Rezension | Kulturation 2011 | über Charlotte Grasnick, Erich Mühsam, Ronald M.Schernikau : <br>Drei Bücher aus dem Verbrecher Verlag Berlin | Volker Gransow | Verbrecher am Werk
| Rezensions-Essay zu: Charlotte Grasnick: So nackt an dich gewendet. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Benjamin Stein, Verbrecher Verlag, Berlin 2010, 200 Seiten, Euro 21,00. / Erich Mühsam: Tagebücher , Band 1, 1910 - 1911. Herausgegeben von
Chris Hirte und Conrad Piens. Verbrecher Verlag, Berlin 2011, 352 Seiten, Euro 28,00. / Ronald M. Schernikau: Königin im Dreck. Texte zur Zeit. Herausgegeben von Thomas Keck.
Verbrecher Verlag, Berlin 2009, 303 Seiten, Euro 15,00.
Berlin 1994. Zwei abgebrochene Literaturstudenten wollen interessante neue Manuskripte kenennlernen. Wie macht man das? Sie gründen einen Verlag mit ulkigem Namen, produzieren ein Buch, danach vier Jahre lang - nichts. Und dann? Inzwischen zeigt der “Verbrecher Verlag”, wie zwischen Wegwerf-Bestsellern und E-Books neue Wege beschritten werden. Als Beispiel können drei Bücher aus den letzten Jahren dienen: das Tagebuch des von Nazis ermordeten Anarchisten, die journalistischen Texte des vermutlich
letzten DDR-Bürgers und Gedichte der Sängerin an einer komischen Oper.
I
Hauptberuflich war Charlotte Grasnick (besagte Chorsängerin, 1939-2009) Altistin in Ost - Berlin. Als Lyrikerin wurde sie zu Lebzeiten in Ost und West wenig wahrgenommen,
obwohl ihre Gedichte keineswegs verboten waren. Es handelt sich bei “So nackt an dich gewendet” zu etwa zwei Dritteln um bereits in der DDR Publiziertes: “Flugfeld für Träume”(1985, mit Ulrich Grasnick) und “Blutreizker” (1989). Die Wende nach 1989 bedeutete für Grasnick wie für viele andere Ostdeutsche zunächst eher Verlust. Mit dem Engagement an der Komischen Oper Berlin war es nun ebenso vorbei wie mit dem “Verlag
der Nation”. Erst 2003 erschien ihr letzter Lyrikband “Nach diesem langen Winter”. Herausgeber Benjamin Stein hat die Ursprungsausgaben im vorliegenden Buch mit wenigen Veränderungen übernommen und ein Nachwort hinzugefügt, das mehr von Stein als von
Grasnick zu handeln scheint. Im Postskriptum befindet er : “Es sind die Liebesgedichte, die das Rückgrat des lyrischen Werks von Charlotte Grasnick ausmachen” (S.232). Der Rezensent bezweifelt dies (und nicht nur er - vgl. Lothar Müller, Der Himmel hinter
Ostkreuz, “Süddeutsche Zeitung” vom 28.April 2010). Das schmälert aber den Verdienst dieser Ausgabe keineswegs, denn hier wird eine Autorin von Rang - vielleicht Weltrang - präsentiert. Grasnick bietet konzis und komprimiert poetische Kommentare, die über ihren
unmittelbaren Anlaß weit hinausreichen. Sie sind “politisch” im besten Sinn, also öffentliche Auseinandersetzung über Lebensweise. Gleichzeitig geht es um Kultur im engeren und weiteren Verständnis des Wortes. Ein Exempel ist das “Trompetensolo. Für L.G.” (S.103,
wer mag L.G. wohl sein - Ludwig Güttler?):
Mundstück ist Glatteis zwischen
den Lippen öffnet die schnellen
Seelenventile drückt auf die
Tube daß es blitzt und schmettert
und virtuos nicht nur
wenn wir Staat machen.
Die der Musik gewidmeten Gedichte gehören zu den eindrucksvollsten in diesem Sammelband. Da finden sich “Puccini”, “Musikhören”, “Erster Verlust. Nach Robert Schumann” und ”Der Tod und das Mädchen. Nach Schubert”. In
“Klavierspiel” heißt es (S.101):
Es schmerzt der falsche Ton
die Melodie -
die ins Gedächnis drängt,
bleibt an den Fingerspitzen hängen -
die Fingerspitzen haben Augen,
die unsichtbar sich noch
nach Jahren öffnen.
(Collage Gunhild)
Das Buch ist sensibel und formbewußt, aber auch äußerlich lobenswert: beste Papierqualität, ein solider Satz (Christian Walter) und der Einband (Sarah Lamparter) zeugen von
Qualitätsarbeit. Man fragt sich ob der Titel glücklich gewählt ist. Er passt zwar scheinbar zur Hypothese des Herausgebers von der Liebeslyrik als Rückgrat des Textes, ist aber eine Zeile
aus “Alles in diesem Land” (S. 179):
Alles in diesem Land
erinnert mich an meine Kindheit
das viele Grau und Schwarz
die Dunkelheit
...
welches Licht bringe ich in diese Legende
so nackt an dich gewendet.
