Rezension | Kulturation 2011 | über Raj Kollmorgen, Frank Thomas Koch u. Hans-Liudger Dienel (Hrsg.):
Diskurse der deutschen Einheit – Kritik und Alternativen | Dietrich Mühlberg | Wie die einen Deutschen über die anderen Deutschen reden und was sich daran ändern könnte Raj Kollmorgen, Frank Thomas Koch u. Hans-Liudger Dienel (Hrsg.): Diskurse der deutschen Einheit – Kritik und Alternativen. VS Verlag Wiesbaden 2011, 545 S., 34,95 Euro, ISBN-10: 3531174711, ISBN-13: 978-3531174716.
| Es war dies kein ruhiger Sommer, das globale Dorf diskutierte weiter über die Krise des Kapitalismus, auf allen Kontinenten ging und geht es um Verteilungsfragen, um soziale Teilhabe. Auf den großen Plätzen wurde und wird für Gerechtigkeit und Demokratie demonstriert. Muss man in dieser aufregenden Situation ein Buch über innere Angelegenheiten der Deutschen lesen, noch dazu ein wissenschaftliches?
Die Herausgeber Kollmorgen, Koch und Dienel sind davon überzeugt, dass es gerade jetzt lohnend sein könnte. Für sie war der zwanzigste Jahrestag der deutschen Einheit ein Anlass, auf fast 500 Seiten Kleingedrucktem der Frage nachzugehen, wie denn heute so über dieses Ereignis gedacht und geredet wird – von Politikern, Wissenschaftlern und anderen Leuten, die beruflich oder privat davon betroffen sind. Seriöser ausgedrückt geht es ihnen darum, wie der Vereinigungsprozess „kommuniziert“ wird. 15 Autoren untersuchen hier die „Diskurse deutscher Einheit“.
Beginnt man dieses aufwendige Lektüreabenteuer, so kann man den Generalbefund gleich auf der ersten Seite lesen: ostdeutscher Umbruch und deutsche Vereinigung sind längst nicht abgeschlossen, beides folgte und folgt keinen kontinuierlichen Zielvorstellungen (Letzteres war vielleicht auch nicht zu erwarten). Die Besichtigung aller einschlägigen Befunde und Stellungnahmen habe ergeben: (1.) was da auch „vollendet“ werden solle (wirtschaftliche, soziale usw. Einheit), läßt sich nicht so schnell (oder gar nicht) machen, (2.) Einheitlichkeit (wie etwa Gleichheit der Lebensverhältnisse) habe sich inzwischen als utopische Vorstellung erwiesen, es sei nun an der Zeit, „Gleichwertigkeit“ neu zu definieren. Die wissenschaftliche wie die politische Aufmerksamkeit müsse mehr auf die innere Differenzierung in Ost wie West gelenkt werden. Und schließlich habe sich (3.) auch die Perspektive auf den Osten radikal umgekehrt: es gehe gar nicht mehr um eine Transformation verstanden als Nachbau West, nicht um die Anpassung des Ostens. Der werde nun eher als eines der offenen Experimentierfelder im globalen Dorf gesehen, als spannendes Ereignis „in den nationalen, europäischen und globalen Umbruchprozessen der fordistischen Industriegesellschaften des 20. Jahrhunderts“ (S. 9). Der Osten ist also längst "angekommen", ist inzwischen nichts als eine eigentümliche Region der krisenhaften Übergangsgesellschaft weltweit.
Nun haben die versammelten Autoren keinen umfassenden gesellschaftstheoretischen Anspruch, kein schlüssiges Zukunftsmodell, schlagen weder direkt noch indirekt Patentlösungen für den anstehenden Übergang vor. Ihr Geschäft ist die Diskursforschung. Kommunikationen und Diskurse sehen sie als Repräsentanten sozialer Praktiken und beziehen "Diskurse und nicht-diskursive soziale Praxen im ostdeutschen Transformations- und deutschen Vereinigungsprozess" (S. 11) aufeinander. Und dies nicht in feldspezifischer Beschränkung, sondern als interdisziplinäre Gemeinschaft. Die hat sich im "Innovationsverbund Ostdeutschlandforschung" gebildet, der an der TU Berlin 2005 gegründet worden ist (der Rezensent berichtete über die Gründung der FKIO am ZTG der TUB für kulturation, http://www.kulturation.de/ki_1_report.php?id=84). Doch zugleich soll die in ihren Projekten praktizierte sozialwissenschaftliche Diskursanalyse zukunftsorientierte Erkenntnis- und Gesellschaftskritik sein, die auf eine anwendungsorientierte Auswertung hinarbeitet. Der Grundgestus ist durch das Motto angedeutet, das Michael Thomas seiner Suche nach „Zukunftspotenzialen“ voranstellt: „Wo wir sind, ist vorn. Und wenn wir hinten sind, ist hinten vorn“ – so die Rockband Silly bereits 1993.
