KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
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RezensionKulturation 2017
über Iriye, Akira; Osterhammel, Jürgen (Hrsg.):
Weltgeschichte Band 1 - 6
Dieter Kramer
Globalgeschichte und europäischer Sonderweg
Iriye und Osterhammel: Geschichte der Welt
Iriye, Akira; Osterhammel, Jürgen (Hrsg.): Geschichte der Welt. C.H.Beck, Harvard Up. 2012 ff.

Eine Orientierungshilfe
Es braucht neue Bilder und Begriffe, um in einer sich radikal verändernden Welt Orientierung zu gewinnen. Die Kulturpolitische Gesellschaft veranstaltet im Juni 2017 in Berlin ihren 9. Kulturpolitischen Bundeskongress „Welt.Kultur.Politik“ zu dem Thema „Kultur und Globalisierung“. Der „gravierende Wandlungsprozess, der die Grundlagen unseres Zusammenlebens in den nächsten Jahren und Jahrzehnten verändern wird“ (Norbert Sievers, Kulturpolitische Gesellschaft) bezieht sich nicht nur auf neue Technologien und andere Innovationen, sondern auch auf globale Beziehungen und Herausforderungen.

Helfen kann in dieser Situation die „Geschichte der Welt“ (C.H.Beck, Harvard Up) in sechs gewichtigen Bänden (von denen vier erschienen sind), herausgegeben von Akira Iriye (Harvard) und Jürgen Osterhammel (Konstanz) (s. die Liste der Bände am Schluss). „Weltgeschichte ist lange Zeit als eine Geschichte des Aufstiegs und Niedergangs einer kleinen Zahl von ‚Hochkulturen‘ geschrieben worden. … Das neue sechsbändige Werk zur Weltgeschichte … verabschiedet sich von diesen Traditionen. Es verleugnet die Errungenschaften des Westens nicht, stellt sie aber in den größeren Zusammenhang gleichzeitiger Entwicklungen in anderen Teilen der Welt. … Die Aufmerksamkeit richtet sich auf bisher wenig beachtete Querbeziehungen und Wechselwirkungen“ (die Herausgeber im Klappentext von Band 6).

Die Themen:
Aufgekündigte Selbstverständlichkeiten
„Modernität“ und „Zivilisiertheit“
Getrennt, aber interagierend
Hierarchien
Konsumwelten und Anthropozän
Dezentrierung Europas
Die Bände 1-6

Aufgekündigte Selbstverständlichkeiten
Die privilegierte, gleichwohl wenig krisenfeste und nur gering belastbare Situation Europas, insbesondere Deutschlands, ist dabei unübersehbar. „Es wird immer schwieriger, darüber hinwegzusehen, dass wir hier in Europa auf Kosten der Armen in aller Welt leben. … Sie werden kommen, die Kriegsopfer, die Ausgebeuteten. Und sie werden uns nicht fragen, ob uns das recht ist.“ (Johannes Steffens in einem Leserbrief, TAZ Die Tageszeitung v. 26/27. April 2016 S. 27)

Zerbrechende Selbstverständlichkeiten des Wertesystems unseres Grundgesetzes infolge der zunehmenden Kluft zwischen Arm und Reich und durch neuen Nationalismus signalisieren im Inneren die drohende Zerstörung der ideellen Lebensgrundlage. International gibt es immer mehr Kräfte, die sich nicht an die mühsam erarbeiteten Grundlagen des Völkerrechts und der UN-Völkergemeinschaft halten, nicht zuletzt auch in den USA und in Russland. Die „Weltvernunft“ und das Projekt der Aufklärung stehen unter Druck. Sie müssen sich behaupten in einer Situation, in der die europäisch-atlantische Welt nicht mehr das Zentrum ist.

Im 5. Band der „Geschichte der Welt“ von 2012 (1870-1945) heißt es: „Noch vor zwei oder drei Jahrzehnten hätte eine neuzeitliche Weltgeschichte Europas unbesorgt unter dem Motiv des ‚europäischen Sonderwegs‘ daherkommen können. Heute versucht man, diese Frage jenseits europäischer (oder ‚westlicher‘) Selbstgefälligkeit zu studieren und nimmt dem Sonderweggedanken durch Verallgemeinerung und Relativierung seine Schärfe.“ (5, 21) Dass in anderen Teilen der Welt vielfach ähnliche Prozesse wie in Europa abliefen, zeigt dieser globale Blick. Und erkennbar wird die wechselseitige Beeinflussung nicht nur dieser parallelen Prozesse, sondern auch, dass an dem Gesamtprozess alle Milieus aktiv beteiligt sind, auch die der „Subalternen“, die gar nicht nur „Unterworfene“ sind: In der Dialektik von Herr und Knecht sind beide miteinander verbunden.

