KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
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RezensionKulturation 2014
über
Elisa Steinmann/ Carola Hähnel-Mesnard (Hg.):
Ostdeutsche Erinnerungsdiskurse nach 1989. Narrative kultureller Identität
Gerd Dietrich
Der Eisberg der Erinnerung
Goudin-Steinmann, Elisa/ Hähnel,-Mesnard, Carola (Hg.): Ostdeutsche Erinnerungsdiskurse nach 1989. Narrative kultureller Identität. DDR-Diskurse – Interdisziplinäre Studien zu Sprache, Land und Gesellschaft. Hrsg. von Laurent Gautier und Marie-Geneviéve Gerrer, Band 1, Frank & Timme GmbH Verlag für wissenschaftliche Literatur, Berlin 2013, 364 S.


„Die ostdeutsche Erinnerung als Eisberg“, mit dieser treffenden Metapher überschreibt Thomas Ahbe seinen Beitrag in diesem erstaunlichen Band. Sie „soll die Sichtbarkeit-Unsichtbarkeits-Relation in den ostdeutschen Erinnerungsdiskursen abbilden. Gut sichtbar, über der Wasseroberfläche, bieten sich dem Blick des Betrachters die Narrative des staatlich privilegierten Diktaturgedächtnisses. Der größte Teil der ostdeutschen Erinnerung aber befindet sich im Dunkel, unter der Wasseroberfläche. Er wird nicht wahrgenommen, weil seine Narrative ambivalent sind und weil sie die Narrative des Diktaturgedächtnisses nicht nur ergänzen und differenzieren, sondern auch dementieren.“ (S. 49f.) Spinnt man den Gedanken weiter, so ist es nur noch eine Frage der Zeit, dass es der offiziellen Geschichtspolitik ergehen muss wie der Titanic: Man glaubte sie unsinkbar, feierte in allen Sälen und die Bordkapelle spielte bis zuletzt. Das unter der Oberfläche weit größere und mächtigere Arrangementgedächtnis aber, bei Ahbe noch ein „Laien-Diskurs“, wird den professionellen „Untergang“ des bisher allein dominierenden Diktaturgedächtnisses herbeiführen. Vorurteilsfreie Wissenschaftler sind schon lange auf diesem Kurs. Nun plädiert auch Roland Jahn für einen Paradigmenwechsel n der „Aufarbeitung“. (Jahn, Roland: Wir Angepassten – Überleben in der DDR , Piper Verlag München 2014.)

Der Band ist beachtlich international und interdisziplinär aufgestellt. Er hat den Vorzug des Blicks von außen und nimmt in vieler Hinsicht eine entnationalisierte Perspektive ein. Soziologen, Ethnologen, Kultur-, Kunst- und Literaturwissenschaftler führen dabei ihre eigenen Methoden mit aktuellen Ergebnissen der Narratologie sowie der Erinnerungs- und Gedächtnisforschung zusammen. Im Zentrum der Beiträge steht der Problemzusammenhang, der zwischen erlebter Geschichte, Erinnerung und Identitätskonstruktion besteht. Denn, so Elisa Goudin-Steinmann (Paris) und Carola Hähnel,-Mesnard (Lille) zur Einführung, „eine Fokussierung des Zusammenhangs von Erinnerung und Identitätskonstruktion in den nach 1989 entstandenen Erzählungen über die DDR blieb ein Desiderat der aktuellen Forschung … Ziel der vorliegenden Veröffentlichung ist es, den Akzent auf die wechselseitige Durchdringung von Erinnerungen, Narrationen sowie individueller und kollektiver Identität zu setzen“. (S.12) Dabei geht es nicht nur um Erzählungen, die dem Bereich der Belletristik zuzuordnen sind, sondern um Narrationen im weitesten Sinne, die anthropologische, historische, erinnerungspolitische und soziologische Diskurse einschließen. Die Beiträge untersuchen die Rückschau auf die DDR-Vergangenheit „unter dem Gesichtspunkt der narrativen Identität“ (P. Riceur) in den verschiedensten Bereichen und Diskursen. „Der Leitfaden ist der folgende: Wie funktioniert der Diskurs über die eigene Identität? Wie prägt er das Selbstbild der ostdeutschen Bevölkerung? Wie geht man im heutigen Deutschland mit dieser Vergangenheit um, wie erzählt man diese Epoche?“ (S. 15) Der Band ging aus einer internationalen Tagung hervor, die vom 13. bis 15. Oktober 2011 in Paris stattfand. Seine Beiträge sind drei Teilen zugeordnet, wobei das literaturwissenschaftliche Herangehen in französischer Tradition überwiegt. Die anregenden und reichhaltigen Inhalte der einzelnen Beiträge können hier nur angedeutet, aber es soll auch keiner ausgelassen werden:

Teil I umfasst Untersuchungen aus soziologischer und geschichtspolitischer Perspektive. Thomas Ahbe (Leipzig) legt „Soziologische und diskursanalytische Befunde nach 20 Jahren staatlicher Einheit“ vor. Die Quellen der ostdeutschen Identität beruhen eben nicht nur auf der spezifischen ostdeutschen Sozialisation, sondern sind ebenso Ausdruck der unterschiedlichen Reaktionen auf den Transformationsprozess nach 1989 und der Integration in die bundesdeutsche Gesellschaft, und nicht zuletzt eine Folge der diskursiven Konstruktion des „Ostdeutschen“ in den Medien. Hanna Haag (Hamburg) „Nachwendekinder zwischen Familiengedächtnis und öffentlichem DDR-Diskurs“ entwickelt, in welchem Maße die Nachwendekinder noch von den Erzählungen der Eltern geprägt sind und setzt das Familiengedächtnis zum Vergangenheitsdiskurs in Schule und Medien ins Verhältnis. Anna Ransiek (Göttingen) „Anders-Sein in der DDR – Narrative Bezüge nach der Transformation“ analysiert das lebensgeschichtliche Interview mit einer in der DDR sozialisierten Afro-Deutschen und zeigt auf, dass der antifaschistische Diskurs der DDR zu einer Negierung von selbst erfahrenem Rassismus in der Vergangenheit wie in der Gegenwart führte.

Teil II umfasst Untersuchungen aus kultur- und kunstwissenschaftlicher Perspektive. Susan Baumgartl (Berlin) „Der ‚eigene’ Aufbruch oder Freiheit ohne Einheit? Geschichtspolitik und Alltagserinnerungen zum Herbst 1989 in Leipzig“ beschäftigt sich mit der Diskrepanz zwischen privaten Alltagserinnerungen an die Leipziger Montagdemonstrationen und der öffentlichen Geschichtspolitik. Während letztere den 9. November als Schlüsseldatum der friedlichen Revolution hervorhebt, sind die subjektiven Erinnerungen der Leipziger sehr viel ambivalenter und differenzierter. Ramon Katrin Buchholz (Bremen) „‚Vergessen durch Erinnern’ – Die Erzählung von den DDR-Frauen in der Interviewliteratur seit 1989“ geht der Erzählung vom Gleichstellungsvorsprung der DDR-Frauen nach. Diese sei zwar in den ersten Jahren nach der „Wende“ kritisch betrachtet worden, doch seit der Mitte der 1990er Jahre sind die Erzählungen über die Emanzipation bereits mit einer entpolitisierten Geschichte verbunden. Dominique Herbst (Lille) „DDR-Erinnerungsdiskurs in der Monatszeitschrift RotFuchs (1998-2011)“arbeitet medienanalytisch heraus, dass sich die Zeitschrift der antidemokratischen Rhetorik der SED-Presse und einer revisionistischen Geschichtssicht bedient und mit den Mitteln der Propaganda eine ostdeutsche Identität zu konstruieren versucht. Sigrid Hofer (Marburg) „Kontinuitäten in der ästhetischen Praxis und ihre Bedeutung für das Künstlerselbstverständnis nach 1989“ stellt am Beispiel von nonkonformen Künstlern dar, dass das Festhalten an der Strömung des Informel sowohl für ihr persönliches und künstlerisches Selbstbild in der DDR als auch nach 1989 konstitutiv blieb und ihre Kunstwerke die Funktion des sozialen Gedächtnisses übernahmen. Theresa Beyer (Bern) „Erinnerung und Vergegenwärtigung nach 1989 im Werk von DDR-Liedermachern“ beschreibt, wie diese zu DDR- oder Wendezeiten entstandene Lieder für das heutige Publikum aktualisieren und dabei sowohl DDR-Narrative wieder aufnehmen als auch an generationsspezifische Prägungen und Erinnerungsgemeinschaften anknüpfen. Matteo Galli (Ferrara) „Deutungshoheit. Der DEFA-Film im Diskurs (1990-2010). Zwei Anmerkungen“ stellt am Beispiel der Debatte um Volker Schlöndorffs polemische Äußerung, wonach die gesamte DEFA-Produktion Makulatur sei, und der ablehnenden Reaktion Andreas Dresens darauf dar, wie jüngere ostdeutsche Regisseure die Deutungshoheit über das DDR-Thema einklagen.

