KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
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RezensionKulturation 2020
über Birgit Mandel und Birgit Wolf:
Staatsauftrag: „Kultur für alle“. Ziele, Programme und Wirkungen kultureller Teilhabe und Kulturvermittlung in der DDR
Horst Groschopp
Ein Bericht über die DDR als Kulturstaat
Bielefeld: transcript Verlag 2020, 306 S. 25.- €
Schriften zum Kultur- und Museumsmanagement ISBN 978-3-8376-5426-4
Hier ist das Buch bestellbar: https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-5426-4/staatsauftrag-kultur-fuer-alle/

Ab Herbst 1962 fanden in Zwickau meine Vorbereitungskurse auf die Jugendweihe statt, die im März 1963 feierlich erfolgte als Kulturprogramm mit einem bestimmten „weltlichen“ Ritus. Zu dem vorherigen Lehrgang mit zehn Themen gehörte eine Besichtigung des Konzentrationslagers Buchenwald, die Teilnahme an einer Gerichtsverhandlung (es ging um einen Diebstahl) und ein Theaterbesuch, der erste in meinem noch jungen Leben. Wie ich, so gehörten auch die anderen in meiner Klasse mehrheitlich zu den Adressaten der „vielfältigen Maßnahmen der DDR-Kulturarbeit“, die „aus heutiger Perspektive auf eher ‘kunstferne’ Gruppen zielten“. (S. 12)

Auch andere Schulen absolvierten diese Ordnung landesweit, je nach Ortsgegebenheiten. Das Programm erfasste also tausende Jugendliche je Jahrgang an der Schwelle zum Erwachsenenstatus während des 8. Schuljahres. Folgt man dem vorliegenden Buch, würde der „Zentrale Ausschuss für Jugendweihe“ zu den großen „Kulturermöglichern“ gehören. Es stellt sich die Frage, warum er „vergessen“ wurde, wenn sonst nahezu nichts und niemand vergessen wird. Vom Zentralkomitee der SED werden abwärts nahezu alle Institutionen vorgestellt (vgl. S. 24-32). Aber vielleicht wurde er bei „gesellschaftlichen Massenorganisationen“ mitgedacht oder galt als schulische Einrichtung. Jedenfalls werden auch die Pionierhäuser gewürdigt (vgl. S. 48).

Das Buch ist in fünf Kapitel gegliedert. Auf eine Beschreibung der Kulturpolitik und ihrer Institutionen erfolgt eine Diskussion der These „Kultur für alle und von allen“ als Auswertung von 32 Interviews. Dann kommt eine Analyse von achtzig Interviews zu persönlichen Erlebnissen im System der Kulturarbeit. Schließlich wird die „Kulturvermittlungsarbeit“ dreier herausragender Einrichtungen vorgestellt. Am Schluss stehen die „Erkenntnisse und Impulse für aktuelle Diskurse einer teilhabeorientierten Kulturpolitik und Kulturvermittlung‘‘. Alle Kapitel besitzen am Ende eine Zusammenfassung, das letzte Kapitel ein Schlusswort. Ein zweiter Anhang gibt ein Literatur- und Quellenverzeichnis.

Wenn man ein Buch in die Hand nimmt, dass sich einem Gesamtblick auf die „kulturelle Teilhabe und Kulturvermittlung in der DDR“ widmet und dabei „Westbegriffe“ auf Ostgeschichte anwendet, um sie aktuell zu erklären, liegen sowohl eine nachträgliche Legimationen der DDR-Kulturarbeit als auch Irrtümer nahe, die aus anderem Wortschatz folgen. Es werden zum einen immer wieder Belege aus offiziellen Texten zitiert, etwa dem „Kulturpolitischen Wörterbuch“, wobei leider nicht auf die Unterschiede der einzelnen Auflagen eingegangen wird, die auf konzeptionelle Brüche verweisen.Tatsächlich drängt sich Seite für Seite der Eindruck des positiven Erstaunens der Autorinnen auf, ein Bild, dass sie allerdings unbedingt vermeiden wollen und deshalb immer wieder entsprechende relativierende Einschübsel vornehmen.

Birgit Mandel und Birgit Wolf folgen in ihrem konzeptionellen Herangehen weitgehend Gerd Dietrichs dreibändiger Studie zur Kulturgeschichte der DDR aus dem Jahre 2018. Auch sie sehen die DDR als „ambivalentes“ System. Die angerufenen zahlreichen Fachleute (vgl. Anhang mit zahlreichen Expertenurteilen und Zeitzeugen, die nach ihren Berufen ausgesucht sind, vgl. S. 215-291) betonen ihre spezielle Sicht und bringen die Erlebnisse ihrer je persönlichen teilnehmenden Beobachtungen ein.

