Rezension | Kulturation 2020 | über Wolfram Hennies: Wolfram Hennies: Geschichte der Prignitzer Landwirtschaft | Isolde Dietrich | Vom Verschwinden der bäuerlichen Handarbeit. Ein Nachruf
| Geschichte der Prignitzer Landwirtschaft - Die Mark Brandenburg. Verlag für Regional- und Zeitgeschichte. Berlin 2020. 425 S.
Erstaunliches ist geschehen. Ein neues Buch über die Geschichte der Prignitzer Landwirtschaft ist nach kurzer Zeit ausverkauft, obwohl der Titel nicht gerade bestsellerverdächtig klingt. Wie lässt sich das erklären?
Man kann da nur spekulieren. Der Autor mag ungebührlich lange auf eine Veröffentlichung gewartet haben. Doch mit dem Erscheinungstermin Anfang Mai scheint dem Verlag schließlich eine Punktlandung gelungen zu sein. Prignitz und Landwirtschaft hatten es gerade in die überregionalen Schlagzeilen geschafft. Beides hing mit der Corona-Pandemie zusammen.
Doch zunächst zum Buch selbst. Der Autor hat schon eine ganz besondere Geschichte der Prignitzer Landwirtschaft vorgelegt, eine sehr anschauliche, lebensnahe und frische. Den Leser erwartet kein blasser Abglanz längst vergangener Zeiten, geronnen in trockenen Termini, wissenschaftlichen Thesen, Statistiken und dergleichen mehr. Soweit nötig, werden Kernaussagen zur jeweiligen politischen, wirtschaftlichen, demografischen und sozialen Situation in den beiden einleitenden Kapiteln untergebracht, bleiben dann aber eher als Folie im Hintergrund. Die Darstellung beginnt mit einem allgemeinen „Abriss der Landwirtschaftsgeschichte in Brandenburg und der Prignitz“ und mit dem Abschnitt „Industrialisierung ohne Industrie“, der die Veränderungen der Prignitzdörfer zwischen 1850 und 1914 zum Gegenstand hat.
Ab S. 88 kommt das Eigentliche: Beschrieben wird die Industrialisierung der Landwirtschaft fortan vor allem als Geschichte des Verschwindens von vorindustriellen Arbeitstechniken, Gerätschaften und sonstigen Utensilien bei der Herstellung von pflanzlichen und tierischen Erzeugnissen. Diesen gilt das Hauptaugenmerk des Autors. Er gibt vor, mit seiner Arbeit solche Zeugen der Vergangenheit vor dem Vergessen zu bewahren und „einen Beitrag zu ihrer Erforschung und Fixierung in Wort und Bild“ zu leisten. Dies dürfte einerseits zutreffend, zum anderen aber eine gelinde Untertreibung sein, weil der Band regional, zeitlich, vor allem aber inhaltlich weit darüber hinausweist.
Sicher sind die Sachzeugen bäuerlicher Handarbeit und ihre frühindustriellen Nachfolger heute fast nur noch in Museen zu besichtigen. Mitarbeiter und Besucher werden dort ihre Freude daran haben, wenn ein Experte ihre Funktionsweise sachkundig erklärt und gleichzeitig das ganze Drum und Dran des damaligen Landlebens zugänglich macht. Schließlich handelt es sich nicht um rein gerätekundliche Darstellungen, sondern um Einblicke in den Arbeitsalltag und in die sonstigen Lebensumstände. Für das Buch ist es ein großer Gewinn, dass der Autor als versierter Fotograf die erhalten gebliebenen Werkzeuge, Vorrichtungen und Hilfsmittel aufgenommen und neben historischen Fotografien als Quellen in den Band eingefügt hat. Das ist in solcher Fülle geschehen, dass man das Ganze streckenweise auch als Bilderbuch lesen könnte.
