Rezension | Kulturation 1/2005 | über Elke Scherstjanoi: Wladimir Gelfand, Deutschland-Tagebuch 1945 – 1946. Aufzeichnungen eines Rotarmisten. | Evemarie Badstübner | Deutschland 1945/46 - die Tagebuchaufzeichnungen eines jungen Sowjetleutnants
| Wladimir Gelfand, Deutschland-Tagebuch 1945 – 1946. Aufzeichnungen eines Rotarmisten. Aus dem Russischen von Anja Lutter und Hartmut Schröder. Ausgewählt und kommentiert von Elke Scherstjanoi, Berlin (Aufbau-Verlag) 2005, 367 S. 32 Abb., 22,90 Euro.
Als Nikolai Bersarins 5. Stoßarmee nach erbitterten Kämpfen an der Oder zur Erstürmung Berlins ansetzte, marschierte in ihren Reihen auch der junge Wladimir Natanowitsch Gelfand (1923-1983), dessen Deutschland-Tagebuch derzeit in der deutschen Öffentlichkeit große Beachtung findet. Neben weiteren Tagebuchnotizen, zahllosen Briefen, Urkunden, Zeitungsartikeln und anderen Unterlagen befand sich dieses Dokument im Gepäck seines 1995 nach Deutschland ausgewanderten Sohnes Vitaly. Die Herausgeberin Elke Scherstjanoi wählte aus der von ihm restaurierten Sammlung die Aufzeichnungen der Jahre 1945 –1946 für den Druck aus und ergänzte sie mit zeitlich zuzuordnenden privaten Briefen, dienstlichen Berichten oder Gesuchen und Fotos. Außerdem erweiterte und bereicherte sie die Publikation mit einem informativen und gescheiten Essay unter dem Titel „Ein Rotarmist in Deutschland“, das zum besseren Verständnis des Ganzen die Lebensumstände und den späteren Werdegang von Gelfand sowie die historischen Rahmenbedingungen nachzeichnet, aber auch quellenkritischen Überlegungen nachgeht und einzelne Texte kommentierend hinterfragt (S. 315–339).
In der deutschen, insbesondere ostdeutschen Geschichtsliteratur herrschte an sich kein Mangel an Zeitzeugenberichten über die Befreiung vom Faschismus, über den Übergang vom Krieg zum Frieden: Es gibt autobiographische Aufzeichnungen sowjetischer Heerführer, Politiker und Kulturoffiziere, aber auch Erinnerungen deutscher Emigranten, die in der Roten Armee gedient hatten. Doch dieses Tagebuch mit relativ regelmäßigen Eintragungen über die subjektive Befindlichkeit des Schreibers, mit Gedanken und Berichten über Kriegsgeschehen, Kriegsende und das nachfaschistische Deutschland aus der Perspektive eines jungen ukrainischen Offiziers, der nicht zu den Oberen und Prominenten seiner Armee gehörte, ist eine echte Rarität und trägt dazu bei, Dunkelstellen aufzuhellen. „So weit konnten wir noch nie in die Gedankenwelt eines Siegers vordringen“, stellt die Herausgeberin zu Recht fest (S. 11).
Allerdings war dieser Wladimir Gelfand ein Sieger besonderer Art. Schriftsteller wollte der belesene, gebildete und vielseitig interessierte junge Mann werden. Zum Soldaten geboren war er wohl nicht. Doch angesichts des mörderischen Vernichtungsfeldzuges Nazideutschlands gegen sein Land meldete sich der Neunzehnjährige 1942 freiwillig zur Roten Armee. Anfangs als Sergeant, später Unterleutnant und zuletzt Leutnant kämpfte er zeitweilig als Artillerist und Kommandeur von kleinen Granatwerfereinheiten an vorderster Front und durchlebte die kreatürliche Angst und die physische Not des Soldaten im Schützengraben. Seine Vorbildrolle ernst nehmend, unterdrückte er diese Gefühle und vertraute sie nur dem Tagebuch an, das er unbeirrt auch während der Kampfhandlungen weiterführte, weil es ihm zur Lebenshilfe geworden war. Vor den opferreichen Kämpfen um Stalingrad bewahrte ihn eine Verwundung. Politisch interessiert, der sozialistischen Ideenwelt und der üblichen Stalinverherrlichung verhaftet, betätigte er sich mit großem Engagement als Komsomol- und Parteifunktionär (seit 1943 war er Vollmitglied der KPdSU), verfasste Wandzeitungsartikel sowie Frontflugblätter und wirkte als Frontlektor in Versammlungen und Bildungsveranstaltungen.