Es wurde hier ein beachtlicher Aufwand getrieben, wahrscheinlich ein Archiv gegründet. Das Ergebnis ist ein sachlicher Bericht über ein außerordentliches Geschehen: Ein kleiner Staat strengte sich an, sein Volk über drei Generationen auf die „Höhen der Kultur“ zu führen. Doch diese drei Worte haben es in sich: Da weiß jemand, was in der Kultur oben ist; „der“ sagt, es gäbe nur diese eine Kulturhöhe zu erstürmen; und „Kultur“ ist klar bestimmt als „Hochkultur“.

Dabei zeigt doch gerade die DDR-Kulturgeschichte das Gegenteil: Die „Höhen“ waren subjektiv definiert und historisch tradiert. Nach dem Ende der DDR wurden dort noch ganz andere Kulturbereiche entdeckt, die Gruß-, Nackt-, „Trabant“-Kultur und andere. Ein Buch, dass diese beschrieb, hieß „Befremdlich anders“. Wieder andere heben noch ganz andere Kulturbereiche hervor. So habe der Atheismus in der DDR den höchsten Rang in der Welt erklommen und sei kulturbestimmend geworden. Das hatte sehr viel mit der DDR-Kulturarbeit zu tun.

Da sich die beiden Autorinnen scheuen, den ihrer Arbeit zugrundeliegenden Kulturbegriff qualitativ zu bezeichnen, kann auch nicht die „Kulturarbeit“ hinreichend bestimmt, vor allem nicht eingehegt werden. Erklärungen erfolgen in immer weiteren Anwendungen der Formel von der „Kulturermöglichung“, worauf zurückzukommen ist. Mandel und Wolf sind das ganze Buch über sichtbar fasziniert von den gesellschaftlichen Dimensionen der DDR-Kulturarbeit. Wie in die Detailerzählungen die „Diktatur“ in der DDR einzuordnen ist, bereitet immer wieder Probleme, wohl auch, weil sie von den Akteuren der Kulturarbeit als „Schwierigkeiten“ erlebt und beschrieben werden, deren Überwindung aber Erfolgserlebnisse beschert. So entsteht dann folgendes Gesamturteil:

„Positiv wird von vielen Befragten ein chancengerechter, niedrigschwelliger und kostengünstiger Zugang zu Kunst und Kultur erwähnt, der allen die gleichen Grundlagen ermöglichte. Negativ wird bewertet, dass damit auch ein gewisser Zwang und ein politischer Zweck einher ging. Vor allem von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen der Intelligenz, also mit akademischem Hintergrund, werden rückblickend der weitgehend barrierefreie Zugang zu Kunst und Kultur sowie die Förderung als positiv betrachtet. Sie sehen in der Finanzierung von Künstlern und Kulturschaffenden durch den Staat einen großen Vorzug des DDR-Kultursystems.“ (S. 174; ähnlich S. 143, 146 u.a.)

Ähnlich fällt auch das Schlusswort aus (vgl. S. 212 f.). Doch wird in ihm nun festgehalten, dass das ambitionierte Programm „trotz vielfältiger und flächendeckender, niedrigschwelliger Vermittlungsbemühungen nicht gelang“, weil „kulturelle Interessen durch soziale Lebenslagen unterschiedlich ausgeprägt werden“ (S. 212). In dieser Erkenntnis spiegelt sich die Tragik des Unternehmens DDR und ihres Systems der Kulturarbeit. Das aufwändige Programm ging am Leben der meisten Leute vorbei, je älter die DDR wurde, desto mehr. Immer dominierender seien moderne Medien und Unterhaltungssendungen und -programme in den Vordergrund gerückt.

Das ambitionierte Konzept, das folgt daraus, war trotz immer größerer Investitionen gescheitert, noch zehn Kulturhäuser mehr hätten es nicht gerettet, hätte junge Arbeiter, die scharenweise in den Westen ausreisen wollten, nicht in der DDR gehalten. Die angestrebte „allseitige Persönlichkeit“ und die Heranführung eines jeden an die „Hochkultur“ sollte in der Freizeit körperliche Belastungen in der Arbeit durch geistige Aktivitäten ausgleichen. Obwohl für Arbeiter geschaffen und im Namen ihrer Klasse üppig bezuschusst, nutzten vor allem Angehörige der Intelligenz diese Angebote. Sie störten sich aber an den damit verbundenen ideologischen Vorgaben.