Teil III enthält Untersuchungen aus literaturwissenschaftlicher Perspektive. Er „ist der Erzählliteratur gewidmet, der hier ein besonders umfangreicher Platz eingeräumt wird. Denn es scheint, als sei gerade die Literatur der Ort, an dem zum dominanten Diskurs gegenläufige Erfahrungen und Erinnerungen vermittelt werden, wobei die literarische Verdichtungsarbeit der Komplexität der dargestellten Identitätsentwürfe in besonderem Maße gerecht werden kann“, so die Herausgeberinnen. Um Fragen ostdeutscher Identität geht es in den nächsten fünf Beiträgen. Regine Crisier (Asheville) behandelt am Beispiel von Romanen von Jens Sparschuh, Brigitte Burmeister und Annett Gröschner, wie deren Figuren in der Kommunikation mit Westdeutschen „hybride Lebensnarrative“ entwerfen, um auf die Klischees und Stereotype zu reagieren, die ihnen entgegengebracht werden. Daniel Argelés (Palaiseau) „Das Andere im Spiegel. Identität und Veränderung zehn Jahre nach der Vereinigung am Beispiel des Doppelgänger-Romans Trug (2000) von Klaus Schlesinger“ zeigt, wie dieser sich den polarisierenden Identitätsdebatten der 1990er Jahre mittels Doppelgängermotiv und Spiegelkonfiguration zu entziehen sucht. Anne-Marie Pailhés (Paris) „Regionale Identität in der DDR: Heinz Czechowski und Sachsen – auf der Suche nach der verlorenen Heimat in der Autobiographie Die Pole der Erinnerung“ macht deutlich, in welcher Weise sächsische Regionalidentität und DDR-Identität verbunden sein können. Bernd Blaschke (Berlin) „Erzählte Gefühle und Emotionen des Erinnerns. Ostdeutsche Identitätsliteratur der in den 1960 und 1970er Jahren Geborenen“ stellt sich von der Emotionsforschung her die Frage, mittels welcher Gefühle die DDR erinnert wird und inwiefern diese den Identitätsdiskurs dieser Generation prägen. Héléne Yéche (Poitiers) „Über die narrative Konstruktion von Identität. Zwischen Noch-DDR-Literatur und Ost-Moderne: Christoph und Jakob Hein im Vergleich“ entwickelt, wie die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Generation den Umgang mit der DDR-Geschichte verändern kann.

Die folgenden fünf Beiträge fokussieren eher Erinnerungsdiskurse in der Literatur nach 1989. Katja Schubert (Paris) „’Are you sure this country does exist?’ Blickwechsel als narrative Strategie bei Christa Wolf” analysiert deren autobiographisches Erzählwerk Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud mit dem Ergebnis, dass Christa Wolf keine „neue Sprache“ für ihre Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit findet. Maaike van Liefde (Gent) „Furor Melanchcolicus – Furor Satiricus. Dialogizität bei Thomas Brussig als Darstellungsmittel konkurrierender Erlebnis- und Erinnerungsperspektiven“ entfaltet am Beispiel des Romans Wie es leuchtet von 2004 ein Panorama unterschiedlicher deutsch-deutscher Befindlichkeiten. Auch bei Johanna Vollmeyer (Madrid/Berlin) „’Soll ich meines Bruders Hüter sein?’ Gewaltdarstellungen und das Motiv des verfeindeten Bruders als Ausdruck der Erinnerungskonkurrenz in Reinhard Jirgls Roman Abschied von den Feinden“ geht es um die Darstellung konkurrierender Erinnerungen sowie der Gewalt als Mittel, Erinnerungen zu manipulieren. Asako Miyazaki (Tokyo) „DDR-Erinnerung anhand das Topos Sibirien im Zwischenraum der Geschichtsdiskurse. Halb-bewusste Erinnerungserzählung bei Lutz Seiler“ wird am Beispiel der Erzählung Turksib der Begriff von der „halbbewussten Erinnerungserzählung“ eingeführt, mit dem auf die Unmöglichkeit des Erzählers verwiesen wird, die eigenen Erinnerungen zu bewältigen und deren Erzählung zu beherrschen. Schließlich nimmt sich Pawel Walowski (Zielona Gorá) „’Weg von der Bundesrepublik in den Osten’ als verkehrte Grenzüberschreitung? Zum narratologischen Muster der Flucht in die DDR in der neuesten deutschen Literatur“ das Nachdenken über die DDR vor der Folie der bundesdeutschen Verhältnisse in dieser Verkehrung vor.

Alle ausgewählten und analysierten Texte „setzen sich nicht nur mit der Vergangenheit auseinander, sondern ebenfalls mit aktuellen Identitätskonstruktionen,“ unterstreichen die Herausgeberinnen, „wobei der Ostalgie eine Westalgie gegenübergestellt wird, die sich nach den alten Verhältnissen in der Bonner Republik zurücksehnt.“ (S. 21) Die Breite der behandelten Themen und die Vielfalt der wissenschaftlichen Ansätze machen den Band zu einer äußerst anregenden Lektüre. Zahlreiche Assoziationen und Korrespondenzen treten zwischen den einzelnen Beiträgen hervor. Der Band unterscheidet sich vorteilhaft von den deutschen Querelen und verfolgt ein eigenes methodisches Herangehen. Nicht das stereotype politisch dominierende Diktaturgedächtnis steht im Vordergrund, sondern die individuellen und kollektiven sozialen Akteure, ihre Praktiken, ihre Erfahrungen, ihre Lebenswelt und ihre Erinnerungen. So könnte, verbunden mit der narratologischen Perspektive, aus dem sogenannten „Laiendiskurs“ ein breiter öffentlicher Diskurs entstehen, der sich, transdisziplinär und transnational zugleich, von den bisherigen Einseitigkeiten abhebt und ostdeutsche Identität als Transformationsgewinn verbucht.