Die eingreifende Absicht wird schon an der Struktur des Bandes sichtbar. Präsentiert der erste Hauptteil "Analyse und Kritik hegemonialer Diskurse", bieten sechs Beiträge im zweiten "alternative Ansätze zum Vereinigungsprozess und seiner Kommunikation".
Das ist viel Lesestoff, doch wenn man sich die Mühe macht, hat man schließlich einen kompletten und recht differenzierten Überblick über den „Einheitsdiskurs“, über das, was in zwei Jahrzehnten über die deutsche Einheit geredet und gedacht wurde. Die Herausgeber kommen dem Bedürfnis nach solcher Orientierung entgegen und haben ihren Band leserfreundlich eingeleitet. Die Beiträge beider Teile sind - eingeordnet in das übergreifende Programm - knapp in Absicht, Vorgehen und Ergebnis vorgestellt. So kann man nach Spezialinteresse den einen oder anderen auswählen ohne das Anliegen des Ganzen zu verfehlen. Für eine solche Auswahl bietet der erste Teil eine kritische Betrachtung des sozialwissenschaftlichen Diskurses (Kollmorgen). Die politischen Debatten werden in einem Vergleich der Berichte der Bundesregierung mit den entsprechenden Leitbildern der Parteien vorgestellt (Koch). Die Untersuchung massenmedialer Diskurse (Kollmorgen und Hans) weist die Subalternisierung der Ostdeutschen nach, während eine Untersuchung der ostdeutschen Wenderomane den belletristischen "Diskurs der Unbegreiflichkeit" (Gabler) zum Thema macht. Eine übergreifende Betrachtung der Wirkungsmacht von "Bildern" in der öffentlichen Kommunikation (Nölting, Schröder, Marotz) schließt den ersten Teil ab.
Diesem einführenden Überblickscharakter wird auch der erste Beitrag von Kollmorgen gerecht, der einleitend „Entwicklung, Stand und Perspektiven des sozialwissenschaftlichen Diskursfeldes“ erläutert, auch den gemeinsamen konzeptionellen Ansatz (was ist ein „Diskursfeld“) vorstellt (27) und dabei „fünf theoretisch-konzeptionelle Achsen“ (35 ff) identifiziert. Er zeichnet „explosionsartige Anschwellen“ wie das „schier implosionsartige Schrumpfen“ der sozialwissenschaftlicher Ostdeutschlandforschung nach - bis hin zu ihrer aktuellen Legitimationskrise in Wissenschaftspolitik und akademischem Forschungsbetrieb. Aufschlussreich sind vor allem die Argumente, mit denen die Notwendigkeit einer „neuen Ostdeutschlandforschung“ begründet wird: gerade die relativ dauerhaften Eigenheiten der ostdeutschen Region verlangen und ermöglichen innovative Forschungsansätze. Der Osten bleibe weiterhin eine eigentümlich verfasste Teilgesellschaft, ist eine „erzwungene Post-Erwerbsgesellschaft“ (54), ist ein „besonderer Fall von Generationswechseln und intergenerationalen Beziehungen in radikalen sozialen Wandlungsprozessen“ (55) und erweist sich als „avantgardistischer Fall demographischer Schrumpfungsprozesse“ (55). Ostdeutschland ist „Experimentierfeld für innovative regionale Entwicklungs- und soziopolitische Gestaltungsprozesse“ und müsse als „Modell-, Ideal- und zugleich Kontrast- oder ‚Unfall’ einer systemisch gesteuerten Gesellschaftstransformation untersucht werden. Schließlich biete sich hier der „Fall eines einzigartigen doppelten Umbruchs“ (56/57). Für die Ostdeutschen – dies sei angemerkt – keine so neue Erfahrung: seit 1945 haben sie ihr Leben auf einem Experimentierfeld eingerichtet, Umbrüche durch gesteuerte Gesellschaftstransformation sind ihnen nichts Fremdes. In manchen der hier versammelten Beiträge klingt das an, als kulturell verfestigte Erfahrung ist es kaum berücksichtigt worden.