Im neuen Deutschland nach 1990 fielen diese Einschränkungen weg und die Institutionen der „Hochkultur“ der DDR lebten weitgehend fort, während die breiten- und soziokulturellen Einrichtungen wegfielen. So kann man, wie von den Autorinnen vorgeführt, die DDR zwar als ein großes Experimentierfeld („Modellprojekt“) der Heranführung an Kultur sehen, das aber – wie Mandel und Wolf das Scheitern begründen – keine „Kultur für alle“ schaffen konnte, zum einen, so die Autorinnen, weil das System staatlich organisiert war; und zum anderen, weil diese Kultur nicht „im Sinne eines freiheitlichen Kunst- und Kulturlebens“ funktionierte (vgl. S. 213).

In dieser Begründung lebt eine Illusion fort, die der „Kulturermöglichung“. Wenn diese Argumentation weitergedacht wird, dann könnte eine Kulturarbeit „im Sinne eines freiheitlichen Kunst- und Kulturlebens“, so ähnlich breit organisiert wie in der DDR, in der Bundesrepublik erfolgreich sein? Mitnichten, denn Freiheit bedeutet auch weitgehende Abwesenheit einer Kulturvorgabe, die eine Erziehungsrichtlinie ist.

Die DDR-Kulturarbeit lebte weitgehend in und vom in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufkommenden bürgerlichen Kulturerzieher-Bild, übersetzt: dem „Kulturermöglichungsprimat“. Praktisch hatte die Umsetzung viele Programme und reichte vom Kampf gegen die Schundliteratur bis zur Losung „Die Kunst dem Volke“. Weil dies ein hehres Ziel war, übernahm es die sozialdemokratische Arbeiterbildungsbewegung weitgehend.

Das DDR-Problem dabei war nicht nur, dass weniger die Kulturarbeit der Arbeiterbewegung der 1920er Jahre traditionsbildend war (vgl. S. 23) und weniger das kommunistische Erbe, wie Wolfgang Thierse meint (vgl. S. 216), sondern ein als fortschrittlich erkanntes und nun staatlich in großer Breite gefördertes bürgerliches Erziehungsprogramm, wie es von „Volks-“ und „Arbeiterwohl“ entwickelt und von Ernst Abbe in Jena und anderen woanders umgesetzt wurde.

Allein schon die Struktur war vorentwickelt, deren Umsetzung in den volkseigenen Betrieben sukzessive erfolgte (vgl. S. 37 f.); ganz abgesehen davon, dass die „Kulturdirektoren“ der späten 1940er Jahre mit diesem Vehikel die SED-Macht in den Betrieben herstellte.

Victor Böhmert, maßgeblicher Theoretiker von „Arbeiterwohl“ folgerte 1911: „Jeder Unternehmer sollte ... nicht nur das materielle, sondern auch das geistige und sittliche Wohl, sowie eine edle Geselligkeit und gesunde Lebensfreude unter seinen Arbeitern zu fördern suchen.“ In seinen praktischen Vorschlägen in der Zeitschrift „Arbeiterwohl“ hatte er schon 1892 all das vorgesehen, was die DDR-Kulturarbeit prägte: Fabrikfeste bei allerlei Jubiläen und Produktionserfolgen, Weihnachtsfeste und Feste anlässlich der Erstattung der Jahresrechnungen von Kranken- und Hilfskassen (in der DDR dann Jahresprämien etwa zum Tag des Bergmanns), Vortrags- und Unterhaltungsabende, Betriebsausflüge (etwa zu Kunst- und Gewerbeausstellungen), Urlaube, Arbeitergärten, Ferienheime des Betriebes, Volksbibliotheken, Lesehallen, Volkstheater, Volksunterhaltungsabende – und eben (betriebliche oder durch Betriebe geförderte kommunale) Volksheime, sprich Kultureinrichtungen.

Die DDR entstand nicht auf selbstgeschaffenen Voraussetzungen. Die nationalsozialistische Diktatur hatte ebenfalls ein System zur Förderung der „Betriebsgemeinschaften“ gerade im Krieg bis an seine Grenzen strapaziert und vorher „Kraft durch Freude“ entwickelt. Der große Irrtum der DDR-Kulturarbeit und der Grundkonzeption dieses Buches ist die Annahme, „Kultur für alle“ bringe Menschen Kultur.

Jeder Mensch hat schon vorher Kultur per individueller und gesellschaftlicher Sozialisation, er und sie und es leben in mindestens einer Kultur. Dies und die Vorherrschaft des Marktes auch in den Kulturbereichen anzuerkennen, prägte die Kulturpolitik in Westdeutschland. Betriebe entledigten sich dieser Angebote und die relativ selbständigen Kommunen ermöglichten ihrer Bürgerschaft die Kultur, die sie sich leisten konnten, denn der Staat fiel als Förderer weitgehend aus, der Bundesstaat sowieso.