Aber der Ansatz einer „Globalgeschichte“ muss noch weiter gehen: Es geht nicht um die Erkenntnis verschiedener, miteinander verwobener Wege zu einem gleichen Ziel von „Fortschritt“, „Entwicklung“ oder „Moderne“, alle linear und fortschreitend, sondern es geht auch um nichtlineare Prozesse. Es mag sein, dass, die „Errungenschaften“ der „Moderne“ angesichts der multiplen Krisen dieser „modernen“ Wachstumsgesellschaft radikal neu und anders gewertet werden. In einer Evolutions- und Fortschrittsgeschichte verworfene Entwicklungslinien können neue Qualitäten erhalten: Die Bausteine, die die Bauleute verworfen haben, können zu Ecksteinen werden, wie es im biblischen Bild heißt.

„Modernität“ und „Zivilisiertheit“
Seit den Revolutionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts – die in Nordamerika, Frankreich und die erste „schwarze“ (4: 68,71) in Haiti 1791 werden genannt - bildet sich, und das ist das Thema des vierten Bandes (1750-1870), heraus, was als Moderne, Fortschritt, Zivilisation das Denken vielfach bis heute beherrscht, aber nicht mehr das zukünftige Thema der Transformation der wachstumsorientierten Industriegesellschaft in eine überlebensfähige Gesellschaft der Nachhaltigkeit sein muss.
Als Konstruktionen einer „sinnerfüllten raumzeitlichen Einheit“ versucht man Epochen zu unterscheiden (Siegfried Kracauer). Aber das ist nicht immer weiterführend. Es gibt nicht nur „epochale“, sondern auch kontinuierlich über lange Zeiten „ablaufende Hintergrundprozesse“ (etwa in der extraktiven Naturnutzung), und es gibt zu berücksichtigende „Eigenzeiten und lokale Chronologien“ (4, 17). Nicht alle sind in den intellektuellen Diskurs der Kosmopoliten einbezogen - Ideengeschichte ist nur eine Dimension. „Was vielen heute als universalgeschichtlicher Durchbruch erscheint, etwa die nordamerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776, in der sich ‚Erfahrungen und Erkenntnisse von Jahrtausenden‘ bündelten , entfaltete eine globale Wirkung erst in langwierigen Prozessen der Rezeption und Traditionsbildung“ (4, 17), und erst dabei wurde konstruiert, was heute zum programmatischen Allgemeingut gehört, aber vielleicht morgen schon wieder relativiert wird.

Die Herausbildung von „Modernität“ und – eng damit verbunden – „Zivilisation“ mit „Zivilisiertheit“ als angemeldeten Anspruch der europäisch-atlantischen Welt bedeutete die „Abgrenzung des zivilisierten, überlegenen Europa von der übrigen, farbigen Welt“ (4, 143).

„Modern und zivilisiert zu sein wurde zu einem Maßstab, an dem sich eine globale Ordnung orientieren konnte“ (4, 29). Das Narrativ der Zivilisation (4, 464) und das Programm von „Zivilisiertheit“ und „Zivilisierung“ wurde 1750-1870 Teil der „Entfaltung globaler Bewusstseinsformen“ (4, 31, 114, 127/128), verbunden mit der globalen Geschichte der Aufklärung (4, 475f.) und dem Normativ des zivilisierten, rassisch überlegenen Europa (4,142). Es wirkte in der christlichen Mission, auch in den linken Bewegungen fand es seinen Widerhall, und wirkt in manchen Aspekten ebenso als Hindernis für die Wahrnehmung der Anderen wie heute bei manchen Muslimen die fest verwurzelte Vorstellung von der Überlegenheit der eigenen Religion.

