KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
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RezensionKulturation 2019
über Emad Alali:
Der Humanismus-Diskurs im Drama der Nachkriegszeit
Horst Groschopp
Humanismus auf der Bühne
Emad Alali
Der Humanismus-Diskurs im Drama der Nachkriegszeit
Der Beitrag einiger unbekannter Dramatiker zur Neuformung des „brüchigen“ Menschen
Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann 2018, 386 S., (Epistemata Literaturwissenschaft, Band 903) ISBN 978-3-8260-6585-9, 49,80 €


Der Titel der umfänglichen, 2017 in Leipzig (beim Literaturwissenschaftler Dieter Burdorf) angenommen Dissertation, verfasst von einem Autor, der in Damaskus und Leipzig Anglistik, Germanistik und Politikwissenschaft studierte, verspricht Einblicke in ein erfreulicherweise neuerdings zunehmend bearbeitetes Themenfeld: Humanismus in der Nachkriegszeit. Inwiefern sich diese Diskurse in den Künsten, darunter der dramatischen Literatur, spiegelten, ausdrückten und eine besondere Sprache hatten, das ist eine offene Frage.

Der Autor untersucht, „mit Blick auf den jeweils zugrundeliegenden (ethisch-politischen) Humanismus“, drei Humanismen: (a) den christlichen, (b) den sozialistischen und (c) einen ideologiefreien Humanismus (S. 20). Dies geschieht anhand von je drei Autoren und ihren Hauptwerken zuerst in West- (Bundesrepublik), dann Ostdeutschland (also die DDR). Für den Westen sind dies Bernt von Heiseler (Philoktet, 1947: Humanismuskategorie „a“), Manfred Hausmann (Die Zauberin von Buxtehude, 1959: „a“) und Richard Hey (Weh dem, der nicht lügt, 1960/61: „c“); für den Osten stehen Hermann Werner Kubsch (Die ersten Schritte, 1950: „b“), Harald Hauser (Am Ende der Nacht, 1953: „b“) und Alfred Matusche (Die Dorfstraße, 1955: „c“). Es werden jeweils weitere Werke der Autoren angeführt und auf parallele Stücke anderer Autoren verwiesen. Das ist grundsolide Literaturwissenschaft, auch wenn mir persönlich der Bezug auf Humanismus zu konstruiert und zu wenig von Humanität unterschieden erscheint. Dazu später einige Anmerkungen.

Das vorliegende Werk von Alali soll der Beförderung einer Theorie des „literarischen Humanismus“ dienen. An einer solchen fehlt es tatsächlich, aber auch hinsichtlich anderer ästhetischer Ausdrucksformen. Dass Humanismus in der Literatur erscheint, der wissenschaftlichen wie der belletristischen, dass es eine vielgestaltige humanistische Literatur mit langer Geschichte gibt, wird in der Literaturwissenschaft und in der Humanismusforschung vielfach und mit großer Selbstverständlichkeit belegt. Doch daraus einen besonderen „literarischen Humanismus“ zu konstruieren, das ist eher selten. Jan Patoèka hat sich darum bemüht. Das wird in seinem Sammelband Andere Wege in die Moderne (2006) vom Herausgeber Ludger Hagedorn betont. Auch in der historischen Rhetorikforschung kommt der Begriff vor.

Alali setzt diese lange Geschichte voraus. Er formuliert drei Annahmen: erstens, „dass der Humanismus sich ganz und gar an den Menschen und dessen Leben richtet. Der Mensch steht im Zentrum des humanistischen Denkens“ (S. 330); zweitens, „dass Literatur und Humanismus eng miteinander verbunden sind. Ihre Schnittmengen würden es rechtfertigen, vom ‘literarischen Humanismus’ zu sprechen“ (S. 330); drittens, dass das „Konzept des ‘literarischen Humanismus’ … die Literatur und die Anthropologie“ zusammenbringt auf eine Weise, dass man an der „sogenannten literarischen Anthropologie anschließen“ (S. 331) könne (in Anknüpfung an Helmut Pfotenhauer, 1987).

Diesen Thesen geht der Autor nach anhand von Befunden in der Literaturwissenschaft und ausgewählter Bühnendramen. Er entwickelt in seinem Schlussabschnitt eine Art Kanon, was bei einer literaturwissenschaftlichen Theoriebildung in einem „literarischen Humanismus“ zu berücksichtigen wäre. Er schaut dabei näher auf die „ideologische Autonomie“ und die „Realitätsnähe“, um dann innerhalb der von ihm festgestellten „humanistisch engagierten Literatur“ (S. 348 ff.) nach deren „kognitivem Wert“ und „gegenwärtigem Weltbild“ zu fragen.

Am Ende kommt Alali zu dem Schluss, dass in „dieser engagierten Literatur … der Humanismus die Oberhand“ habe, er der „Maßstab“ sei, „der den Menschen belehrt, orientiert und bildet“. (S. 361) Dann folgt, mit wohl nicht ganz stimmiger Interpretation der Einführung von Jörn Rüsen in das Buch Interkultureller Humanismus (2009), die Kernaussage: „Das Engagement im literarischen Humanismus ist also nicht politisch oder sozial, sondern humanistisch geprägt. Nicht die Politik, sondern der Mensch ist der Ausgangspunkt und das Ziel der humanistisch engagierten Literatur.“ (S. 362)

Das hebt Humanismus vom wirklichen Leben ab und erhebt eine ihm dienen wollende Literatur in höhere Spären des Ästhetischen. Der Autor kommt im Zuge seiner Darlegungen nicht auf die Idee, dass die von ihm gefundenen und besprochenen Dramen vielleicht deshalb weitgehend unbekannt geblieben sind, weil ihre Autoren neben den sozialen wie politischen Konflikten und ihren Humanismus-Diskursen, die die Menschen ihrer Zeit bewegten, ihr Schicksal suchten.