„Kultur für alle“ war in den 1970ern eine Art Aufflackern des alten Programms, auch mit Blick auf die DDR. Es war eine zeitbedingte, sozial gemeinte Formulierung von Hilmar Hoffmann, bevor sich auch in Westdeutschland der Kulturbegriff zu wandeln begann. Die Konzeption erlebte als „Soziokultur“ eine Hochzeit, besonders in NRW, und es wurde 1990 ff. versucht, die DDR-Kulturarbeit als „Soziokultur“ zu beschreiben, um einigen Einrichtungen das Überleben zu sichern, meistens vergeblich.

Das Kulturerziehungsprogramm hatte sich historisch erledigt. Es erlebte in der DDR noch einmal Höhenflüge, bis es auch hier scheiterte, nicht nur am Untergang des Staates DDR. Das vorliegende Buch beschreibt eindrucksvoll die eingesetzten personellen und finanziellen Ressourcen, die von den Betrieben zu erwirtschaften waren. Manchmal setzten sich diese kurzzeitig durch, so vor dem berühmten 11. Plenum 1965, als Ulbrichts Jugendprogramm den Ausbau eigener „Gitarrenmusik“ mit elektrischer Verstärkung und Lautsprecheranlagen als Teil des „kulturellen Volksschaffens“ in Jugendklubs vorsah. Die Instrumente und das Zubehör hätten importiert werden müssen. Restriktionen und Verbote im ganzen Kulturbereich waren die Folge und lenkten von der Wirtschaftskrise ab.

Heute würde wohl niemand mehr „Kultur für alle“ formulieren, denn „Kultur zu ermöglichen“ setzt voraus, dass da jemand keine hat oder ihm oder ihr eine bestimmte, eine andere Kultur fehlt und es nötig ist und staatliches Programm sein sollte, dass Kulturbringer in helfender Mission unterwegs sind. Diese Konzeption hat in der Kolonialpolitik ebenso eine Rolle gespielt wie die These von der „Leitkultur“ in der Flüchtlingspolitik. Für eine Geschichte der DDR-Kulturarbeit folgt aus all dem eine radikalere Analyse als sie mit dem Buch vorliegt.

Die Gründe des Scheiterns noch einmal rückblickend bedenkend, sollte abschließend in dieser Rezension aber auch deutlich gesagt werden, dass die Lektüre des Bandes allen wärmstens zu empfehlen ist, die sich mit Kultur in der DDR fachlich oder erinnernd beschäftigen; zugleich ist erneut festzustellen, dass ähnliche Studien nach gleichen Kriterien für die alte Bundesrepublik noch immer fehlen, ein deutsch-deutscher Kulturenvergleich demzufolge noch aussteht und damit auch eine historische Einordnung der DDR-Kulturarbeit in die deutsche Kulturgeschichte.

Das gilt auch für die Anwendung bestimmter Begriffe, z.B. den des „Kulturarbeiters“. Dieser war in der DDR durchaus nicht üblich (anders vgl. S. 12). Mein damaliger Kollege Klaus Spieler und ich haben ihn erst 1983 auf einer Konferenz eingeführt (vgl. „Mitteilungen aus der kulturwissenschaftlichen Forschung 12/13) und 1987 ff. bei der Konzipierung eines entsprechenden Teilstudienganges der Kulturwissenschaft an der HUB angewandt. Daraus wurde 1990 ein ordentliches Nebenfach „Kulturelle Arbeit/Kulturpolitik“, allerdings im Sommer 1992 per Beschluss der Universitätsleitung wieder abgeschafft (vgl. Privatarchiv HG NL 1 K 1). „Kulturarbeiter“ drückte Gemeinsamkeit in der Vielfalt bestimmter Kulturberufe aus. Der Begriff meinte mehr als „Kulturarbeit“ im „kulturellen Bereich“, wie auch die Absolventen unserer Fachrichtung außerhalb davon „Kulturarbeit“ verrichteten; er schloss Künstler und Pädagogen ein.

Der Erfolg dieses Begriffes war erstaunlich, aber kurzlebig. Er wurde in der „Wende“-Zeit aufgegriffen vom „Verband der KulturarbeiterInnen“, der dem Denkfehler zum Opfer fiel, die DDR würde nicht in Länder mit ihren „Kulturhoheiten“ zerlegt werden. Der Adressat ihrer Forderungen verschwand und eine Überleitung der Kulturhäuser, Klubs usw. erfolgte nicht, schon gar nicht der betrieblichen. Parallel zu diesen Debatten erlebte der „Kulturarbeiter“ 1989/1990 einen ersten Erfolg im Westen, bei einer Stellenausschreibung des Kulturamtes Kreuzberg.