Andere, sinnlich ebenso ansprechende Quellen sind die Originalberichte von Zeitzeugen. Ortschronisten verschiedener Prignitzer Dörfer wie Franz Giese (Jg. 1891) oder Anton Wormstädt (Jg. 1915) haben Aufzeichnungen hinterlassen, die keine Fernansicht auf Anno Dunnemals bieten, sondern aus dem Hier und Jetzt zu stammen scheinen. Wenn etwa die Arbeitsabläufe beim Schweineschlachten auf dem Bauernhof beschrieben werden, beim Kühemelken, beim Kartoffelanbau oder beim winterlichen Leineweben fühlt man sich in eine Schritt-für Schritt-Anleitung bei YouTube hineinversetzt. Der Leser ist unmittelbar dabei, wird in seiner natürlichen Sprache angeredet, bleibt neugierig und interessiert.
Schließlich sei noch auf eine Quellenart verwiesen, auf die sich der Autor ebenso ausgiebig stützt: die Verkaufsanzeigen in der regionalen Presse. Sie widerspiegeln, wie die Angebote der lokalen Handwerker allmählich von den Annoncen und Prospekten der Landmaschinenhändler und –firmen abgelöst wurden und sich das Handwerk von der Produktion mehr und mehr auf Reparaturarbeiten verlegte. Die jeweils angegebenen Preise signalisierten, für welche soziale Schicht die beworbenen Gegenstände erschwinglich waren. Andere Anzeigen lassen erkennen, wie die Ausleihe von Maschinen organisiert wurde, von denen etliche nur während weniger Tage im Jahr zum Einsatz kamen, so dass der Ankauf nicht lohnte. In diesem Zusammenhang verweist der Autor auch auf landwirtschaftliche Vereine und auf die sogenannten Winterschulen für die männliche Landjugend, die allesamt die neue Technik propagierten.
Es gibt noch einen weiteren Kunstgriff, der die Lektüre erleichtert. Der Band ist im Grunde eine Sammlung unzähliger Miniaturen und Exkurse, die zwar zu großen Bereichen der Agrarproduktion zusammengefasst werden, aber auch jeweils für sich stehen können und sich einzeln wie die Rezepte in einem Kochbuch abrufen lassen. Wer nur etwas über Mist, über Stroh, über Steinelesen, Sensendengeln, Reisigbesen oder Holzpantinen erfahren will, nimmt sich die entsprechende Passage vor. Er wird die nötigen Informationen finden, immer eingeordnet in den wirtschaftlichen Gesamtzusammenhang.
Zeitlich konzentriert sich der Band auf das Kaiserreich – mit historischen Rückgriffen und gelegentlichen Fortschreibungen bis in die Gegenwart. Letztere werden selten ausgeführt, drängen sich dem Leser aber unweigerlich auf, was dem Buch zu höchster Aktualität verhilft, weil es Fragen nach der weiteren Zukunft aufwirft.
Vordergründig ist das kaum zu erkennen. Der Autor erweist sich als sachlicher Chronist, der den Menschen dieser Zeit und ihren Leistungen mit Respekt begegnet. Besonders beeindruckend wird der sorgsame Umgang mit der Natur und mit den von Menschenhand geschaffenen Dingen beschrieben. Landarbeit und Dorfleben werden dabei weder idyllisch verklärt, noch als hinterwäldlerisch, als rückständig abgetan.
Warum spricht das Buch den heutigen Leser so an - unabhängig von der gewählten Darstellungsform? Weil man es mit den Augen von heute liest, weil sich Vergleiche, Analogien, Vorausahnungen einstellen, die die gegenwärtigen Probleme reflektieren. Prignitz? Schon im ersten Kapitel wird berichtet, dass die Prignitz wie die Uckermark, der Barnim und andere Landesteile nach den verheerenden Pestepidemien des Mittelalters mit ihren hohen Verlusten an Menschenleben im Ergebnis des Dreißigjährigen Krieges einen erneuten Bevölkerungsrückgang von rund 50 % erfuhren. Bei der Lektüre dieser Stelle kommen dem Leser sofort neuere Studien in den Sinn, die etwa für das Jahr 2030 in den berlinfernen Gegenden Brandenburgs einen „Bevölkerungsschwund wie im Dreißigjährigen Krieg“ vorhersagten. In Wahrheit wurde zwar „nur“ ein nochmaliger Rückgang der Bevölkerung um gut ein Viertel prognostiziert, etwa in der Prignitz. Doch das genügte, um die Alarmglocken schrillen zu lassen. Die dortige Verwaltung versuchte, zumindest verbal gegenzusteuern und erklärte die Prignitz zur „Potenzialregion“ zwischen Hamburg und Berlin. Aber der Märker hörte nur – ein Pfeifen im Walde.
