdeutsche Kulturgeschichte zwei große Phasen hat. Das ist erstens der Übergang in eine sozialistische Gesellschaft zwischen 1948 und 1990, zweitens ist das der Übergang in eine kapitalistische Gesellschaft zwischen 1990 und etwa 2020. Diese Periodisierung stützt sich auf die Beobachtung, dass die Umwandlung aller Lebensformen eine zeitliche Dimension von etwa drei Generationen hat. Das wird auch nicht durch die Studien relativiert, die für viele Verhaltensbereiche ein schnelle Annäherung nachgewiesen haben. Besonders Jugendstudien belegen - was ja zu erwarten war - viele Angleichungen in Lebensformen und Gesellschaftsvorstellungen von Jugendlichen. Doch immer dann, wenn die Forscher ausdrücklich nach Ost-West-Unterschieden suchen, sind sie bei den jüngeren Altersgruppen in einigen wichtigen Themen sogar ausgeprägter als bei denen, die über Jahrzehnte in der sozialistischen DDR gelebt haben. Immer dann wird deutlich, dass es sich beim "Leben in der DDR" nicht um eine ferne, versunkene Vergangenheit handelt, sondern viele kulturelle Praxen und Wertvorstellungen in stark modifizierter Form noch höchst lebendig sind. Ihren historischen Hintergründen nachzuforschen dürfte darum auch eine "Gegenwartsaufgabe" sein.
5. Von Texten, die mich gleich beeindruckt haben.
Das Buch ist sehr dick geworden, dennoch fehlt weit mehr als darin berücksichtigt werden konnte. Die Gründe hat Evemarie Badstübner in der Einleitung erläutert. Ich möchte nicht das Fehlende beklagen, sondern auf Texte aufmerksam machen, die ich mit besonderem Vergnügen und Gewinn gelesen habe. Auf keinen Fall sollte man Siegfried Grundmanns Einführung in die Sozialstruktur der DDR überblättern. Als Spezialist für Arbeiterkultur war ich von den ungewöhnlich anschaulichen und materialreichen Studien zum dörflichen Alltag beeindruckt. Hoch verdichtet der Beitrag zum Umgang mit den toten Wehrmachtssoldaten, angemessen der kulturellen Dimension von Totengedenken. Spannend nachzulesen, auf welche Schwierigkeiten bei den jungen Leuten die Einrichtung bewaffneter Einheiten gestoßen ist. Ein Musterbeispiel für die alltagsgeschichtliche Aussagekraft von örtlichen Quellen bietet das von Jochen Czerny kommentierte Protokoll der Gewerkschaftsversammlung einer Abteilung des Reichsbahnbaubetriebs Cottbus: "Mitgliederversammlung am 18. 06. 1953 infolge Streiks". Aber auch da, wo Isolde Dietrich den Zusammenhang zwischen Kleingärten und marxistisch-leninistischer Kampfpartei flächendeckend erläutert, bleibt es dicht am Alltagsleben. Ganz ähnlich, wenn Felix Mühlberg materialreich darüber berichtet, warum und wie die Bürger der DDR jährlich fast eine Million mal ihre individuellen Nöte über eine Eingabe öffentlich gemacht haben und um welche Bedrängnisse es sich dabei handelte. Vielleicht konnten diese sehr subjektiven Empfehlungen andeuten, dass bei vierundzwanzig Beiträgen wahrscheinlich jeder Käufer des Buchs als interessierte Leser auf seine Kosten kommen wird.
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