Nach Durchsicht der "Berichte der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit" (2004-2009) kommt Thomas Koch zu dem Schluss, dass der politische Diskurs langsam mit dieser einzigartigen ostdeutschen Situation rechnet, in der die allgemein zu bewältigenden Probleme des Übergangs hier zu bearbeiten sind. "Die Jahresberichte der Bundesgierung bewegten sich im Analysezeitraum vom Pol der 'nachholenden Modernisierung' weiter in Richtung Gegenpol 'doppelter Umbruch', ohne indes die Maßgaben der nachholenden Modernisierung vollständig abzustreifen, hinter sich zu lassen, aus deren Schatten herauszutreten." (84) Die wegen anstehender Wahlen und Jahrestage von den vier großen Parteien erstmals ausgearbeiteten speziellen Programme für Ostdeutschland bestätigen den von Koch beobachteten Trend. Diese Leitbilder könnten eine "aktuelle gesellschaftsstrategische Funktion" haben, "die Gesellschaft (primär im Osten aber auch im Westen) von den Denk- und Handlungsschemata einer 'nachholnden Modernisierung' des Ostens zu emanzipieren [und] auf eine 'offene Zukunft' praktisch-geistig vorzubereiten." (102)
Ähnlich veränderten sich auch die Berichte der Massenmedien über den Osten und über die Ostdeutschen. Sie wurden insgesamt weniger, fallen nach politischer Lagerzugehörigkeit der Medien verschieden aus. In der Masse zeichneten (und zeichnen) sie das Bild des passiven, hilfsbedürftigen und belastenden Ostdeutschen. Doch auch hier deutet sich eine Wende an. Langsam findet sich bei Medien aller ideologischen Lager, was bei den linksorientierten überwiegt: Ostdeutsche als aktive Subjekte. Dennoch: was durch die politische Gestaltung der Medienlandschaft nach 1990 verursacht wurde, die "diskursive Subalternisierung", ist keineswegs überwunden. "Ostdeutsch" hat "sich als sprachlicher Ausdruck für Anderssein, Devianz, Schwäche, Passivität, Verlorensein und Verlieren, Hilfsbedürftigkeit und gesamtgesellschaftliche Belastung" (140/41) in der Medienöffentlichkeit allgemein festgesetzt - abgesehen von einer schwachen ostdeutschen Teilöffentlichkeit, die von der "SUPERIllu" und ostdeutschen Lokalseiten bis zur "Jungen Welt" reicht.
Kollmorgen und Hans haben zwar die optimistische Prognose, dass bei entsprechender Einsicht der „bis heute so wirkungsmächtige circulus vitiosus zwischen diskursiver und materieller Herrschaftspraxis“ (160) überwunden werden könnte. Doch sie sind auch Realisten: „in fortbestehender Korrespondenz von sozioökonomischer und staatspolitischer Praxis einerseits und massenmedialem Diskurs andererseits wird der Osten auch in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren durch die (westdeutschen) Leitmedien nicht wirklich wiedergewonnen.“ (159)
Den Abschluss des ersten Teils bilden drei Beiträge, die sich bildhaft-ästhetischen Kommunikationsformen nähern und damit auch den möglichen Übergang zur kulturwissenschaftlichen Untersuchung andeuten. Gabler verfolgt die Geschichte der sog. „Wenderomane“ als „Diskurs der Unbegreiflichkeit“ (170), von Volker Braun („Das Eigentum“) in die Formel gefasst:
„Was ich niemals besaß wird mir entrissen.
Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen.“
Diese knappe Übersicht belletristischer „Verarbeitung“ der gesellschaftlichen Umbrüche lässt erkennen, dass es an der Zeit wäre, die sozial- und politikwissenschaftliche Diskursanalyse durch gleich intensive kulturwissenschaftliche Untersuchungen zu komplettieren. Denn letztlich wird die Macht der Apparate und Strukturen nur über die individuellen lebenspraktischen Aneignungs- und Verarbeitungsweisen wirksam. Künstler repräsentieren sie als Individuen und Produzenten auf exemplarische Weise. Dies wird von Gabler u. a. knapp und aufschlussreich am Vergleich zweier Romane der „zweiten Phase“ vorgestellt. Einerseits ist das der souverän geschriebene, politisch korrekte ideologische Tendenzroman von Uwe Tellkamp („Der Turm“), dem hier Ingo Schulzes („Adam und Evelyn“) gegenübersteht. Dessen ästhetisch überzeugende Gestaltung „beschreibt weniger einen unbegreiflichen Verlust“ (wie die „Wenderomane der ersten Phase), der abrupte Wandel der Lebenswelten ist bei ihm eher ein „unbegreifliches Geschehen“ (187), mit dem seine Protagonisten auf widersprüchliche Weise umgehen können.
