KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
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RezensionKulturation 2018
über Wolfram Hennies:
Feste im Jahres- und Lebenslauf in der Prignitz
Isolde Dietrich
Vereinigungspunkte zu gemeinsamer Lust
Wolfram Hennies: Feste im Jahres- und Lebenslauf in der Prignitz. Berlin 2017, 407 S., 29,80 €

„Das Volk liebt seine wenigen Feste als Vereinigungspunkte zu gemeinsamer Lust, sie sind die einzigen Haltpunkte für seine Einheit, und da man bisher nichts Besseres an die Stelle der alten Gebräuche zu setzen wusste, so lasse man sie ihm und suche sie nur von ihren Auswüchsen zu befreien.“ So befanden 1848 die Sprachwissenschaftler und Mythensammler Adalbert Kuhn und Wilhelm Schwartz in ihrem Buch „Norddeutsche Sagen, Märchen und Gebräuche…“. Für die Prignitz, die nordwestlichste Region im Land Brandenburg, stellt Wolfram Hennies nun die historischen und gegenwärtigen Formen solcher Gelegenheiten zu gemeinsamer Lust vor.

Hennies‘ Buch platzt förmlich aus allen Nähten. Hunderte Fotos, historische Aufzeichnungen und unzählige Zeitzeugenberichte geben dem Leser ein anschauliches Bild davon, wie die Prignitzer in den letzten 150 Jahren ihre kleinen Auszeiten vom Alltag gestalteten. Dabei geht es im vorliegenden Band vor allem um jene Feste, die im Kalender stehen, also alljährlich wiederkehren und um diejenigen, die „von der Wiege bis zur Bahre“ den Lebensweg jedes Einzelnen begleiten. Eine weitere Besonderheit dieses Bandes ist es, dass im Mittelpunkt vor allem die Traditionen des bäuerlichen, dörflichen Lebens stehen, was dieser ländlich geprägten Region angemessen zu sein scheint.

 Sommerkinderfest
Am liebsten würde der Leser gleich weiterlesen, um auch etwas über die eher städtischen Feste und Lustbarkeiten zu erfahren. In Wittenberge, Wittstock, Perleberg, Pritzwalk, Kyritz und in etlichen kleineren Landstädten sind im Laufe der Geschichte zahlreiche Freizeitorte und Vergnügungsstätten, Publikumsbelustigungen und Geselligkeiten entstanden. Darauf weist der Autor in einleitenden Bemerkungen hin, ohne das näher auszuführen. Man kann ihn nur ermutigen, diese Vielfalt in ihrem Wandel und in ihrem Gebrauch auch darzustellen. Denn hierzu wäre niemand geeigneter als Wolfram Hennies selbst. Schließlich ist die Festkultur für ihn nicht nur ein Feld wissenschaftlicher Forschung, sondern auch praktischer Betätigung. So organisierte er – lange Zeit nahezu im Alleingang – das grandiose Fest, mit dem die Perleberger 1989 das 750jährige Jubiläum ihrer Stadt eine Woche lang feierten. Der Historiker und Museumsfachmann entwickelte dafür nicht nur das Konzept. Er erledigte auch all das, wofür heutzutage diverse Agenturen und Eventmanager zuständig wären und was ansonsten vom Geschäftssinn pfiffiger Unternehmer in Gang gesetzt werden würde.

Das im vorigen Monat erschienene Buch überrascht nicht nur wegen seiner Fülle. Es verblüfft auch, weil der Autor auf langstielige theoretische Auslassungen verzichtet. Ihm genügen eingangs wenige Seiten, um den Leser mit seinem Anliegen und mit dem räumlichen, zeitlichen und sozialen Kontext des anschließend präsentierten Materials vertraut zu machen. Die herangezogenen Quellen sind so plastisch, dass sie dann oft für sich sprechen. Wer will, kann den Band auch als reines Bilderbuch ansehen.