Es gab freilich „imperiale Gegenentwürfe zur europäischen Vorherrschaft oder auch das Fortbestehen bedeutender anderer Ideen und Vorstellungen …, die keine Verbindungen zu Europa aufwiesen“ (4, 252) (etwa im Osmanischen Reich, in Indien oder in China): Es gibt keine linearen Weg der „Moderne“. Besonders interessant ist Japan: Es erlebt von 1550 bis 1600 seine Einigung, verzichtet in der dann folgenden Tokugawa-Zeit auf die längst über die Portugiesen bekannten und verbesserten Schusswaffen (3, 161f.; der letzte Einsatz erfolgte im Kampf gegen die japanischen Christen) und blieb an die zweihundert Jahre in einer nur nach innen luxurierenden wachstumsarmen und nicht expandierenden Phase, bis die US-Flotte unter Admiral Perry 1853 (4, 111) die gewaltsame Öffnung für den internationalen Handel erzwang.

Die Geschichte ist nicht zu Ende. „Die regionale Perspektive, die den Zeitraum von Mitte des 18. Jahrhunderts bis in die 1920er Jahre in den Blick nimmt, hilft uns besser zu verstehen, warum die politische Geschichte der Welt nicht mit der Dekolonisation und der Herausbildung der auf Nationalstaaten gründenden Weltordnung endete.“ (4, 253)

Getrennt, aber interagierend
Wolfgang Reinhard, der Herausgeber des dritten Bandes, entwirft in der Einleitung das Programm:„Alle Geschichtskulturen schrieben schon immer die Geschichte ihrer , sei es China oder die klassische Antike oder die Christenheit Europas. Die heutigen Geschichtskulturen hingegen sind immer noch diejenigen der alten und neuen Nationalstaaten und bringen demgemäß nationale hervor.“ (3, 11)

„Länder und Völker in nichtwestlichen Teilen der Welt haben aktiv Geschichte geschrieben und sich nicht einfach nur in eine westlich geprägte Welt eingefügt.“ (6, 11) Sie sind, wie die „Unterschichten“ in der mitteleuropäischen Geschichte, aktiv-passiv beteiligt.

Für die Zeit von 1350 – 1750 schreibt Reinhard: „Die fünf verschiedenen , die unsere Kapitel behandeln, blieben zwar noch getrennt; die entstand sogar erst in diesem Zeitraum. Aber sie begannen zu interagieren und ihre Interaktion steigerte sich in Richtung auf die von heute. In der Tat sind also die Geschichten unserer fünf Welten des globalen Heute und insofern wie jede Geschichte vom Interesse der jeweiligen Gegenwart an ihrer Vergangenheit getragen. Allerdings ist Geschichte als immer nur halbierte Geschichte, denn vergangene Welten existierten nach ihren eigenen Regeln aus eigenem Recht und wussten nichts davon, dass sie unter anderem auch der unsrigen zu sein hatten. Deswegen müssen Historiker sich einer derartigen einseitigen Reduktion aus der Sicht der Gegenwart versagen und stattdessen versuchen, die jeweiligen Vergangenheiten nach deren eigenen Bedingungen zu rekonstruieren. Denn wenn wir zurückblickend deren Geschichten auf unsere Gegenwart zulaufen sehen, erliegen wir einer perspektivischen Täuschung.“ (3, 10/11) Der „aufgeklärte Ethnozentrismus“ weist „dann nach, wie viel Europas Entwicklung“ (die natürlich auf der griechisch-antiken und damit auch auf der persischen und ägyptischen fußt) „vor allem der jüdischen und der islamischen Welt zu verdanken hat und dass andere Kulturen auch später noch ihren eigenständigen Beitrag zur modernen Welt geleistet haben. Denn statt mit der reinen Ausbreitung der westlichen Moderne über den Erdball rechnen wir heute mit ‚vielfältiger Moderne‘“ (3, 11) Und er möchte „von der historischen Nabelschau des Westens zu selbstbezüglichen Geschichten der Andere übergehen …, obwohl er weiß, dass bereits die Formel ‚die Anderen‘ Bestandteil eines unvermeidlich eurozentrischen Diskurses ist.“ (3,11) In diesen Kontext gehört auch die „mentale und kulturelle“ Dekolonisation (3, 12). Wolfgang Reinhard versucht eurozentrische Blickweisen zu transzendieren, „obwohl er weiß, dass bereits die Formel ‚die Anderen‘ Bestandteil eines unvermeidlich eurozentrischen Diskurses ist.“ (3, 11)
Den nächsten konsequenten Schritt, auf Formeln und Begriffe wie „Moderne“ oder „Kulturen“ zu verzichten, vollzieht der Autor nicht. Die „mentale oder kulturelle“ Dekolonisation hat in der Tat, kann man das kommentieren, kaum eingesetzt.