So wie Gabler mit interessanten Hinweisen auf jüngste Belletristik („Konstituierung der Genregeschichte und nachgeholte Melancholie“) eine weitere Phase kontroverser Wenderomane erwartet, möchten auch Nölting, Schröder und Marotz gern eine Änderung im Kanon der symbolischen Zeichen erkennen, in dem sich durch die massenmedial vermittelten Bilder vom Osten und dem Ostdeutschen verfestigt hat. Sie konstatieren eine „bildliche Leerstelle“ (215) was beispielhafte kreative Projekte im Osten betrifft, „die Bilder dazu sind noch vage, sie machen keine großen Versprechungen. Daher bezeichnen wir solche Bilder als latente Bilddiskurse“. (215) Die „fotografischen Randnotizen“, die Sören Marotz als „Bild-Zwischen-Raum“ (S.225 – 245) beisteuert, bestätigen diesen Befund. Verstärkt noch durch die drucktechnisch bedingte flache Gradationskurve erscheint der Osten hier grau und grau.
Der zweite Teil schließt daran, denn hier erfahren wir, was „die Menschen draußen im Land“ über die Situation denken und wie sie ihr eigenes Befinden reflektieren – hier allerdings im statistischen Durchschnitt des Gesamtdeutschen wie der beiden Teildeutschen. Hier werden von Hansch, Liebscher und Schmidtke Bevölkerungsumfragen zum Einigungsprozess befragt. Und obwohl deren Anlass meist politische Bestätigungsbedürfnisse an Jahrestagen waren, sind sie dennoch aussagekräftig und können ein Korrektiv der gelenkten öffentlichen Kommunikation wie der politischen Diskurse sein. Die hohe Übereinstimmung in Wertvorstellungen signalisiere fortgeschrittene „innere Einheit“, bedenklich sei aber sowohl die breite Unzufriedenheit mit dem Einigungsprozess als auch der gewachsene Anteil derer, die keine guten Zukunftserwartungen haben. Im Osten sind es die Frauen unter 25, von denen mehr als die Hälfte glauben, dass sich ihr Leben in den nächsten fünf Jahren „vermutlich verbessert“, im Westen sind die gleichaltrigen Männer solche vorsichtigen Optimisten. Von Hundert Durchschnittsdeutschen teilen solche Erwartungen allerdings nur 21 im Westen und 16 im Osten.
Zwischen 2000 und 2010 stieg der Anteil der Ostdeutschen, die sich als richtige Bundesbürger fühlen, von 20 auf 25 Prozent. Bei einem Haushaltsnetto von mehr als 2000 Euro sind es allerdings schon 45% und bei den unter Fünfundzwanzigjährigen fühlen sich bereits 39% so. Allerdings könnte es verstimmen, dass nur die Hälfte der beamteten Ostdeutschen sich als richtiger Bundesbürger fühlt (2007).
Auf wahrscheinliche Ursachen solcher Defizite macht im Anschluss Kollmorgen aufmerksam, der die ambivalente Anerkennungslage der Ostdeutschen an rechtlichen, sozialstrukturellen und soziokulturellen Subalternisierungsprozessen kritisch beleuchtet Im Folgebeitrag werden ostdeutsche Zukunftspotenziale abgewogen und als Ausweg aus Ratlosigkeit ein Pfadwechsel hin zu einem sozialökologischen Umbau vorgeschlagen (Thomas). Schließlich wird gefragt, wo und wie Einheit erfahren und diskutiert werden kann, welche "Formate" an Bürgerbeteiligung da aussichtsreich sein können (Dienel).
Wawer und Riedel fragen, „welche Mittel bleiben jenen, die mit der Berichterstattung oder Wahrnehmung der Deutschen Einheit unzufrieden sind?“. Und mit Blick auf die Artikulationsmöglichkeiten der Ostdeutschen („Demonstrationen, Umfragen, Leserbriefe) stellen sie eine spezielle Form von Bürgerbeteiligung vor: Online-Dialoge. Sie berichten über die Erfahrungen, die sie mit Konzept, Realisierung und Auswertung des Online-Dialogs „Unsere deutsche Einheit“ gemacht haben, an dem sich vom 1. Januar bis zum 9. Februar 2009 ca. 7.000 Personen beteiligt haben.