Haben wir es also mit der Bilderbuchkarriere eines Rotarmisten zu tun? Genau besehen wohl nicht. Das Tagebuch führt uns die äußerst widersprüchliche und konfliktgeladene Situation eines eher sanften, intellektuellen Neigungen folgenden Schöngeistes vor Augen, der in eine eingespielte grobschlächtige, zum Teil wenig gebildete, dem Wodka zugewandte Männergemeinschaft geriet, die genau diese Eigenschaften belächelte und verachtete. Und überdies war Gelfand Jude. Antisemitische Anfeindungen, brutale und grobe Scherze, Diskriminierungen, Verleumdungen und tätliche Angriffe (so wurde er im Beisein von Untergebenen geschlagen), Zurücksetzungen (er erhielt lange Zeit keine Auszeichnungen) gehörten zu seinem Soldatenalltag. Wenn auch relativ duldsam, klein beigegeben hat er nicht, sondern immer erneut versucht, Gerechtigkeit für sich einzuklagen, unter anderem mit Beschwerden an übergeordnete Dienstellen - eine heikle Angelegenheit in jeder Armee. „Im nächsten Gefecht erschieße ich dich!“, brüllte ihn sein Kompaniechef vor allen Soldaten an (S. 49). Die Vermutung der Herausgeberin, dass er diese Querelen nur deshalb heil überstanden hat, weil er im März 1945 als Chronist der Kampfhandlungen in den Stab der Division berufen wurde, sind ernst zu nehmen.
Aus seiner Lage heraus vermittelt Gelfand ein äußerst kritisches Bild vom Innenleben seiner Kompanie, beschreibt Korruption, Diebstahl und Betrug, Machtmissbrauch und mehr als fahrlässigen Alkoholgenuss. „Wann wird es in der Kompanie endlich eine wirkliche militärische Ordnung geben, strenge Armeedisziplin und einen anspruchsvollen, fürsorglichen, allein verantwortlichen Kommandeur?“ (S. 59) In späteren Aufzeichnungen aus dem Jahre 1946 versuchte er, differenziertere Aussagen über den Zustand der Truppe zu treffen (S. 257). Den Kampfgeist der Soldaten anerkennend, blieb für ihn dennoch unstrittig, dass die Kategorie der „Säufer, Diebe, Raufbolde und Psychopathen“ die Autorität der Roten Armee untergrub.
Als sich mit Kriegsende nicht nur die Handlungsspielräume der Sowjetsoldaten erweiterten, sondern ihre Situation eine grundsätzlich andere wurde – sie mussten in die Rolle des Siegers hineinwachsen und ungewohnte Aufgaben als Besatzer übernehmen, brachte dies auch für Gelfand einige Veränderungen seiner Lage. Geradezu gierig stürzte er sich ins Nachkriegsleben. Vor allem die Ruinenstadt Berlin hatte es ihm angetan. Den Deutschen begegnete er zunächst mit Verachtung. „Auf Berlin, das besiegte, spuck’ ich“, schrieb er an eine Wand des Reichstags (S. 126). Doch beständig war diese Haltung nicht. Stolz über den Sieg empfand er, Rachegefühle kaum. Er war auch kein Vergewaltiger. Ob dies jüdischem Frauenverständnis entsprach, wie Scherstjanoi meint, oder seiner an allgemeinen humanistischen Werten orientierten Erziehung, seiner Bildung und intensiven Beschäftigung mit schöngeistiger Literatur, muss offen bleiben (immerhin gab es auch nichtjüdische Rotarmisten, die Vergewaltigungen verurteilten). Dennoch gehörten zu seinen großen Nachkriegsentdeckungen die Frauen, die ihm scharenweise nachliefen – deutsche wie russische – , unter anderem weil er „wie ein Italiener“ aussah (S. 85) und auch sonst Eindruck zu machen verstand. Zudem nahmen sich Frauen, die während des Krieges Männerpositionen besetzen mussten, nun ebenfalls Rechte in Bezug auf ihr erotisches Verhalten heraus. Es sollte daher nicht verwundern, dass das relativ unkomplizierte Erleben von Sexualität im Tagebuch des jungen Mannes immer größeren Raum beanspruchte. Wladimir wurde ein ausgesprochener Schürzenjäger und kompensierte mit diesen Erfolgen wohl auch die Geringschätzung, die er in der Armee erfuhr. (1946 brachte ihm der sexuelle Tatendrang allerdings eine Gonorrhöe ein.) Seine ungeteilte Aufmerksamkeit galt darüber hinaus der ihm neuen oder bislang kaum zugänglichen Welt der Produkte. Er übte Rad fahren, beschaffte sich Fotoapparate und lernte fotografieren, ließ sich Anzüge schneidern und „aus Interesse“ sogar eine Dauerwelle machen, kaufte oder tauschte Uhren, erwarb Stoffe und Mützen, seltsamerweise auch Zylinder. Auf dem Schwarzmarkt am Alex, der ihn faszinierte, bewegte er sich mit beachtlichem Geschick, denn er verstand einigermaßen Deutsch. Da es anscheinend zu den großen Moden jener Nachkriegsjahre gehörte, Portraitaufnahmen anfertigen zu lassen, um sie als Andenken zu verschenken und zu verschicken, gehörte auch dies wiederholt zu seinen Unternehmungen.