Hierarchien
Das Besondere an dieser neuen „Geschichte der Welt“ ist, dass sie zeigt, wie in anderen Weltteilen Prozesse von ähnlicher Bedeutung abliefen wie die im Westen. Die Autoren nehmen es ernst, dass die Geschichte sich nur „im globalen Kontext und nicht im Rahmen eigenständiger National- oder Regionalgeschichten begreifen lässt.“ (6, 9) Seit den „Entdeckungen“ laufen zahlreiche Kontakte in beiden Richtungen.

Immerhin, es hat sich dennoch in einigen Bereichen eine auch materielle Hierarchie entwickelt. Erst sah es noch nach Geben und Nehmen aus: Nach Columbus erfolgte der „biologische Austausch“ mit Tieren (Pferden vor allem) und Nutzpflanzen (Mais, Süßkartoffel, Kartoffel, Tabak (3, 774-776), schließlich die Seuchen, mit denen die Bevölkerung der neuen Regionen dezimiert wurde (3, 777).

Später wurde daraus Hegemonie: „Westliche Industriestaaten profitierten von offenen Märkten, weil diese es ihnen erlaubten, die Nachfrage nach ihren Produkten zu steigern, und weil sie besseren Zugang zu Rohstoffen und Agrarprodukten versprachen.“ (4, 377). Die Atlantik-Charta von 1941 versprach den Völkern das Recht, selbstbestimmt zu leben und gleichzeitig offenen Welthandel. Aber das Leben in der Würde der eigenen Kultur und freier Handel vertragen sich nicht immer. Im Dokument über vertrauensbildende Maßnahmen der KSZE-Schlussakte von Helsinki zwischen Ost und West (OSZE-Verträge) vom August 1975 vereinbaren die Staaten, „dass ihr Handel mit den verschiedenen Waren auf eine solche Weise erfolgen soll, dass auf den Inlandsmärkten für solche Waren und insbesondere den inländischen Erzeugern gleichartiger oder unmittelbar konkurrierender Waren keine ernstliche Schädigung – gegebenenfalls eine Marktstörung bzw. Marktzerrüttung – entstehet oder zu entstehen droht“ (Gasteyger, Curt: Europa zwischen Spaltung und Einigung. Darstellung und Dokumentation 1945 – 2005. Überarbeitete Neuauflage. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2005, 277). Die aktuell diskutierten Freihandelsverträge nehmen darauf keine Rücksicht. Da hat nicht nur die „exception culturelle“ ihre Berechtigung.

Erst Recht nach 1945 gibt es ein „bis dahin nicht gekanntes Maß an grenzüberschreitenden Interaktionen“. Wolfgang Reinhard, der Herausgeber von Band 3, schreibt an anderer Stelle für das 20. Jahrhundert (und deutet damit an, was in der „Geschichte der Welt“ nicht genügend behandelt wird): „Man betrieb eine nachfragefremde Industrialisierungspolitik, investierte in Prestigeprojekte, in den Ausbau der Militär- und Staatsapparate, bewertete die Landeswährungen zu hoch, vernachlässigte die Landwirtschaft und verschuldete sich im Ausland. … Dazu kam die politische Notwendigkeit, durch großzügige Aufwendungen die staatstragenden Gruppen für die noch instabilen Regime zu gewinnen. In den siebziger Jahren war die Prosperität dann weltweit zu Ende. Zugleich explodierten die Energiekosten … Der Finanzmarkt allerdings war von Petrodollars überschwemmt; den krisengeplagten Ländern in Lateinamerika, Afrika und Asien wurden Kredite nun fast nachgeworfen. Die Schuldenfalle klappte zu. Ab 1981 hatten viele Länder keine andere Wahl, als sich den Strukturanpassungsprogrammen der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds zu unterwerfen. Sanierungskredite gab es für den Preis einer Liberalisierung des Außenhandels und einer Abwertung der Landeswährung. Ferner mussten die Staatsbetriebe privatisiert und die Staatsausgaben reduziert werden …“ (Reinhard, Wolfgang: Kein Platz an der Sonne. Der Mittlere Osten zerfällt. In Afrika versinken Staaten im Bürgerkrieg: Welche Verantwortung tragen die einstigen Kolonialmächte? In: Die Zeit v.3. März 2016).