Darin liegt nach meiner Ansicht ein wesentlicher Grund, dass das aus dem Buchtitel herauslesbare Versprechen uneingelöst bleibt, Humanismus-Diskurse aufzuzeigen. Es kommen in dem Buch mindestens zwei Maßstäbe, das Humanistische in den Dramen zu beurteilen, zu kurz. Da ist zuerst der Blick auf die Vorgeschichte und Vorbilder dieser Diskurse. Gerade das Kapitel Literatur im Dritten Reich (S. 24-33) erfasst das spezifisch Humanistische, das zur Diskussion stand, zu wenig. Für sie stehen nach wie vor die Namen und Werke von Thomas und Heinrich Mann, aber auch die Fülle der entsprechenden Emigranten-Literatur, wie sie in der Studie von Walter A. Berendsohn Die humanistische Front (Zürich 1946) vorgeführt wurde.

Gerade die Geschichte dieses Autors, dieses Werkes, sein Verständnis von Humanismus und wie damit umgegangen wurde, verweisen auf den zweiten mir zu wenig reflektierten Maßstab: Das Hineingeraten der Debatten über Humanismus (in Relation z.B. zum Sozialismus bzw. Kapitalismus) in die Gemengelagen des Kalten Krieges, der deutschen Teilung und der Separierung des Streites über Humanismus in einen ost- und einen westdeutschen nach 1948. Das Umfeld und das Verständnis von der Sache änderten sich gegenüber denen zwischen 1935 und 1948. Dialoge – zumal deutsch-deutsche – gingen in den 1950ern drastisch zurück. Argumente zu nennen, warum sie trotzdem verglichen werden, vergleichbar sind, wären wichtig gewesen.

Der Autor sieht zwar völlig richtig, dass das Drama der Nachkriegszeit (die bei ihm bis zum Mauerbau 1961 reicht) „keinen einheitlichen Humanismus“ aufweist, sondern eine Reihe von „weltanschaulich-geistig-politisch-kulturellen humanistischen Bewegungen (Menschenbilder), die sich oft gegenseitig verdrängen und miteinander vermischen“ (S. 13 f.). Aber sein eigenes Verständnis von „Humanismus“ ist zu allgemein als „das Menschliche“ definiert („eine humanistische, am Menschen orientierte engagierte Literatur“, S. 361), um die Nuancen und Unterschiede, besonders die Funktionen und Dimensionen von „Humanismus“ gerade in dieser Zeit erfassen zu können.

Alali führt Hubert Cancik, Martin Heidegger, Werner Jaeger, Jacques Maritain, Ulrich Muhlack, Julian Nida-Rümelin und andere an, um „Humanismus“ zu bestimmen (vgl. S. 53 ff.), aber schon hier hätte er wesentliche Unterschiede bei den Autoren herausfiltern und sehen können, dass sich daraus je andere Sichtweisen schon auf die drei Humanismusepochen ergeben, die er unterscheidet: Renaissance, Neuhumanismus, Humanismus im 20. Jahrhundert, ganz abgesehen von den drei von ihm untersuchten Humanismen in den Dramen.

Wenn, wie es im Klappentext heißt, Humanismus nur am Menschen orientiert sein kann, so zeigt ja gerade die Analyse des Theologen Karl Barth, dass es, wie er 1950 meinte, einen „christlichen Humanismus“ gar nicht geben kann. Das sei ein „hölzernes Eisen“. Selbst wenn man diese Meinung nicht teilt, wäre darauf zu verweisen, wenn die Kommunikation zwischen Hausmann und Barth in die Betrachtung kommt und es um Humanismus geht in Hausmanns Zauberin von Buxtehude (vgl. S. 172 ff.).

Die hier an dem Buch von Alali geäußerte Kritik sollte niemand davon abhalten, der oder die diese Zeit, die deutsch-deutschen Kunstszenen und den Humanismusstreit der Nachkriegszeit untersucht, zu diesem Werk zu greifen.

Doch zwei abschließende Hinweise kann ich mir nicht verkneifen. Die für die DDR genannten drei Autoren Hermann Werner Kubsch, Harald Hauser und Alfred Matusche gehörten dort keineswegs zu den in der Literaturwissenschaft weitgehend unbekannten Personen. Das belegen allein schon die entsprechenden und durchaus zahlreichen Stellen in einem Standardwerk, der Geschichte der Deutschen Literatur von 1977, 11. Band, Literatur der DDR, herausgegeben von Horst Haase, Hans Jürgen Geerdts, Erich Kühne und Walter Pallus. Horst Haase wurde 1964 Professor für Literaturwissenschaft in Leipzig, dem Ort, an dem Alali jüngst promovierte – leider lag diese Universität damals in der DDR. Walter Pallus veröffentlichte in Ostberlin gemeinsam mit Gunnar Müller-Waldeck 1986 den faktenreichen Sammelband Neuanfänge. Studien zur frühen DDR-Literatur. Im Literaturverzeichnis von Alali (S. 363-386) sucht man diese und ähnliche Studien vergebens.