Rezension | Kulturation 2/2004 | über Axel Doßmann: Begrenzte Mobilität. Eine Kulturgeschichte der Autobahnen in der DDR | Dietrich Mühlberg |
„In Autobahnplänen lassen sich ganze Gesellschaftsentwürfe entziffern" Essen: Klartext, 1. Aufl. Sept. 2003, 431 S., 29,90 Euro | Autos und Autobahnen sind seit der Wirtschaftswunderzeit die Realsymbole westdeutscher Technik, Wirtschaftskraft und Mobilität. Die einschlägige Literatur - verklärend, sachlich oder kritisch - ist kaum zu überblicken. Wen aber soll ein Buch über Autobahnen in der DDR interessieren? Das Umschlagfoto appelliert an die Erinnerung des Transitreisenden: gerissene Betonplatten mit breiter Ölspur. Und ganz direkt beginnt der Klappentext: "Plaste und Elaste aus Schkopau - schon vergessen?" Er will werbend an jenes skurrile Monument ostdeutscher Eigenart erinnern, das einst die Ostrampe der Elbebrücke vor Vockerode zierte. Als es abmontiert wurde, hat es der schönsinnige Christoph Stölzl - einst auch Transitreisender, dann kurzzeitig Direktor des Deutschen Historischen Museum - erfolgreich für seine Berliner Asservatenkammer reklamiert. Auch die anderen Erinnerungen, die das Wort „DDR-Autobahn“ aufkommen lässt, sind eher sinnlicher Natur: grimmige Grenzer und Zöllner, Lysolgeruch, Kriechtempo, abkassierende Vopos, schmuddelige Raststätten, auf den Toiletten Plaste und Elaste. Tatsächlich haben viele Westdeutsche eine intensivere Beziehung zu den ostdeutschen Autobahnen, als deren Anrainer. Nur sie mussten diese vorgeschriebenen Transitwege einhalten und nur sie erlebten den Kontrast zur eigenen Hightech. Im Alltag der Ostdeutschen war das Erlebnis Autobahn weit weniger spektakulär und nur ausnahmsweise war man auf sie angewiesen, man konnten auch andere (schlechte) Straßen benutzen. Hat Axel Doßmann ein Buch für westdeutsche Leser geschrieben?
Ein wenig schon, denn er kennt die Unterschiede in den deutschen Erinnerungswelten (wie die Teilung des Buchmarkts) und hat als Medienautor durchaus ein Gefühl dafür, wer was wie lesen möchte. Zwar einst im Osten aufgewachsen, versteht er es inzwischen mit feinem Sinn für wechselseitige Vorurteile und für die Erfahrungshintergründe beider Seiten, sein reiches Material auszubreiten und zu kommentieren. Durch solchen Perspektivenwechsel wie durch einen Mix von Erklärungsmustern kann er die Neugier des Lesers über vierhundert Seiten wach halten. Ungewöhnlich für gedruckte Dissertation, bei denen Leserfreundlichkeit meist kein Gestaltungs- und Bewertungskriterium ist. "Das Buch ist für diejenigen geschrieben, die Spaß daran haben, mehr über die Vergangenheit jener großen Infrastrukturen zu erfahren, die unser alltägliches Leben mitbestimmen, unsere Zeit- und Raumvorstellungen prägen, uns Lust und Angst bereiten." Es "soll plastisch werden und vielschichtig bleiben, was Aufbauen, Planen und Beherrschen im Kontext von Autobahnen bedeutet haben". (S. 25)
Eine „politische Kulturgeschichte“ dieses wichtigen Segments der Infrastruktur nennt der Autor seine Arbeit. Und „Infrastrukturgeschichte ist ... der systematische Versuch, über die politischen, kulturellen und sozialen Dimensionen und Dynamiken aufzuklären, in denen Infrastrukturen in den Gesellschaften des 20. Jahrhunderts wahrgenommen, verwaltet, geplant und gebaut wurden." (S. 13) Um solch komplexes Bild zeichnen zu können, bedient sich Axel Doßmann verschiedener Methoden. Er nutzt vorliegende zeitgeschichtliche Darstellungen und ergänzt sie durch eine umfangreiche und vielseitige Archivarbeit, über die er eine Vielzahl interessanter Informationen erschließt.