Wolfgang Reinhard macht auch in seinem Buch „Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415 – 2015 (München: C.H.Beck 2016) deutlich, dass die europäische Expansion „keineswegs ein gradliniger, unaufhaltsam voranschreitender Prozess war“, sondern vielmehr „Ergebnis eines großen Geflechts von Voraussetzungen und Zufällen“, und er „verdeutlicht, dass der Kolonialismus keine Einbahnstraße war, auf der kolonisierte Gesellschaften lediglich auf europäische Initiativen reagierten oder bestenfalls mit ihnen umgingen.“ (Rez. In Die Zeit v. 4. Mai 2016). Wie sich das „zuhause“ niederschlug und bis in die Selbstverständlichkeiten der „Kolonialwaren“ und der Mission wirkte, oder wie dort auch andere Perspektiven von humanistischen, liberalen und sozialistischen Kräften diskutiert wurden, das ist eine andere, eher vernachlässigte Frage.
Nach 1945 wird der us-amerikanische Einfluss immer dominanter (es wird auch in der „Geschichte der Welt“ gern das unscharfe Attribut „amerikanisch“ verwendet). „‘Offene Türen‘ umfasst in diesem Fall den Zugang zu Märkten, die Freiheit und Expansion des Handels- und Finanzverkehrs sowie weltweite enge wirtschaftliche Verflechtungen und Abhängigkeiten.“ (6, 186) In der Ökonomie des „Kalten Kriegs“ ist freier Wettbewerb begrenzt. „Geschlossene und offene Türen“ gibt es, wenn Entwicklungshilfe, OPEC und Erdöl, Versuche des „Dritten Weges“ wie im Chile zur Zeit von Salvador Allende genannt oder die systematische Verschuldung Afrikas und die Einkaufstour des reich gewordenen Japan beschrieben werden. „Offene Türen“ schließlich gibt es mit der Deregulierung des Kommunikationsmarktes, der Kapitalmärkte und der Integration der verschiedenen Staatengruppen (6, 183 -356).
Leider werden Rüstung, Militarisierung und Abrüstung in ihrer direkten und indirekten Bedeutung für diese Hegemonie zu wenig behandelt. Dass McNamara (er wird nur einmal in anderem Zusammenhang erwähnt) die exzessive atomare Rüstung später als Sackgasse bezeichnet hat, wird ebenso wenig thematisiert wie die auch für Politiker bewegende Warnung der Wissenschaftlerkonferenz von Erice in Sizilien vor dem „nuklearen Winter“ als Folge der Staub- und Rauchwolken auch bei kleineren Kriegen mit Kernwaffen.

Konsumwelten und Anthropozän
Ein dynamischer Kulturbegriff liegt zugrunde. Kulturen werden nicht betrachtet als „geschlossene Monaden, die im Grunde keinem Fremdverstehen zugänglich sind, sondern als offene Gebilde, die sich in ständiger Transformation befinden, nicht zuletzt infolge ständiger Interaktion mit anderen Kulturen.“ (3, 14) Vermieden wird „von einer wie auch immer gearteten einzigen ‚Triebkraft‘ der Geschichte auszugehen“: Weder Geographie, Staaten, Gemeinschaften noch Ökonomie werden als allein strukturierende Elemente angesehen (5, 11). Die Autoren nehmen es ernst, dass die Geschichte sich nur „im globalen Kontext und nicht im Rahmen eigenständiger National- oder Regionalgeschichten begreifen lässt.“ (6, 9)