Laut Nachwort ist diese Ausgabe nur ein erster Schritt. Das Manuskript von Grasnicks Prosaarbeiten und ein Nachlaß von über 2000 Seiten warten auf Sichtung.
II
Ronald M. Schernikau (1960-1991) war bereits kurz nach dem Abitur in Lehrte 1979 als Autor der “Kleinstadtnovelle” bekanntgeworden - ein Text, der weit mehr als nur eine Coming - Out - Story ist, inzwischen im Schulbuch neben thematisch verwandten Passagen
aus Arbeiten zweier Nobelpreisträgerinnen zu finden. 2009 erinnerte eine Biografie an das
Leben des kommunistischen Dichters, der 1989 in die dem Untergang geweihte DDR
übersiedelte und knapp zwei Jahre später an AIDS verstarb (vgl. “kulturation” 1 /2009).
Bislang unveröffentlichte oder kaum verbreitete Schernikau-Texte publizierte der Verbrecher Verlag im gleichen Jahr unter dem Titel “Königin im Dreck”.
Die vom Schernikau-Lebensgefährten Thomas Keck liebevoll edierte Auswahl verblüfft. Interviews, Prosaskizzen, Reportagen, Rezensionen behandeln Fragen wie “die Kälte, die deutsche Frage und Mein Lala am Klavier”, “Können Tunten ernst sein?”, “Was macht ein
revolutionärer Künstler ohne Revolution?”. Oder setzen angesichts der AIDS-Hysterie ein
Ausrufezeichen:”Fickt weiter!” Ist das Zynismus? Die Antwort heißt vielleicht: “Zynisch war ich nie.” Doch damit sind die Überraschungen noch nicht vorbei. Der Verfasser ist nicht nur DDR-Fan, sondern sogar DDR-Schlager-Fan. Und mehr als das. Er liebt Sonette, nein, “das Sonett” schlechthin. Er kommentiert Kafkas Lyrik (ja, es gibt sie) mit “humpta humpta humpta humpta” (S.38). Ganz hingerissen ist er von niemand anderem als - Theodor Storm. Dessen “Nachtigall” nennt Schernikau “ein perfektes gedicht, ein großer wurf” (S.33). Und
das meint er völlig unironisch.
Um Ironie geht es sowieso weniger, mehr um Humor, Witzeleien, selbst simples Blödeln. Absichtsvoll. Schernikau stellt sich nicht dumm, er kombiniert vielmehr Naivität mit Reflektion und steht insofern ganz in der Tradition des Brechtschen Verfremdungseffekts
Davon zeugt auch der Titel. Schernikau plante 1990/91 eine Serie von Interviews, in denen es nicht um “psycho-geschichten” gehen sollte, sondern um eine andere Ebene des Gesprächs: “was macht eine königin im dreck?” Wie diese Interviews wohl geworden wären, das läßt sich erahnen in einem hier abgedruckten Dialog mit Ingrid Caven, die 1987 im Berliner
Theater des Westens die Jenny aus der Dreigroschenoper gab: “Auftritt böser Geist: Ihr Gesprächspartner hat die Vorstellung überhaupt nicht gesehen. Caven: Sie habens gar nicht
gesehen? Ja, wie wolln wir denn interviewen wenn Sies gar nicht gesehen haben? Och, Kinder, das ist ja unseriös” (S.80). Unseriös mochte der deutsche Weltenwanderer auch jenen
Poeten vorkommen, die auf dem letzten DDR-Schriftstellerkongreß 1990 möglicherweise eine breite westliche Schulter zum Anlehnen suchten: “Wer den Videorekorder will, wird die
Videofilme kriegen...Wer Bananen essen will, muß Neger verhungern lassen” (S.226).Zu Schernikaus kaum gewürdigtem Potenzial gehört die Aphoristik. Eine Kostprobe: “Jedes Mitleid ist eine Form von Selbstmitleid. Selbstmitleid geschieht, wo jemand nicht handelt”(S.
165).
III
Aphoristische Qualitäten besitzen auf andere Weise auch die Journale von Erich
Mühsam. Wieso wird hier der erste Band einer auf 15 Bücher und 7 Jahre
angelegten Tagebuch-Edition vorgelegt? Wer war Erich Mühsam (1878-1934)? Die
Antworten sind vielfältig, Mühsam war nicht nur Dichter, nicht nur anarchistischer Revolutionär und Protagonist der Münchner Räterepublik von 1919, er war auch Lebemann,
Trinker und Frauenheld. Er flog im Kaiserreich von der gleichen Lübecker Schule wie Heinrich und Thomas Mann, verbrachte Jahre in Gefängnissen der Weimarer Republik. 1934 ermordeten Nazis den jüdischen ”Novemberverbrecher” im KZ Sachsenhausen. Nach seinem Tod wurden die Tagebücher in die Sowjetunion gebracht, freilich keineswegs sofort
veröffentlicht. Witwe Zensl überlebte den GULag und kehrte gleichwohl in die DDR zurück. In der BRD blieben seine Arbeiten weitgehend ignoriert, in der DDR erschien eine von Chris Hirte besorgte Werkausgabe (1978- 1985) und die Biografie, ebenfalls von Hirte (1985). Eine Tagebuch-Herausgabe zog sich trotz Unterstützung durch das Ostberliner Kulturministerium so lange hin, bis es die DDR nicht mehr gab.
