KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
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RezensionKulturation 2012
über Leander Sukov:
Warten auf Ahab oder Stadt Liebe Tod. Kulturmaschinen Verlag, Berlin 2012<br>
Volker Gransow
Liebe im Ring. Ein politischer Roman aus dem heutigen Berlin
Leander Sukov : Warten auf Ahab oder Stadt Liebe Tod. Roman. Kulturmaschinen Verlag, Berlin 2012, 280 S., br., ISBN 978-3-940274-55-7, Euro 17,80.


Menschheitsthemen wie Liebe und Tod lassen sich immer wieder neu erzählen, trivial, dramatisch, episch. Dazu gehören selbstverständlich handwerkliche Fähigkeiten. Aufregend wird es, wenn hinter der Form des Thrillers oder des Liebesromans gesellschaftliche und politische Realität substanziell erfasst wird. Darum geht es hier. Der Berliner Schriftsteller Leander Sukov (geboren 1957 als “Martin Timm” in Hamburg) erzählt von einem Monat im heutigen Berlin aus der Sicht einer Frau von fünfundzwanzig Jahren namens Marie.

Marie kommt aus Althause, einem Ort in Brandenburg. Sie überbrückt die Zeit bis zum Beginn des Studiums als Kellnerin in einer Schöneberger Kneipe. Gelegentlich besucht sie ihre Eltern: die hinkende Mutter und den Vater, der früher mal Schulleiter und Informeller Mitarbeiter der Staatssicherheits-Behörde war. Das nimmt sie ihm nicht übel, wohl aber, dass er diese Nebentätigkeit nicht aus Begeisterung praktiziert hat. Sie selbst ist nämlich politisch bei der Antifa engagiert und sucht lesend nach Gründen dafür. Ihre Lektüre reicht von Althusser und Foucault bis zu Marx,Nietzsche, Uwe Tellkamp und Brigitte Reimann. Ihre Tageszeitung ist die “junge welt”, die sie nahe ihrer Wohnung in Charlottenburg kauft und im Café liest - oder scheinbar anschaut, während sie tatsächlich andere Menschen beobachtet und sich etwa deren Sexualleben imaginiert. Das ist ist nicht immer anregend: “Und nach dem Essen werden sie... fernsehen und keinesfalls reden, und sie wird dabei BILD und BZ lesen, und dann werden sie schlafen, vielleicht sogar miteinander, was eine eklige Vorstellung ist, wenn er ihr weißhäutig seinen Schwanz reinschiebt und sie gelbhäutig und fingerrunzlig über seinen wabbeligen Rücken streicht, und beide würden dann ja auch noch stöhnen” (S.180).


Ihr eigener Sex ist von Suche, Sucht und Partnerwechsel - manchmal während einer Nacht - geprägt: da gibt es Lutz, den Quasi-Jugendfreund aus Althause, bodenständig und verlässlich auch im Bett. Oder Kevin, den Autozündler aus der oberen Mittelschicht, der gerne geohrfeigt werden möchte. Und das macht Marie, der Foucault - Leserin, kultürlich zu ihrer eigenen Überraschung viel Spaß. Der Silberhaarmann ist vierzig Jahre älter und bringt nicht nur aus der verflossenen Sozialistischen Einheitspartei Westberlins ziemlich viel Erfahrung mit. Nicht zu vergessen Katharina Räubertochter, ihre Chefin in der Schöneberger Kneipe “Die Burg” am Kleistpark, die Marie nach Kneipenschluß um drei Uhr morgens noch erotisch verwöhnen möchte.


Leserin und Leser ahnen: da könnte noch etwas mehr sein jenseits von Missionaren, Ohrfeigen und Lesbensex. Vielleicht wird Marie geliebt, doch kann sie auch zurücklieben? Althusser und Foucault helfen hier wohl weniger. Eventuell Herman Melville? Denn “Moby Dick” und Kapitän Ahab sind so etwas wie der “basso continuo” des Textes. Der weiße Wal steht für die Metropole Berlin in allen Facetten bis hin zum nicht so genannten staatsmonopolistischen Kapitalismus und Ahab für dessen unbeirrbaren Gegner. Und so kommt es bei einer Antifa - Kundgebung zur lang erhofften Begegnung von Marie und Ahab, die nur tragisch enden kann.