Dienstlichen Verpflichtungen kam Gelfand offensichtlich mit wachsendem Widerwillen nach, nicht zuletzt als Reaktion auf erfahrene Demütigungen. Vornehmlich in der Mark Brandenburg, meist in Kremmen und Velten stationiert, erbitterte ihn ein im August 1945 erlassener Befehl Shukows (als Originalquelle bislang nicht aufgefunden, E. B.), der ein strenges Fraternisierungsverbot beinhaltete und lediglich dienstliche Kontakte und Dienstreisen in die Besatzungszone erlaubte. „Jetzt ist es Zeit, etwas auszuruhen, das zu sehen, was man noch nie gesehen hat – die Welt des Auslandes – , und das kennen zu lernen, von dem man so wenig wusste und von dem man keine klare Vorstellung hatte – das Leben, die Sitten und Bräuche im Ausland – , und schließlich auch in die Stadt zu gehen, Leute zu sehen, sich zu unterhalten und umherzufahren, ein winziges Stück Lebensglück (wenn es das denn geben sollte in Deutschland) zu genießen“, begehrte er auf, wenngleich ihm bewusst war, dass sich diese Anordnungen vor allem gegen die Plünderer und Vergewaltiger richteten.
„Es ist uns verboten, mit den Deutschen zu sprechen, bei ihnen zu übernachten, einzukaufen. Jetzt verbietet man uns das letzte – sich in einer deutschen Stadt aufzuhalten, durch die Straßen zu gehen, die Ruinen anzuschauen. Nicht nur den Soldaten, auch den Offizieren. Das kann doch nicht sein! Wir sind Menschen, wir können nicht in einem Käfig sitzen, um so mehr als unser Dienst nicht am Kasernentor endet und die Bedingungen und das Leben in den Kasernen uns bereits, verflixt noch mal, zum Halse raushängen... Was ich will? Freiheit! Die Freiheit zu leben, zu denken, zu arbeiten, das Leben zu genießen.
Jetzt ist mir alles genommen. Der Zugang nach Berlin ist mir verwehrt. Man darf nicht einmal ohne Erlaubnis die Kompanie verlassen. Wieder Übungen, erneut Kontrollen. Alles wieder da, ganz wie im Krieg. So langweilig und so ermüdend für die Seele“ (S. 116f.).
Für das Verständnis der Gelfandschen Befindlichkeiten und Verhaltensweisen haben diese Zeilen große Erklärungskraft. Sie widerspiegeln darüber hinaus die unter Friedensbedingungen zunehmende Bedeutung hedonistischer Werte sowie individueller Bedürfnisse nach Abenteuern, Ungebundenheit und Eigenständigkeit, nach kultureller Offenheit gerade bei gebildeten jungen Leuten. Mit militärischen Pflichtwerten war der über den Wodka-Horizont hinausgehende Drang nach Lebensgenuss und Selbstverwirklichung aber kaum zu vereinbaren. Die sowjetische Gesellschaft insgesamt bremste die Herausbildung eines neuen, lockeren Lebens- und Kulturverständnisses und suchte es zurückzudrängen. Auch Gelfand selbst distanzierte sich später ganz im Sinne der Breschnew-Ära von früheren Sichtweisen (Scherstjanoi, S. 337f.)