Mit Beginn der Corona-Pandemie haben sich die Verhältnisse jedoch völlig umgekehrt. Die Prignitz ist mit einem Male begehrter denn je. Überall in der Welt sind die Bessergestellten bei Ausbruch der Seuche quasi über Nacht mit Sack und Pack aus den Metropolen geflohen, um sich auf unbestimmte Zeit in ihren Zweitimmobilien auf dem Land zu verschanzen. Je abgeschiedener und menschenleerer die Gegenden, desto gefragter wurden sie.
In Deutschland versuchten etliche Länder und Landkreise, sich durch Einreiseverbote gegen den Ansturm der Großstädter und gegen die damit verbundene Ansteckungsgefahr zu wappnen, darunter auch der Landkreis Ostprignitz-Ruppin. Behörden, Anwälte, Gerichte waren wochenlang vollauf beschäftigt, die unterschiedlichen Interessen von Einheimischen, Touristen und Wochenendsiedlern gegeneinander abzuwägen und ins Lot zu bringen. Die Medien berichteten groß darüber, kurz: die Prignitz war plötzlich in aller Munde. Und genau in dieser Situation erschien das Buch von Wolfram Hennies über die Prignitzer Landwirtschaft.
Es ist offen, ob die gegenwärtige Krisensituation hinsichtlich der Raumordnung längerfristige Folgen haben wird, ob demnächst die Möbelwagen rollen und aus Zweitwohnungsnutzern Dauerbewohner werden. Eines ist aber festzustellen: Der ländliche Raum ist wieder attraktiver geworden, es wird neu über das Verhältnis von Großstadt, Kleinstadt und ländlicher Siedlung nachgedacht.
Ähnlich verhält es sich mit dem zweiten Stichwort aus Hennies‘ Titel – der Landwirtschaft. Auch hier hatte die Pandemie gleich am Beginn Tatbestände sichtbar gemacht, die zwar allgemein bekannt waren und stillschweigend hingenommen wurden, sich nun aber zum ernsthaften Problem auswuchsen. So unangemessen die Skandalisierung bestimmter Gegebenheiten und Vorfälle auch war – dass seitdem in der Öffentlichkeit stärker oder überhaupt über Probleme der Landwirtschaft diskutiert wird, ist ein Gewinn.
Am Anfang drehten sich die Debatten vor allem um den Einsatz ausländischer Arbeitskräfte in der Land- und Nahrungsgüterwirtschaft, ein Thema, das im vorliegenden Band ebenfalls eine Rolle spielt und das der Autor auch in anderen Zusammenhängen diskutiert hat. Der „Import“ von Arbeitskräften hatte demnach immer ein großes Gewicht, spätestens seit dem ausgehenden 19. Jahrhunderts. Sprichwörtlich waren auch seit jeher die prekären Umstände, unter denen dies geschah. Man denke nur an die Schnitterkasernen auf den Gütern oder an die Zwangsarbeit von Kriegsgefangenen und „Fremdarbeitern“ aus den während des 2. Weltkriegs besetzten Gebieten. Verglichen damit waren die direkten coronabedingten Schwierigkeiten des Jahres 2020 von geringem Gewicht. Sie stellten aber das Gesamtsystem Landwirtschaft in Frage. Zunehmend wird die gegenwärtige Agrarindustrie als einer der größten Umweltzerstörer wahrgenommen, damit letztlich auch als Wegbereiter für Seuchen. Sollte die von Hennies beschriebene Industrialisierung der Landwirtschaft ein Irrweg gewesen sein? Mündete, was als Arbeitserleichterung und größere Ergiebigkeit begann, in der Vernichtung unserer Lebensgrundlagen?