Also ein Liebesroman wie aus dem Bilderbuch? Ja und Nein. Ja, denn alle nötigen Klischees sind vorhanden. Tempo und Intensität werden systematisch gesteigert. Stilistisch finden sich Sex-Szenen, die im Englischen als “steamy” bezeichnet werden; sie werden begleitet von einer Sehnsucht nach Liebe, die zumindest den hartgesottenen Rezensenten sofort dahinschmelzen ließ.- Nein, denn Politik ist doppelt präsent. Nicht nur in der Milieu-Schilderung, die von sanfter Ironie und liebevoller Satire zeugt, sondern ebenfalls in einem an Raymond Williams erinnernden weiten Verständnis von Politik als Lebensweise, wo dominante und alternativ-oppositionelle Kulturen in ständiger hegemonialer Auseinandersetzung begriffen sind. Das bedeutet konsequente Einbeziehung von Gegenwartskultur. Als Stichworte seien genannt: Facebook, H&M, MySpace, Polly Scattergood, YouTube.


Der Ort der Handlung ist das Berlin von heute, allerdings nicht komplett. Die Unterschiede zwischen Ost und West sind zwar spürbar, aber dies Berlin hat kaum Vororte oder Randgebiete. Das Geschehen spielt sich im zentralen Berlin innerhalb des S-Bahn-Rings ab. “Liebe im Ring” - so hieß vor über 80 Jahren ein Film über Liebe im Boxer-Milieu, hier ist es die Suche nach Sex, Liebe und Politik meist in Kneipen und Cafés zwischen Kreuzberg, Schöneberg, Charlottenburg, Mitte und Prenzlauer Berg. Dieser Bezirk wird anders als die anderen mitleidlos ironisiert: “Alles Turm hier. Ein ganzer Kiez voll Turm. Jedes renovierte Haus:Turm. In jedem renovierten Haus: die Türmer. Oberärzte, Manager, Universitätsdozenten, Rechtsanwälte, Schriftsteller. Tell me, man , tell me” (S.12). Ein Schelm, dem dabei neben dem Wasserturm ein bürgerlicher DDR-Familienroman einfällt, der vor einigen Jahren fast als neuer “Buddenbrooks” galt.


Der Text spielt zu einer Zeit, die noch nicht allzu vergangen ist, die “Topographie des Terrors” nicht das Riesenmuseum von 2010 war, sondern die lange davor improvisierte Gestapo-Ausstellung in den Kellern der früheren Prinz-Albrecht-Straße (und keineswegs mehr das dem Verfasser dieser Zeilen wohlbekannte Trümmerterrain der 60er Jahre mit der Gelegenheit zum Fahren ohne Führerschein und der Werbung für “Dreamboys Lachbühne”). In jedem Fall geht es um das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Und darin um ein paar Wochen von Anfang Oktober bis Anfang November. Das Buch ist nach Tagen gegliedert, deutsche Schicksalstage wie der 3. Oktober, der 7. Oktober und der 9. November fehlen auffällig.


Kaum überraschend taucht Gudrun Ensslin auf. “Und sollte von Geburt an oder durch besondere Umstände hervorgerufen tief auf dem Grunde meiner Natur etwas Krankhaftes sein eigensinnig grillenhaftes Wesen treiben, so tut das meinem dramatischen Charakter nicht den geringsten Eintrag” (S.56 f.). Das schrieb die Mitbegründerin der Roten Armee Fraktion an Ulrike Marie Meinhof. Ob dem Autor bekannt war, dass die “Moby Dick” - Metaphorik ebenfalls zentraler Punkt im Denken der RAF war? Oder ob er die Rolle der RAF im (auch) Berlin-Buch “legende” von Ronald M. Schernikau reflektiert hat?


Zu den Stichworten “Liebe” und “Marie” kann einem viel einfallen, zum Beispiel Brechts Kuppellied (“Wo ich Liebe sah und schwache Knie / War’s beim Anblick von Marie”). Passender stellt Sukov dem Roman ein Zitat von Max Prosa voran: “Realität macht nie Platz für Euphorie / und die Visionen von Marie”. Am Ende befindet sich die ermattete Erzählerin in ihrem Krankenzimmer und ihr ist, als passiere das alles gerade jetzt. Vielleicht gehört Maries Liebesgeschichte zu einer neuartigen Literatur,wie sie sich auch in Chile, Großbritannien, Japan und andernorts finden mag, einer Literatur des sensiblen Unbehagens, die das Motiv von “Learning the Blues” sozial in der Gegenwart am Beginn dieses Jahrhunderts fixiert. Abgerundet wird das Buch durch Zeichnungen von Daniela Schreiter und die genauen Adressen der erwähnten Locations vom “BAIZ” in der Torstraße bis “Zum Dicken Wirt” in der Charlottenburger Danckelmannstraße.