Durch seine Zusammenarbeit mit Lutz Niethammer (dem als Mentor gedankt wird) ist er versiert in der Interpretation überkommener Texte (Verwaltungsakten, Parteiberichte, Brigadebücher, Eingaben) wie auch der selbst erhobenen (berufs)biographischen Interviews und Zeitzeugenberichte, die diese Geschichte sehr plastisch machen. So kann er auch gegen einschichtige Interpretationen polemisieren, etwa wenn er (auf Alf Lüdtke und Thomas Lindenberger verweisend) Armin Mitter und Stefan Wolle entgegenhält, dass das von ihnen vordergründig ausgewertete SED-Berichtswesen „mehr- und vieldeutig“ ist und zu anderen differenzierteren Schlüssen führt, wenn man danach fragt, „wie Akteure und Akteursgruppen ihre Arbeits- und Lebenssituation wahrgenommen und gedeutet haben“ (S. 212). So bilden die von der politischen Zeitgeschichte akzeptierten Quellen die profunde Basis, die alltags- und mentalitätsgeschichtliche Arbeitsweise aber ermöglicht es, deren Aussagewert deutlich zu steigern. Solchen Wechsel der Betrachtungsweisen und Objektebenen mag nicht jeder Leser goutieren und solche Grenzüberschreitungen als alles erklärende „kulturwissenschaftliche Besserwisserei“ missverstehen.
Diese vielschichtige "politische Kulturgeschichte" setzt bei den Auto-Strada-Projekten der Weimarer Zeit ein und erläutert dann wie der Autobahnbaumeister Fritz Todt sein Projekt zur Idee des „Führers“ gemacht hat. (Zwischenbemerkung: es ist noch unklar, ob der Gedenkstein, den dieser Reichsminister und Chef der „Organisation Todt“ jetzt gegen heftigen Widerstand auf dem Berliner Invalidenfriedhof erhalten soll, ihn für den Bau der ersten Autobahnen oder für den des Westwalls ehren wird.) Axel Doßmann erzählt in diesem ersten Abschnitt die Vorgeschichte des Autobahnbaus über ausgewählte biographische Skizzen wichtiger Promotoren des Großprojekts. Das erlaubt es, die technischen, wirtschaftlichen, organisatorischen und vor allem auch die ästhetischen Vorstellungen der Urheber von ihren Anfängen über die NS-Zeit bis in die Wiederaufbauphase in ihren Wandlungen zu verfolgen. Allerdings bleibt auch hier offen, wie weit die Ästhetik der Autobahn (schwingende Linienführung, Natursteinbrücken) nun als nationalsozialistisch anzusehen ist oder eher technisch bedingt war und als ein Ingenieursproblem jener Zeit zu verstehen sei. Wie auch immer: es belebt die sog. Kontinuitätsdebatte, weil hier daran erinnert wird, dass es im Osten sowohl bei der Wiederherstellung der kriegszerstörten Brücken und Bahnen als auch in den Vorstellungen der neuen Baumeister (heimliche Tradition) zunächst bei der überkommenen Formgestalt geblieben ist.
Die notwendigen Grundinformationen über den Autobahnbau werden geschickt mit den Biographien der Akteure vermittelt, die in West wie Ost dann das Projekt Autobahn weiter verfolgt haben, und so den möglichen Kontinuitäten nachgegangen. Obwohl nur ein recht kleiner Teil der „Baumeister des Führers“ in der SBZ verblieben ist, reichte diese Personage aus, um diskursive und biographische Verflechtungen mit der frühen DDR nachzuweisen, die dann auch auf die Auffassungen der Folgegeneration von Autobahnspezialisten wirken sollten. Daran anschließend behandelt das zweite Kapitel die Anpassung der Weimarer Konzepte an die Aufbaustrategien der 50er Jahre in beiden Teilstaaten.
In einem eigenen Kapitel wird der Wiederaufbau der Hirschberger Saalebrücke behandelt. In einer gründlichen Detailstudie werden an diesem Moment der Autobahngeschichte die damit verbundenen deutsch-deutschen Auseinandersetzungen in der Hochphase des Kalten Krieges gezeigt und vorgeführt, wie dieses Projekt "als politische Landschaft und Bühne für Diplomaten, Journalisten, Bauarbeiter und Sicherheitskräfte" (234) studiert werden kann. In ständigem Perspektivenwechsel, durch Analyse von Dokumenten, Reden und Berichten, Sitzungsprotokollen, Erinnerungen von Politikern, Bauleitern und Bauarbeitern kann der Wandel politischer Handlungsspielräume "in der Sprache und durch die Sprache" (234) – so das Anliegen - in der Phase 1952 bis 1966 sichtbar gemacht werden.