Wichtig ist die „zentrale Rolle des Konsums für die Entstehung einer globalen Kultur“ (6, 572). Trotz zunehmender kultureller Homogenisierung bleibt kulturelle Vielfalt erhalten; globale Konvergenzen beziehen sich zwar auf den „Weg zur globalen Konsumgesellschaft“; dem kulturellen Konformitätsdruck trotzt jedoch „lokale Vielfalt. Die Parallelität von Vielfalt und Homogenisierung ist charakteristisch. Es „transportieren Waren und Kulturprodukte wie Musik und Film keine ihnen innewohnende feste, normative Bedeutung, die eng mit ihrem Herkunftsort verknüpft ist. Der Verzehr eines Hamburgers bei McDonald´s hat für einen Taiwanesen oder Holländer nicht die gleiche kulturelle Bedeutung wie für einen Amerikaner. Der kulturelle Sinngehalt von Konsumgütern fällt je nach kulturellem Umfeld unterschiedlich aus.“ (6, 573). Das ist für viele Ethnologen inzwischen eine Selbstverständlichkeit; neue Akzente für diese Interpretation würden sich ergeben, wenn man dies sähe als „imperiale Lebensweise“ (Brand, Ulrich; Wissen, Markus: Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalem Kapitalismus. München: Oekom 2017), wie sie nur in Teilen der Welt praktiziert wird.

Konsum und Kalter Krieg bzw. Systemkonkurrenz hängen zusammen. „Vor allem Deutschland und Japan wurden nach dem Krieg zu Laboratorien für die amerikanische Version der Konsumentendemokratie“ (6, 577) und den unterstellten Zusammenhang von Prosperität und Demokratie. Die „Küchendebatte“ zwischen US-Präsident Nixon und Nikita Chruschtschow von 1959 steht symbolhaft für das Dilemma der ressourcenverschlingenden Wachstumsgesellschaft: Amerikanische Hausfrauen wollen immer wieder neue modische Küchen, in der Sowjetunion halten die Küchen angeblich länger (6, 578/579).

Immer wieder aber werden auch Pfadabhängigkeiten erkennbar. Gesetze und Regelungen für einzelne Bereiche wie z. B. Lebensmittelrecht sind in verschiedenen Staaten unterschiedlich. Das gehört zur Vielfalt und ist gleichzeitig Hinweis auf Spielräume und Gestaltungsmöglichkeiten.

Es gibt nach 1945 ein „bis dahin nicht gekanntes Maß an grenzüberschreitenden Interaktionen“. „Länder und Völker in nichtwestlichen Teilen der Welt haben aktiv Geschichte geschrieben und sich nicht einfach nur in eine westlich geprägte Welt eingefügt.“ (6, 11)

In den Blick gerät der gemeinsame „natürliche Lebensraum“ und dessen Bedrohung (6, 10; 357ff.). Die Zerstörung der ideellen Lebensgrundlage sowohl im Inneren wie auch in den internationalen Beziehungen, noch vor wenigen Jahren von Kofi Annann intensiv beschworen, schreitet voran. Viele Bedrohungen kommen derzeit vor allem aus den „gescheiterten Staaten“ im Nahen Osten und Afrika. Sie haben historische Gründe, aber nicht nur der Kolonialismus spielt eine Rolle. Bedrohlich sind auch die Verwerfungen, die aus dem unkontrollierbaren raschen Wechsel von freiem Markt zu Protektionismus entstehen könne, wie er in den USA, Großbritannien und Frankreich droht.

Zwar, und da ist die These zu dem „neuen Limes“ zwischen den reichen und armen Staaten einleuchtend, scheinen heute die Verantwortlichen der Finanzwelten nichts dagegen zu haben, dass Regionen der Armut jenseits des „Limes“ als „failed states“, als zerfallende Staaten unkontrollierbar werden. Aber sie strahlen aus, sie beeinträchtigen und beunruhigen auch die reichen Regionen. Es geschieht durch eingeschleppte Wanzen und Flöhe in den Luxushotels, durch Krankheiten übertragende Schadinsekten, durch Seuchen. Wanzen, Zika-Virus und schließlich Terrorismus – das sind verschiedene Ebenen der Gefährdung (Haarhof, Heike: Zika-Virus, TAZ Die Tageszeitung 3.Februar 2016, ein Gespräch mit dem Virus-Experten Thomas Mettenleiter).