Der erste Band (1910 - 1911) macht uns zum Zeugen der Existenz eines Künstlers in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg, in der Schwabinger Boheme, in Kaffeehaus, Kabarett und Theater.
Davor befindet sich Mühsam im Schweizer Sanatorium “Château d’Oex” zur Behandlung einer Herzerweiterung. Doch der ersehnte Kuraufenthalt enttäuscht, der Chronist konstatiert eine “bodenlose Abwechslungslosigkeit hier oben” (S.13). Das hindert ihn freilich nicht an Beobachtungen aller Art, von der eigenen Krankheit bis zu historischen und aktuellen Kommentaren. So sinniert er über Wilhelm II., dessen Berufung aufs Gottesgnadentum völlig
in Ordnung sei: “Eine konstitutionelle Monarchie ist eine contradictio in adjecto. Daß das letzte Jahrhundert diese Einrichtung geschaffen hat, beweist nur wieder den unlogischen
feigen Geist unserer Zeiten”(S.28). Ihm ist der Kaiser aus anderen Gründen unsympathisch. ”Er ist ein nationalliberaler Schwätzer im Grunde seiner Seele, ein geschmackloser Banause
und ein beschränkter Wichtigtuer” (ebenda).
Nicht zuletzt beschäftigen den Autor des Diariums Geschlechterfragen. Erich Mühsam war “ein früher Feminist”, meint Volker Hage im “Spiegel” (Nr.27 vom 4.7.2011). Das sieht Klaus Birnstiel etwas anders. “Ein Feminist im heutigen Wortsinn aber ist er nicht”
(“Frankfurter Allgemeine Zeitung” vom 2.8.2011). Feminist oder nicht - die Eintragungen im Tagebuch zeigen Mühsam als Befürworter der Frauenemanzipation genauso wie als Erotomanen von ungewöhnlichem Format. “Kultur wird um eine Hälfte bereichert werden,
von der wir heute noch garnichts kennen. Eine Weltgeschichte, von einer Frau geschrieben - was für eine Perspektive!”(S.308). In der gleichen Tagebuch-Notiz berichtet er von einer
Mary Irber (“ich ficke manchmal zehn bis acht Nummern in einer Nacht” sagt sie über ihre Aktivitäten), mit der er bestimmte nicht-literarische Pläne gehabt habe. Und er fragt kryptisch, “ob wir dann endlich einmal zu dem Ziel kommen werden, das wir schon zehnmal verabredet hatten”, S. 309).
Faszinierend wie der kulturgeschichtliche Inhalt der Notate ist die Form. Denn der Verbrecher
Verlag nutzt das Internet-Potenzial nicht bloß zu mehr oder minder offener Werbung durch Textauszüge. Die üblichen Varianten des “enhanced book” durch Einbindung von Audio -
oder Videodateien sind ohnehin vom Thema her begrenzt bis sinnlos. Stattdessen erscheint zusammen mit der Print-Ausgabe deren vollständige Online-Publikation. Und nicht nur das.
Der wissenschaftliche Apparat wird online ständig aktualisiert, es gibt alle Arten von Links jenseits von Namen- und Sachregister. Wohl aus dem finanziellen Engpaß heraus
entwickelten die Verbrecher neue digitale Perspektiven: “Die Edition ist nicht mit der Drucklegung abgeschlossen, im Gegenteil: Mit der Publikation fängt ihr Leben erst ab. Und
das Wichtigste daran - Leser werden zu Mitherausgebern, weil ihre Hinweise in die Edition einfließen” (“Freitag” vom 7. Juli 2011).
IV
Alles in allem haben die hier vorgestellten Bücher trotz vieler Unterschiede auch einiges gemeinsam. Das gilt für die solide Ausstattung, die literarische Qualität und nicht zuletzt für eine politisch-kulturelle Grundhaltung, die man mit Ernst Bloch dem “Wärmestrom” des Marxismus verpflichtet nennen kann, d.h. emanzipatorisch-undogmatisch und nicht
sklerotisch-autoritär. Eine besondere Leistung ist die Mühsam-Edition. In der Kombination von Druckausgabe und sich ständig erneuerndem Internet-Apparat erinnert sie an Brechts Radiotheorie, an die Forderung nach kommunikativ - kommunistischer Umkehrung des
Verhältnisses von Sender und Empfänger. Verleger Jörg Sundermeier und sein Verbrecher - Team tragen zu einem Realisierungs-Versuch unter heutigen Bedingungen das ihre bei. Erwähnt seien zudem hochkarätige Verbrecher - AutorInnen wie Elfriede Czurda, Dietmar
Dath, Gisela Elsner, Georg Kreisler, Irmtraud Morgner, Wolfgang Müller (von der “tödlichen Doris”), Erhard Schütz, Johannes Zeilinger sowie u.a. Comics und “Stadtbücher”. |
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