Der abschließende Beitrag von Rolf Reissig kann die hier vorgestellten Forschungsergebnisse in der Forderung zusammenfassen, den Einheitsdiskurs grundlegend zu wenden. Es könne nicht weiter um die Angleichung des Ostens gehen, angemessen sei nur ein offener Umbruchs-, Wandlungs- und Gestaltungsdiskurs eines neuen, zukunftsfähigen Deutschlands. Dabei habe der Osten zu akzeptierende Eigenheiten. Dies schon, weil hier ein "doppelter Umbruch" bewältigt werde: die Folgen der postsozialistischen Transformation müssten ebenso abgearbeitet werden wie zugleich auf die Herausforderungen der postmodernen Transformationen zu reagieren sei. Gelingen könne das nur in einem anzustrebenden "politisch pluralistischen Gemeinwesen", in dem Vielfalt und Unterschiede der Lebensleistungen, Erfahrungen und Wertorientierungen akzeptiert sind.
Man möchte Rolf Reißig hier unbedingt zustimmen, doch nach der Lektüre aller analytischen Beiträge des Bandes mag man doch eher daran zweifeln, dass die deutschen Eliten (die westdeutsch sind und das auch bleiben werden) einen solchen Perspektivenwechsel wollen können. Und es scheint gleichfalls nicht wahrscheinlich, dass die subalternen Ostdeutschen solche relevanten Lösungen zu entwickeln in der Lage sein werden, die die hegemonialen Kräften auch zu akzeptieren vermögen.
Da genügt es schon, die sehr ausgewogene Studie von Raj Kollmorgen über die „Formen und Mechanismen der Missachtung Ostdeutscher nach der Vereinigung“ (301-359) zu lesen. Sie reichen von der „rechtsursprünglichen Inferiorität der Ostdeutschen qua ‚Inkorporation’“ (344) über die sensiblen Formen der Selbstrekrutierung der Eliten, die Mechanismen westdeutscher Medienmacht bis zu den wachsenden sozialen Unterschieden und zur inneren Widersprüchlichkeit der Ostdeutschen selbst, die sowohl nach Assimilation streben als auch in der Subalternität sich einen identitätsstiftenden Raum sichern wollen.
Es beeindruckt schon, welch komplexer Art und Vielfalt die Mechanismen der Subalternisierung der rechtlich weitgehend gleichgestellten Ostdeutschen sind. „So sehr die Ostdeutschen als Staats- und Wohlfahrtsstaatsbürger rechtlich anerkannt sind, soziokulturell und in dessen Folge auch sozialstrukturell – bleiben sie bis heute Subalterne. Zugleich sehen sie sich jedoch in ihrer Missachtung keinem strategisch handelnden Akteur gegenüber. Weder ‚die Westdeutschen’, klar abgrenzbare westdeutsche Elitefraktionen noch relevante ökonomische oder politische Korporativakteure verfolgen eine konsistente Ungleichheitsstrategie gegenüber ‚den’ Ostdeutschen.“ Und es handelt „auch bei den Ostdeutschen nicht um ein kollektives Handlungssubjekt … als Voraussetzung für den erfolgreichen ‚Kampf um Anerkennung’ (Axel Honneth)“ (341/42). Da Kollmorgen überdies nicht erwartet, dass die Ostdeutschen zukünftig - in Analogie zur Arbeiter- oder Frauenbewegung – Korporativakteure bilden, die für ihre sittliche und soziokulturelle Anerkennung kämpfen, muss man wohl ihrer zukünftigen Gleichstellung gegenüber skeptisch bleiben. Das gilt auch für die sinnvollen Vorschläge, die Kollmorgen für die Politik bereithält. Wirtschaftspolitisch sollte durch Eigentumsbildung der Anteil der Ostdeutschen am ostdeutschen Produktivvermögen (jetzt gut 20 Prozent) deutlich vermehrt werden, eine neue Gleichstellungspolitik sollte den Elitenanteil der Ostdeutschen (im Osten jetzt 30 Prozent, bundesweit knapp 5 Prozent) deutlich erhöhen. Anders käme es auch zu keiner Wende in den sozialkulturellen und sozialmoralischen Diskursen (prägend Massenmedien und Bildungswesen), derer sich auch „Gleichstellungsräte“ anzunehmen hätten. Doch eine „wirkliche diskursive Hegemonieverschiebung oder –transformation“ käme ohne „sozioökonomische , sozialstrukturelle und soziopolitische