Das 21. Jahrhundert beginnt angesichts der Terrorakte 2001 mit wenig Zuversicht. Samuel Huntington und sein „Kampf der Kulturen („The Clash of Civilizations“) steht gegen Kofi Annan (8, 805) und sein „Manifest für den Dialog der Kulturen“ (Die Vokabel vom „Dialog der Kulturen“ ist nicht auszurotten, obwohl sie zu Essentialisierung verführt. Eigentlich sind es immer nur unterschiedlich kulturell, religiös, historisch geprägte Individuen, die auf verschiedenen Ebenen miteinander in Kontakt treten). „Allzu simple Vorstellungen vom Konflikt und der Unvereinbarkeit von Kulturen, Religionen oder Ethnien“ müssen überwunden werden. „Was man brauchte, war eine Sichtweise, die Welt und Menschheit als divergierend und vereint, lokal und global zugleich betrachtete.“ (8, 806)

Dezentrierung Europas
In der Phase von 1350 bis 1750 fallen wichtige Vorentscheidungen auf dem Weg zu einer „Einheit der Menschheit“, auch wenn die vergangenen Welten „nach ihren eigenen Regeln aus eigenem Recht“ existierten und es keine Teleologie gibt, wohl aber eine „Akkumulation von Kontingenz, die irgendwann irreversibel wird“ (3, 11): Das ist eine interessante Formel (hoffentlich gilt das nicht auch für die Welt des frühen 21. Jahrhunderts!). Gerechnet wird „mit einer Hierarchie von verschachtelten ‘Welten‘ mit jeweils intensiverer Binnenkommunikation und relativ schwächerer Außenkommunikation“ (3, 15).

Erkennbar wird im 3. Band die „Rückständigkeit“ Europas zu Beginn der Neuzeit. Ihm fehlen militärische und ökonomische Möglichkeiten, die andere zwar haben, aber nicht so nutzen, wie Europäer das später tun. Zitiert wird John Darwin (Oxford): „Sieht man … von oben auf Eurasien am Ende des 14. Jahrhunderts, so spielen europäische Staaten im Geflecht der wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Netzwerke kaum eine Rolle“. Es stellt „sich die Position Europas um 1400, global betrachtet, äußerst düster dar. Es waren Muslime, die den Welthandel kontrollierten, und der wichtigste Herrschaftsverbund hieß China, das eine in Europa zu dieser Zeit noch nicht einmal ansatzweise erkennbare politische und kulturelle Einheit aufwies.“ (3, 371) Auch die europäische Expansion 1492-1498 ändert zunächst nichts daran. Der Handel außerhalb des Atlantik bleibt überwiegend in der Hand von Moslemkaufleuten, arabische Nautik und Netzwerk sind Ende 15. Jahrhundert führend.

Der Weg „Von der Versorgungs- zur Produktionswirtschaft“ wird von Wolfgang Reinhard eurozentrisch-wertend beurteilt: „Um 1350 konnte in Europa kaum mehr von Subsistenzwirtschaft im Sinne eines geschlossenen Systems von Erzeugung und Verbrauch im selben Haus oder auf demselben Gute die Rede sein. Aber das bestehende System von geld- oder naturalwirtschaftlichen Abgaben und Märkten, von Gewerbe und von Handel orientierte sich nicht nur ideologisch, sondern überwiegend auch in der Praxis immer noch an der Versorgung der Menschen, das hieß meistens: an der Befriedigung elementarer Bedürfnisse eines bescheidenen Lebensstandards, der allzu oft nicht weit vom Existenzminimum entfernt war. Die Vorstellung wirtschaftlichen Wachstums durch wirtschaftliche Produktivität war unbekannt. Man ging stattdessen von einer gleichbleibenden Gütermenge aus, die so verteilt werden musste, wie es recht und billig war, das hieß: so, dass jeder genug zu leben hatte. Nichtsdestoweniger wies die Agrarwirtschaft des lateinischen Europa, die sich im Frühmittelalter entwickelt hatte, vielversprechende Eigenschaften auf. Die nordalpine Dreifelderwirtschaft kombinierte nämlich in weltgeschichtlich ziemlich außergewöhnlicher Weise Ackerbau und Viehzucht.“ (3, 753) Damit verfügte sie über potente Zugtierkraft, Heuwirtschaft und Dünger. „Dazu kam die einfache, aber vielseitig verwendbare Technologie der Wasser-und Windmühlen, deren Ausbreitung wie das ganze System unter anderem durch das Eigeninteresse von Grundherren als Inhabern des Mühlenbannes gefördert wurde.“ (3, 753) Es gab freilich in anderen Weltteilen ähnliche Strukturen (der Wendepflug z. B. war auch in Südostasien entwickelt), und Wasser- und Windkraftnutzung war auch verbreitet, Bewässerungssysteme und Düngerverwertung zur Erhöhung der Bodenfruchtbarkeit waren anderswo (z. B. in China) besser entwickelt. Aber nicht überall wurden die sozialkulturellen Bindungen des wirtschaftlichen Handelns so erfolgreich zugunsten der „Entbettung“ des Marktes so erfolgreich zerstört wie in Europa.
Es kommt nicht nur darauf an, zu fragen, wie heute die Globalisierung und mit ihr die anderen Welten einflussreich in unsere Welt hineinragen, sondern auch darauf, den eurozentrischen Blick aufzubrechen. Dezentrierung, Provinzialisierung Europas sind die einschlägigen Stichworte, aber ein neuer industriegesellschaftlicher Zentrismus, für den alt- und neuindustrialisierte Regionen der Maßstab einer weltumfassenden „Moderne“ sind, genügt nicht. Vielmehr ist in den Blick zu bekommen, dass die Industrialisierungsphase und die „Moderne“ an Grenzen gelangt sind, an denen der Blick auf andere Formen der Organisation von Zusammenleben und Wirtschaften interessant werden – Vielfalt ist eine angesichts der Unwägbarkeiten der Moderne unverzichtbare Ressource, und eines der Tableaus, in denen sich Vielfalt manifestiert, ist die globale Geschichte.