In den Nachkriegsjahren jedoch nahm er sich seine Freiheiten. Er reiste mehrfach unerlaubt nach Berlin, später sogar illegal nach Weimar. Damit wurde er in seinem Regiment wieder zum „Fall“, zum abschreckenden Beispiel (S. 134 ff.), zumal man offenbar in seinem Tagebuch gelesen hatte. Es wurde ihm auch angekreidet, dass er sich als zeitweiliger Angehöriger einer Trophäenabteilung geweigert hatte, in der Akademie der Wissenschaften deutsche Bücher zu plündern (S. 156). Gleichwohl landeten zwei Bildbände daraus in seinem persönlichen Gepäck.
Nach mehr oder weniger gelungenen Einsätzen in verschiedenen Dienststellen – sein Regiment wusste wohl so recht nichts mit ihm anzufangen – erfolgte im September 1946 seine Demobilisierung. Mit zehn reich gefüllten kleineren Koffern und zwei Säcken (einschließlich einer Goethe-Büste) kehrte er glücklich und zufrieden zu seiner Mutter nach Dnjepropetrowsk zurück. Schriftsteller und berühmt wurde er zu seiner Zeit nicht, wenngleich er immer wieder Artikel und Erinnerungsberichte für Zeitungen und Zeitschriften schrieb. Er wurde Lehrer an Technischen Fachschulen und unterrichtete Geschichte, russische Sprache und Literatur. Seine Lebensumstände, vor allem die Wohnverhältnisse, blieben viele Jahre miserabel, auch die antisemitischen Anfeindungen nahmen kein Ende. Im späteren Ruhestand sollte dann doch noch der großen Roman geschrieben werden, so sein Plan, aber er starb schon mit gerade 60 Jahren.
Wladimirs Gelfands Tagebucheintragungen sind Aufzeichnungen eines jungen, noch unfertigen, aber geistig wachen Mannes, in dessen Alltagsnormalität der deutsche Überfall und damit der Krieg eingegriffen hatte, so dass er fast von einem Tag zum anderen mit schwierigen Aufgaben und gefährlichen Situationen konfrontiert wurde, die ihn über Gebühr forderten, aber auch reifer werden ließen. Viele Passagen spiegeln dennoch Angebereien, Schludereien und Oberflächlichkeiten, wie sie für junge Leute dieses Alters typisch sein können. Gelfand war selbstverliebt und ichbezogen, aber nicht unkritisch gegenüber seiner eigenen Person. „Ich bin jung, und wie mir zunehmend scheint, ein interessanter Mensch mit einem unausgeglichenen Charakter, (...) einer, der Unangenehmes und Ärger tief in seinem Herzen vergräbt, aber mit schwarzen Samtaugen und einem lebendigen Herzen – dies halte ich für die wesentlichen Vorzüge meiner Person“ (S. 195). Er beklagte indes neben seiner Inkonsequenz auch die Tatsache, dass er oft genug Begonnenes nicht zu Ende führen würde. Den Leser von heute irritieren Notizen, in denen der eher weiche Gelfand minutiös und ohne einen Funken Mitleid die Erschießung zweier Selbstverstümmler beschrieb (S. 37 f.). Offenkundig hatte der Krieg in seinem Gefühlshaushalt Spuren hinterlassen. Sadistischen Männerphantasien, die sich um die Bestrafung von Angehörigen eines deutschen Frauenbataillons drehten, das vermutlich nie existierte, folgte er nicht, meinte aber, man solle diese „schlicht und einfach liquidieren“ (S. 40).
Dennoch bleibt festzuhalten: Gelfand verkörperte in seiner jugendlichen Unbekümmertheit und Kontaktfreudigkeit den Typ des freundlichen, netten Sowjetsoldaten, von welchem deutsche Zeitzeugen immer wieder berichten. Als solcher war er in einigen Berliner Familien, die er öfter aufsuchte, willkommen. Seine Aufzeichnungen mit ihren auch von Stimmungen abhängigen, gelegentlich widersprüchlichen Aussagen, manchen Ungereimtheiten und vielen realistischen Schilderungen des Alltags werden daher in den Forschungen zum Verhältnis von Deutschen und Russen („unsere Slawen“ nennt Gelfand sie hin und wieder, S. 29) aufmerksam zu berücksichtigen sein, auch wenn tiefgründige Auseinandersetzungen mit Krieg und Faschismus darin eher selten vorkommen. Und für ein breiteres Lesepublikum ist das Buch ebenfalls ein Gewinn. Bei älteren Menschen wird es Erinnerungen an diese Jahre wachrufen und jüngeren einen Eindruck vom vergangenen Katastrophenjahrhundert vermitteln, Nachdenken über Krieg und Frieden eingeschlossen.
Evemarie Badstübner, Berlin
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