Im Band wird berichtet, dass im Jahr 1892 in Wittenberge im städtischen Schlachthaus insgesamt 3291 Schweine geschlachtet wurden – ein Ausweis gewachsener Kaufkraft bzw. Nachfrage und der Durchsetzung allgemeiner Marktbeziehungen. Welch ein Fortschritt gegenüber der Hausschlachtung in der bäuerlichen Wirtschaft als Eckpfeiler der Selbstversorgung. Heutzutage schlachtet und zerlegt das Unternehmen Tönnies allein an einem deutschen Standort 20 000 Schweine am Tag. Was für ein Kapitaleinsatz, welcher Energieverbrauch, welche Intensität menschlicher Arbeitskraft stecken dahinter? Eine der Landwirtschaft weitgehend entfremdete Öffentlichkeit musste sich beim Anblick der Bilder aus dem Inneren solche einer Produktionsstätte entsetzt abwenden.
In der Milchwirtschaft derselbe Trend. Hennies gibt für das Jahr 1907 die Durchschnittleistung einer Prignitzer Kuh mit 3000 Litern pro Jahr an. Spitzenkühe kamen auf 12.000 Liter. Die Kuhhaltung war zu diesem Zeitpunkt bereits zum finanziellen Rückgrat der bäuerlichen Betriebe avanciert, weil sie ganzjährig regelmäßige Einnahmen sicherte. Heutzutage ist man auch in der Prignitz stolz auf etliche 100. 000-Liter-Kühe. Ist es wirklich ein Zuchterfolg, wenn am Ende Tiere mit einem Monstereuter stehen, Kühe, die nie eine Weide sehen, sondern auf reinen „Fressplätzen“ ihren Energiebedarf mit Kraftfutter decken und dabei gar nicht so viel fressen können, wie die „Milchmaschine“ in ihnen verlangt?
Vielleicht wird dermaleinst ein Buch erscheinen, das das Verschwinden der heutigen maschinengerechten Hochleistungslandwirtschaft mit ihren naturwidrigen Praktiken dokumentiert. Ob allerdings ein Autor es wie Wolfram Hennies wagen wird, all dies – die intensive Massentierhaltung, die züchterischen Entgleisungen, die Monokulturen mit ihrem hohen Einsatz an Energie, Wasser, Pestiziden - „in Wort und Bild“ zu erforschen und zu fixieren, muss dahingestellt bleiben. Schließlich wäre dies wohl kein würdigender Nachruf.
Immerhin hat der nun vorgelegte Band Modellcharakter in dem Sinne, dass man beim Lesen schon heute wie im Rückblick auf die gegenwärtigen Abläufe schaut. Ob die vor uns liegenden Umbrüche in der Nahrungsproduktion tatsächlich in eine „Agrarwende“, d.h. in nachhaltiges, ökologisches Wirtschaften münden oder in eine gänzliche Abschaffung der Landwirtschaft und ihre Ersetzung durch biotechnologische Verfahren, ist offen. Der sog. „Brandenburger Weg“ plädiert für Ersteres, gekoppelt an eine konzernunabhängige Schlacht- und Verarbeitungsstruktur. Die zweite Variante postuliert das baldige Ende der Landwirtschaft: „In Kürze wird der größte Teil unserer Nahrung weder von Tieren, noch von Pflanzen stammen, sondern aus einzelligem Leben.“(George Monbiot: Mikroben werden uns retten. In: Freitag Ausgabe 07/2020)
Phantastisch klingen beide Aussichten, aber nicht phantastischer als die Ablösung des Dreschflegels durch den computergesteuerten Mähdrescher oder die Tatsache, dass sich innerhalb eines halben Jahrhunderts – in den 1940er und in den 1990er Jahren die Eigentumsverhältnisse in der Prignitzer Landwirtschaft gleich zwei Mal grundlegend wandelten. Den Horizont für solche Entwicklungen geweitet zu haben, gehört zu den unbestreitbaren Verdiensten des Autors. Dies auf vergnügliche und auch dem Laien verständliche Weise geschafft zu haben, dürfte zum Verkaufserfolg des Buches beigetragen haben. So ist nur zu wünschen, dass Interessenten bald wieder zugreifen können – bei der angekündigten zweiten Auflage.
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