Rezension | Kulturation 2014 | über Tom Strohschneider: Linke Mehrheit? Über Rot-Rot-Grün, politische Bündnisse und Hegemonie. | Dieter Kramer | Mosaik oder Gewebe? Linke Mehrheiten und „molekulare Veränderungen“
Tom Strohschneider: Linke Mehrheit? Über Rot-Rot-Grün, politische Bündnisse und Hegemonie. Eine Flugschrift. Hamburg: VSA 2014. | „Es gibt Hunderte Bücher, die jedes für sich eine hinreichende Begründung sind, alles dafür zu tun, dass es endlich anders, besser wird.“ (9) Aber bei aller theoretischen Kritik soll nicht aus dem Blick geraten, „was Menschen täglich tun – und was die Welt ja tatsächlich stets immer verändert hat.“ (9) Gerade das aber wird in dem Text vernachlässigt. Er fragt nach den parteien-, bewegungs- und organisationsbezogenen Möglichkeiten und einer „vierten Chance“ für eine neue (rot-rot-grüne) Politik.
Dies geschieht im Angesicht von bedrohlichen Entwicklungen: die „ neue Kriegsfähigkeit“ (S. 44, S. 64) der Bundesrepublik ist längst über das Stadium des „Kriegs-Hopping“ hinaus, verwischt wird mit den Überlegungen zur Reaktion auf die Gewalt in der Ukraine und im Nordirak der Unterschied zwischen Beteiligungsmöglichkeiten, die von den UN oder der NATO legitimiert wären (dass Deutschland auch einen besonderen Akzent auf nichtgewaltförmige Konfliktmoderation legen könnte, wird längst nicht mehr diskutiert).
Die politische-parlamentarische Ebene wird relativiert durch die „prekären Wahlen“ (51), jetzt sogar wie in den USA mit Wahlbeteiligungen unter 50 Prozent – der „Sozialpsychologe“ Welzer vermag das allenfalls zu erklären, bietet aber keine Anknüpfungsmöglichkeiten (54).
Rot-Grün oder Rot-Rot-Grün in Bundesländern wird „innerparteiliche Zerreißproben“ produzieren (59). Ohne „kapitalismuskritische Perspektive“ und „Alternativen jenseits des Marktes“ (Sabine Leidig) wäre es auch nichts Neues. Aber ein „sozial-ökologischer Kurswechsel“ (62) würde rasch an der ökonomischen und den Marktprinzipien unterworfene Gesetz-und Verordnungspraxis (nicht nur der EU) scheitern, nicht an den „roten Haltelinien“ (63) der Parteien. Rot-Rot-Grün würde dann nicht mehr sein „außer eine Regierung“ (83, 85).
Mosaiklinke, Gegenhegemonialer Block (68), Mobilisierung der Massen sind Stichworte – für Wahlen, die dann doch nichts bewirken „außer eine Regierung“ (83, 85)?
Es ist daran zu erinnern, dass epochale Wandlungen (und darum handelt es sich bei der „Transformation“ in eine Gesellschaft der Nachhaltigkeit) lange dauern und großen Vorlauf haben: Das galt für den Übergang vom feudalen Mittelalter zur frühbürgerlichen frühen Neuzeit, für den vom Feudalabsolutismus zur bürgerlichen Gesellschaft. Wenn Axel Demiroviæ den aktuellen Bedarf an Reformen aufzählt (S. 49), dann erinnert das an die Probleme und Reformen, die in der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts der Anlass für die Entfaltung des (dann allmählich und ansatzweise demokratisierten) Sozialstaates waren (S. 49): Auch da war es eine schrittweise, allmähliche, von Konflikten geprägte Wandlung im Rahmen der sozialen Bewegungen.
Die Mobilisierung von den Rändern her wird heute „frustrierte Liberale und heimatlos gewordene Wertkonservative“ (79) einbeziehen müssen (mir fällt in diesem Zusammenhang Freiherr von Loeffelholz ein). Sie können in Diskursen der Öffentlichkeit für Aufmerksamkeit sorgen.
Gesprochen wird von der „Mosaiklinken“, aber vielleicht ist Mosaik gar nicht das beste Bild: Die einzelnen Steine sind da immer noch getrennt; auch in einem Strom, der sich aus verschiedenen Zuflüssen entwickelt, bleiben die Bestandteile noch lange getrennt. In einem Gewebe dagegen sind sie, wie in einem Myzel (69), unentwirrbar miteinander verbunden; wer Einzelne herauslösen will, zerstört das Ganze. So entwickelt sich auch das „soziale Kapital“, von dem die Chance der Veränderung lebt, aus unterschiedlichsten Alltags-Begegnungsformen, Schule, Verein und Feuerwehr eingeschlossen.
Erinnern möchte ich an drei Dimensionen für strategischen Überlegungen, mit denen sozialpsychologische, soziologische und politologische Denkweisen relativiert oder ergänzt werden können (das kann man auch polemisch zuspitzen): Lebensqualität, Zukunftsorientierung und Selbstbegrenzung (Suffizienz) im Alltag.
Zur Lebensqualität : „Die Diskurshoheit über die zentrale Frage der Wohlstandssicherung liegt derzeit rechts von der Mitte“ (79). Aber für keine Partei, für keine griffigen Formeln zur Mobilisierung liegt Lebensqualität im Zentrum. Zu ihr gehören auch die Suchbewegungen der Zeitsouveränität, der Selbstverwirklichung (90), des „Neuen Luxus“ usf. Ihr können Einkommen, Umverteilung, Arbeitsplätze, Umweltqualität beigeordnet werden.
Zur Zukunftsorientierung : Ohne viel nachzudenken bringen die Individuen diese Dimension in ihr Handeln ein. Die eigenen Kinder sollen es nicht schlechter haben, aber an sie denkt man nicht nur in dem Sinne, dass sie es „immer besser“ haben sollen - sie sollen eine Zukunft haben. Auch diese Orientierungen gehören zum Alltag, und sie beeinflussen das Handeln der Menschen, sind daher Anknüpfungsmöglichkeiten für Mobilisierung.
Suffizienz (Selbstbegrenzung) war in den Diskussionen der Enquete-Kommission Wachstum, Wohlstand, Lebensweise ein schwieriges Thema. „Genug zu haben“ steht im Widerspruch zum fetischisierten Wachstum. Aber im Alltag praktizieren die Menschen notwendigerweise ständig Selbstbegrenzung (junge Menschen natürlich am wenigsten), sonst würden sie immer wieder scheitern. Wenn man daran erinnert, werden Einschränkungen im Zusammenhang mit sozialökologischem Wandel nachvollziehbar und akzeptanzfähig.
In all diesen Bereichen liegen die Chancen für „molekulare Veränderungen“; da finden sie statt. Sie liefern auch Anknüpfungsmöglichkeiten für einen „transformatorischen Populismus“ (85).
Meran, Montag, 8. September 2014
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