Die Jahresbräuche und die Bräuche im Lebenslauf sind in vielen einzelnen Miniaturen beschrieben. Das erleichtert den Zugang und die Orientierung. Wer sich nur für die Weihnachtszeit oder für Geburtstagsfeiern interessiert, findet das Gesuchte auf Anhieb. Am gelungensten erscheinen jene Abschnitte, die auf allgemein verbreitete Feste mit langer, gut dokumentierter geschichtlicher Tradition verweisen. Verglichen damit wirken die Aussagen zu Frauentag/Muttertag, Bikergottesdienst, Halloween oder zu den Kreuzen am Straßenrand weniger schlüssig.

 Hochzeitskleider
Auch wer eigentlich nur die Bilder anschauen möchte, sollte vielleicht wenigstens ein Kapitel lesen: das über die Hochzeit (S. 296-354). Es ist ebenso aufschlussreich, wie vergnüglich. Sonst entginge ihm, dass Hochzeitsgesellschaften von 200, sogar von 300-400 Personen im 19. Jahrhundert auf dem Dorf völlig normal waren, dass jeder hier mitfeierte – vom Greis bis zum Kind, vom reichsten Bauern bis zur ärmsten Magd. Er würde auch nicht erfahren, dass schon damals im elterlichen Hof ein „Luftsaal“ aufgestellt wurde, um so viele Gäste bewirten zu können. Ein Luftsaal war ein riesiges Zelt, das von Brauereien verliehen wurde. Im Gasthaus wurde nur getanzt, für Essen und Trinken war da kein Platz. In diesem Abschnitt liest man nicht nur, wie viele Details bei diesen Festlichkeiten klar geregelt und zu beachten waren. Man bekommt auch einen Eindruck von den moralischen Vorstellungen dieser Zeit. So vermerkte noch Ende des 18. Jahrhunderts der Pastor im Kirchenbuch – damit immerhin im offiziellen Personenstandsregister - wenn „der Bräutigam die Braut ‚schon beschlafen‘ hatte“ (S. 333). In abgeschwächter Form existierte diese Sitte bis ins 20. Jahrhundert. Nur jungfräuliche Bräute sollten einen geschlossenen Kranz tragen dürfen, jede andere (kirchenrechtlich: Deflorata) hätte ohne Kranz oder mit einem hinten offenen Kranz vor den Altar zu treten. Witwen hätten gar bei ihrer Wiederverheiratung eine Haube zu tragen. Ein Blick in die eigene Geschichte zeigt, dass manche der uns heute bei Menschen anderer Herkunft befremdlich anmutenden Vorstellungen und Bräuche auch hierzulande einst üblich waren.

 Hochzeitstafel 1950er Jahre
An dieser Stelle kann die Arbeit von Wolfram Hennies nicht umfassend gewürdigt werden. Das werden seine Kollegen aus der Historikerzunft besorgen. Es sollte nur aufmerksam gemacht werden auf eine Neuerscheinung, die sich selbst ganz traditionell als Beitrag zur Volkskunde und zur Erforschung des Brauchtums versteht. In einer Zeit, in der mit den Begriffen Volk und Heimat Schindluder getrieben wird, ist solch eine Publikation ein Lichtblick. Sie könnte manch hitzige Debatte erden, weil sie zeigt, dass die Prignitz nicht immer die Region war, die wir heute kennen, dass sich hier in der Geschichte Ethnien und Kulturen mischten und bis in die Gegenwart ständigem Wandel unterworfen waren. Nur ein Mensch, der dort seit langem fest verwurzelt und zudem vom Fach ist, der die Bestände der Museen, Archive und Bibliotheken wie seine Westentasche kennt, das Vertrauen der Ortschronisten, Heimatforscher und anderer Zeitzeugen besitzt, selbst fotografiert und seit über drei Jahrzehnten die einschlägigen Befunde gesammelt hat, konnte zu so einem überzeugenden Ergebnis kommen.