In der „zunehmend globalisierten Welt“ treten die „Anderen“ mit eigener Dynamik auf: Nicht nur ist die europäisch-atlantische Welt nicht mehr das Zentrum, die Anderen treten immer weniger im Modus der mühsam gezimmerten internationalen Aushandlungsformen auf, sie setzen auch ihre eigenen Maßstäbe. Angesichts der Parallelität von Vielfalt und Homogenisierung ist es wichtiger, von transnational zu reden als von international. ISIS, Iran, Nordkorea, Saudi-Arabien - andere werden kommen, die sich nicht an die Standards halten und zu denen, wenn nicht kulturelle Kontakte bestehen, immer weniger Gesprächsbrücken existieren, damit immer weniger Möglichkeiten des Aushandelns.

Der Nationalstaat steht doppelt zur Disposition: Einerseits wird er als letzte Verteidigungsbastion (wie andernorts die Großfamilie oder die Religionsgemeinschaft) aufgewertet, andererseits steht er unter dem Druck des Freihandels, der Finanzmärkte und der Globalisierung allgemein. Nicht voraussehbare „jähe Wendungen“ sind in der weiteren Entwicklung nicht ausgeschlossen, und daher sind Vielfalt und die damit verbundene Fähigkeit, mit Kreativität auf neue Situationen zu reagieren, unverzichtbar. Die „Geschichte der Welt“ sensibilisiert mit ihrem weiten Ansatz dafür, solche Wandlungen nicht allzu überraschend zu empfinden. Euro- und Ethnozentrismus sind auch in diesen Bänden nicht überall und immer ganz überwunden – da geht noch mehr. Aber es werden doch neue Horizonte sichtbar.

Die Bände:
Iriye, Akira; Osterhammel, Jürgen (Hrsg.): Geschichte der Welt. C.H.Beck, Harvard Up.
Band 1 Frühe Zivilisationen. Die Welt vor 600. Hrsg. Hans-Joachim Gehrke (in Vorbereitung).
Band 2 600 – 1350 Mobilität und Diversität. Hrsg. Cemal Kafadar (in Vorbereitung)
Band 3 1350 – 1750 Weltreiche und Weltmeere. Hrsg. v. Wolfgang Reinhard. 2014. 1008 S.
Band 4: 1750 – 1870 Wege zur modernen Welt. Hrsg. v. Sebastian Conrad und Jürgen Osterhammel. 2016. 1002 S.
Band 5: 1870 – 1945. Weltmärkte und Weltkriege. Hrsg. v. Emily Rosenberg: München: 2012. 1152 S.
Band 6: Die globalisierte Welt seit 1945 Hrsg. v. Akira Iriye. 2013. 955 S.


Dörscheid/Verbandsgemeinde Loreley, Dieter Kramer, 21. April 2017 kramer.doerscheid@web.de