Umsteuerungen, Reformen und veränderte Machtverhältnisse zwischen Ost und West“ nicht zustande. Und schließlich wird von Kollmorgen auch noch die Liebe als ein Mittel zur „Aufhebung wechselseitiger Unkenntnis, von Anerkennungsmängeln, Exklusionen und auch der Aufrechterhaltung materieller Ungleichheiten zwischen Ost- und Westdeutschen“ erwogen und angemerkt, dass ohne deutsch-deutsche Familiengründungen die zur Vererbung anstehenden gigantischen Vermögen des Westens wohl für immer dort bleiben werden. Blickt man auf die aktuellen Daten zur Vermögensverteilung (Frick/Grabka/Hauser, Die Verteilung der Vermögen in Deutschland, Berlin 2010 – http://www.boeckler.de/22646_22654.htm), so sieht man schnell, dass weder die deutsch-deutschen Wanderungsbewegung noch die „individuelle Geschlechtsliebe“ die sukzessive Vergrößerung der Ost-West-Vermögensunterschiede aufzuhalten vermochten: während das Vermögen westdeutscher Männer zwischen 2002 und 2007 sich um gut 20 Prozent vermehrte, schrumpfte das der Ostdeutschen Männer in dieser Zeit um gut 10 Prozent (2007 waren es absolut 126.422 € männliches Westvermögen zu 34.244 € pro durchschnittlichem Mann im Osten, hier Günter Jauch und andere besser betuchte Zugewanderte eingeschlossen).
Michael Thomas kann Zukunftsgewissheiten gewinnen, in dem er Daten solch fortschreitender sozialer Spaltung beiseite lässt und auf die letale Krise des fordistischen Entwicklungsmodells setzt. Damit lässt er sowohl die unbekümmerten Verfechter nachholender Anpassung als auch die Realisten hinter sich, die die Aussichtslosigkeit dieser Strategie nachweisen und fatalistisch das Mezzogiorno erwarten. Der Osten dürfe nicht länger als Transformationsgesellschaft betrachtet werden, sondern als Moment des allgemeinen, des globalen Umbruchs – einer zwingend notwendigen „Wende zu einem ressourceneffizienten, ressourcensparenden Pfad“ (377). Erst dieser Blickwechsel lasse Verstöße als Vorstöße erkennen, mache die wirklichen ostdeutschen Zukunftspotenziale sichtbar, die heute „im Gestus der Kolonialisierung zerstört werden“ (366). So deutet er „Konturen eines Pfadwechsels“ an und verweist auf Zukunftspotenziale (neue Selbstständige, pragmatische Koalitionen, Gleichstellungsvorsprung, spezifische innovative Räume, Umbruchkompetenz u. a.): „nirgends (bisher) so viel Leerstand, nirgends (bisher) so viel Abwanderung, nirgends (bisher) eine so alte Bevölkerung. Die Wachstumsrankings weisen konsequent den Osten auf die hinteren Plätze. Hier aber muss und kann Zukunft erfunden werden.“ (382)
Blickt man auf die globale soziale Lage und auf die Verteilung der Reichtümer dieser Welt, ist dieses „hinten“ der Ostdeutschen ganz vorn und oben. Doch der anstehende Umbruch, der Abschied von der Überfluss- und Verschwendungsgesellschaft, dürfte Ostdeutschen leichter fallen, weil sie seit Generationen auf Mangel- und Selbsthilfeerfahrungen zurückgreifen können. Möglicherweise wird es sich noch auszahlen, dass sie keine Westdeutschen werden konnten.
Muss man dieses Buch über innere Angelegenheiten der Deutschen lesen? Zu empfehlen ist es schon. Die drei Herausgeber haben einen Band zusammengestellt, der das ganze Spektrum der jüngsten Reflexionen über den ostdeutschen Umbruch und den Einigungsprozess präsentiert, kritisch beleuchtet und zukunftsorientiert Szenarien möglicher Entwicklung zur Diskussion stellt. Es könnte auch das Überlegenheitsgefühl derer stärken, die „hinten“ sind und sich eigensinnig in eine andere Richtung bewegen. Ob sie an Einfluss auf den Einheits- und Entwicklungskurs der Deutschen gewinnen werden, darf bezweifelt werden – obwohl in mehreren Beiträgen nachgewiesen wird, dass sich auch bei den Diskursmächtigen etwas regt.
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