Rezension | Kulturation 1/2004 | über Michael Buckmiller und Joachim Perels (Hg.): Opposition als Triebkraft der Demokratie. Jürgen Seifert zum 70.Geburtstag | Volker Gransow | Die vielfältige Aneignung der Demokratie Offizin-Verlag Hannover, 564 S.
| So verspätet diese Festschrift für den Hannoveraner Politologen und Juristen Jürgen Seifert hier auch angezeigt wird, so lesenswert ist der Inhalt. Michael Buckmiller und Joachim Perels haben die Beiträge sorgfältig zusammengestellt und in drei große Gruppen eingeteilt: Erstens geht es um die Geschichte der Bundesrepublik, zweitens um Verfassungspositionen , drittens um gesellschaftliche Veränderung. "Roter Faden" ist der Gedanke, "dass sich die reale im Grundgesetz vorgezeichnete Konstituierung der Demokratie erst in einem vielfältigen Prozess der Auseinandersetzung mit tradierten autoritären Einstellungen und Interessen herausgebildet hat; er ist bis heute nicht abgeschlossen" (Vorwort, S.7).
Dieser Grundgedanke wird vielfältig variiert. So weist Peter Brokmeier in einem brillanten Essay auf die Zusammenhänge zwischen Hannah Arendts Totalitarismus-Theorie und Arendts praktischen Beobachtungen im Nachkriegsdeutschland hin. Peter von Oertzen charakterisiert linkssozialistische Zeitschriften in der Ära der "Restauration" (1950-1962) zutreffend als "Behelfsbrücken", die mithalfen, sozialistische Ideen lebendig zu erhalten. Schade, dass neben der 1966 eingestellten "Sozialistischen Politik" nicht auch die gleichnamige West-Berliner Zeitschrift (ab 1969) diskutiert wird. Frank Deppe fragt, ob der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) eine Keimzelle der Bewegung von 1968 gewesen sei. Seine Antwort ist ein reflektiertes Ja, das weit besser begründet ist als seine Skepsis gegenüber dem heutigen "zivilgesellschaftlichen Realismus" (S.127) einiger – ungenannter – Protagonisten von 1968. Um die "Einbürgerung der Demokratie" geht es dann auch etwas differenzierter in Beiträgen von Ulrich K. Preuß, Wolf-Dieter Narr, Christiane Lemke, Axel Schulte u.a.. Weiterhin vergleicht Stefan Lohr - für Seifert-Kenner wohl nicht überraschend – Politik, Poesie und Subversion bei Beuys und Böll. Fast alle Beiträge in diesem Teil der Festschrift (Ausnahme: Klaus Christoph) befassen sich mit der "alten" Bundesrepublik und nehmen Existenz wie Beitritt der DDR sowenig zur Kenntnis wie die Situation Gesamtdeutschlands nach der Vereinigung.
Der zweite Teil der Kollektion ist Verfassungspositionen gewidmet. Ernst Gottfried Mahrenholz berichtet von Erfahrungen mit dem Sondervotum, die der ehemalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts als Chancen der Fortentwicklung des Rechts begreift. Dieter Sterzel untersucht das Grundrecht der Arbeit als Grundrecht auf Mitbestimmung. Kathrin Braun entschlüsselt die UNESCO-Deklaration zum menschlichen Genom, Thomas Blanke analysiert die praktische Bedeutung der kommunikativen Rechtstheorie als "Preis des Rechtsfortschritts". Uwe Berlit verweist darauf, dass die Verfahren der Verfassungsgebung und ihre Ergebnisse in den ostdeutschen Bundesländern besser genutzt wurden als auf Bundesebene und in den westdeutschen Ländern. Hermann Klenner befasst sich mit "Recht und Rechtstheorie der revolutionären Linken" (im Inhaltsverzeichnis falsch geschrieben – einer der wenigen Satzfehler). Am Beispiel der Oktoberrevolution präsentiert der Nestor der Ost-Berliner Staats- und Rechtstheorie hier seine Variationen über ein Diktum vom Jubilar Jürgen Seifert (und damit auch über Hegel): "Das Unterschätzen der Bedeutung des Formellen ist nicht besser als das Überschätzen" (S.348).
Im dritten Teil des Sammelbandes geht es um "gesellschaftliche Veränderung". Oskar Negt diskutiert eine "Jahrhundertidee im Verruf" - mit dem Ergebnis, das einzig und allein eine sozialistische Gesellschaftsreform Auswege aus der gegenwärtigen Kulturkrise zeigen könnte.
So entschieden sind nicht alle folgenden Beiträge. Klaus Meschkat betont die restriktiven Bedingungen gesellschaftlicher Transformation in der Dritten Welt, ohne groß nach dem Verbleib der Zweiten Welt zu fragen. Regina Becker-Schmidt, Gudrun-Axeli Knapp und Sybille Raasch nehmen sich wandelnde Geschlechterverhältnisse ins Blickfeld. Helmut Schauer beschreibt Gewerkschaften im Shareholder-Kapitalismus, Hans-Albert Lennartz sieht die Reformtheorie von Bündnis90/Die Grünen im Spannungsfeld von Verändern und Bewahren, Michael Vester deutet gleichzeitig empirisch wie theoretisch stark von Pierre Bourdieu beeinflusst die sozialen Milieus der Bundesrepublik zwischen Klassengesellschaft und Individualisierung.
Abgeschlossen wird der verdienstliche Sammelband durch eine von Jens Ostrominski verfasste Bibliographie der Schriften von Jürgen Seifert und ein Gespräch der "Frankfurter Rundschau" mit dem Jubilar. Das frühere Mitglied des SDS-Bundesvorstands, der damalige juristische Experte der gewerkschaftlichen Opposition gegen die Notstandsgesetze wird nach seinen Erfahrungen als Mitglied jener Kommission nach Artikel 10 des Grundgesetzes gefragt, die eine Überwachung von Fernmeldeverkehr genehmigt. Er antwortet schlicht: "Ich verstehe mich als Kontrolleur der Abhörer" (S.532). So wird am Ende der Bogen von der theoretischen Analyse der schwierigen Aneignung der Demokratie nach 1945 zu deren auf andere Art immer noch schwierigen Praxis geschlagen.
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