Auf den Mauerbau folgte eine Phase der Stabilisierung und zugleich wurden mit Kybernetik, wissenschaftlich-technischer Revolution und Neuem Ökonomischen System hochgesteckte Projekte aufgelegt. Die bis dahin zwiespältige Haltung zum Individualverkehr wurde aufgegeben und der PKW auch im Osten zum begehrtesten Konsumgut. Nach langer Wiederaufbau- und Planungsphase wurde nun tatsächlich mit dem Autobahnneubau begonnen. Dieser Dritte Abschnitt zeigt die verschiedener Ebenen der damit verbundenen Arbeitspraxis der 60er Jahre recht ausführlich. Er geht auf die ersten Neubauplanungen ein, die bereits im Kontext der neuen Gesellschaftsstrategie nach 1958 begannen und erkennt sie als Moment einer "Vision von einem infrastrukturell beherrschbaren Sozial- und Wirtschaftsleben im DDR-Sozialismus" (173). Informativ die quellengestützte Hinweise auf die Berücksichtigung nationaler Aspekte in der Autobahnplanung beider deutscher Staaten. Hier wird detailliert belegt, dass in der Autobahnplanung nicht nur Vorstellungen von der nationalen Zukunft, sondern auch Gesellschaftsentwürfe sichtbar werden. Das gilt besonders für diese euphorische Planungsphase, als ein dichtes Autobahnnetz für die DDR geplant war. Hier zeigten sich der sozialistische Planungsoptimismus der Politiker und die technokratischen Überzeugungen der Planer und Macher besonders nahe. Für beider „Wunschproduktionen“ reichte dann die Wirtschaftskraft der DDR nicht aus. Die Trasse Berlin-Rostock wurde 1959 zwar begonnen, doch 1961 kam der Mauerbau dazwischen. Schließlich wurde 1969 fortgesetzt, doch dann ab 1971 der Wohnungsbau bevorzugt. Der Motorisierungsgrad stieg von Jahr zu Jahr – wohl langsamer als im Westen, doch damit stieg auch das Missverhältnis zwischen den Automobilen und der Qualität ihrer Strassen von Jahr zu Jahr.
So ist für den Autobahnspezialisten nicht mehr viel Spannendes zu berichten. Zwar bieten die deutsch-deutschen Geschäfte mit den Transitwegen noch viel Stoff, in der Sache aber ging es vor allem um die Schwierigkeiten mit der Instandhaltung. Das neue sozialpolitische Konzept band alle Mittel und Kräfte, magerte das Autobahnprogramm aus und beendete es schließlich. Hier werden zwei Jahrzehnte unter der Überschrift "vom gebremsten Leben in der Ära Honecker" bis zum "unerwarteten Ende" abgehandelt. Vielleicht ging hier der metaphorische Eifer des Autors zu weit, wenn von der faktisch „begrenzten Mobilität“ auf ein Leben mit angezogener Handbremse geschlossen wird.
Das anschließende Schlusskapitel ist weniger ein Resümee des Ertrags als ein Schnelldurchlauf, der als Überblick gut geeignet ist. Der Apparat ist - wie es sich für eine Dissertation gehört - sorgfältig gearbeitet, üppig und anregend. Die Nachweise halten – soweit der Rezensent sich dafür kompetent hält – der Überprüfung stand. Allein die Mitteilung, der Ausflugsverkehr zum Müggelsee führe über das Berliner Adlergestell, hat der Verfasser ungeprüft übernommen. Da die Darstellung durch viele Vor- und Rückgriffe lebendig gehalten wird, wäre eine Zeit- und Datenleiste zur ostdeutschen Autobahngeschichte (vielleicht sogar mit den behandelten westdeutschen Ereignissen) einer orientierenden Übersicht dienlich gewesen. Und es muss angemerkt werden: der „typische Autobahnenthusiast“, der – wie Doßmann selbst vielfältig belegt - die Planung, den Bau und die Nutzung der Autobahnen vor allem als ein genuin technisches Problem und eine ingenieurtechnische Leistung sieht, kommt hier nur dann auf seine Kosten, wenn er Freude daran findet, über den Tellerrand seiner technischen Welt hinauszublicken. Will er speziell die Technikgeschichte, also die immanente Dynamik technischer Mediensysteme – deren klassisch-manifeste Form die Autobahn darstellt - kulturwissenschaftlich gedeutet sehen, muss er bei Friedrich Kittler und seinen Schülern nachlesen.
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