Rezension | Kulturation 2015 | über Gunnar Decker: Gunnar Decker: 1965. Der kurze Sommer der DDR, Carl Hanser Verlag München 2015, ISBN 978-3-446-24735-2, 453 S., 26,00 €. | Gerd Dietrich | 1965, auch so ein "Schicksalsjahr"...
| „Geh aus, mein Herz, und suche Freud / In dieser lieben Sommerzeit!“ hatte schon Paul Gerhardt 1659 gedichtet. Da war an die DDR noch nicht zu denken und es mussten auch viele Winter folgen, bis Gunnar Decker voller Empathie von einem kurzen Sommer dieses kleinen Landes erzählen konnte. Aber tanzte es wirklich nur einen Sommer? Kann mit dieser kurzen Jahreszeit ein langes, zumindest 40-jähriges Leben erklärt werden? Natürlich handelt es sich nur um eine Metapher, um Aufmerksamkeit zu erlangen und den Verkauf zu befördern. Und es war auch nicht der einzige Sommer in der Geschichte der DDR. Freilich ein wichtiger, den Aufbruchstimmung prägte und der in einer „Eiszeit“ endete. Dass Gunnar Decker das Jahr 1965 gewählt hat, ist einerseits zufällig, andererseits durchaus nachvollziehbar und überaus interessant zu lesen.
Der Fokus des Buches liegt auf der Intellektuellen- und Literaturgeschichte, einschließlich Dramatik und Lyrik, mit gelegentlichen Ausflügen in die bildende Kunst sowie in die Jazz- und Rockmusik. Relativ wenig erfahren wir über die Filmproduktion in dieser Zeit, so gut wie gar nichts über Architektur und Neue Musik. Auch die Denkmal- und Erbepflege spielt nur eine geringe Rolle. Populär- und Volkskultur bleiben außen vor. Gleichwohl bietet Decker ein umfangreiches Panorama der Gesellschaft der Künstler, Schriftsteller und Intellektuellen, die sich für eine Modernisierung einsetzten und teils auf die Unterstützung, teils auf den Widerstand der neuen und alten Mächtigen trafen. Gemäß der dramaturgischen Vorstellung des Autors ist das Buch in drei große Teile gegliedert: Aufstieg, Absturz und Trümmer. Das ist sehr einfach, aber zugleich überzeugend und greift auf andere Weise die Metapher von den Tauwettern und Eiszeiten wieder auf. Aber wir sollten uns von dem Vergleich mit den Jahreszeiten nicht allzu wetterfühlig zeigen.
Dieses Buch ist nicht chronologisch angelegt. Es hat vor allem eine personale Struktur und umreißt in Rück- und Vorgriffen die künstlerischen und kulturellen Debatten und Entwicklungen in den Jahren nach dem Mauerbau. Zwar läuft die Darstellung auf den sogenannten Kahlschlag des 11. Plenums des ZK der SED im Dezember 1965 zu, aber sie geht zuweilen auch weit über das Jahr 1965 hinaus. Die Quellen des Autors sind, neben einigen historischen Standardwerken, vor allem Autobiographien, Briefwechsel, Erinnerungen, Tagebücher und Essays der Schriftsteller, Künstler und Intellektuellen. Wir erfahren viel und überaus Erhellendes über die Antriebe und Beweggründe einer Generation, die in der ersten Hälfte der Sechziger antrat, den Sozialismus in der DDR ernst zu nehmen. Die darüber mitreden wollte, welche Art von Sozialismus hier entstand. Es sind vor allem Vertreter der Aufbaugenerationen, die umfassend zu Wort kommen, sowie einige der „Partisanen“ aus den Gründergenerationen der DDR (Arendt, Becher, Bloch, Brecht, Anna Seghers und Helene Weigel), an denen sie sich orientierten.
Die Sympathie Deckers gilt der Aufbruchstimmung, den Kritikern und Reformern, den zahlreichen Versuchen, die Probleme der Gesellschaft darzustellen, zu diskutieren und ein Mehr am künstlerischer und intellektueller Freiheit zu erreichen. Natürlich ist dem Kenner der Kulturgeschichte der DDR sehr viel von dem bekannt, was hier brillant nachempfunden wird, aber man findet auch immer Neues oder Vergessenes wieder: über und von Fritz Cremer, Frank Beyer, Friedrich Dieckmann, Adolf Dresen, Robert Havemann, Wolfgang Heise, Jürgen Teller, Konrad Wolf; sowie die lange Reihe der Schriftstellerinnen und Schriftsteller Sarah Kirsch, Helga M. Novak, Brigitte Reimann, Maxie Wander und Christa Wolf, Wolf Biermann, Johannes Bobrowski, Volker Braun, Werner Bräunig, Fritz Rudolf Fries, Franz Fühmann, Peter Hacks, Stephan Hermlin, Stefan Heym, Uwe Johnson, Günter Kunert, Heiner Müller, Erik Neutsch, Hermann Kant und Erwin Strittmatter. Um nur einige wichtige Akteure zu nennen, zwischen denen Decker durchaus zu differenzieren weiß.
Seinen Spott lässt er über die kleingeistigen und orthodoxen Funktionäre aus, die in ihrer Hochachtung und Furcht vor den Künsten immer wieder zu Machtmitteln griffen: über den Kahlschlagpionier Honecker und den Großinquisitor Hager, über die „Viererbande“ Abusch, Gotsche, Kurella und Rodenberg, und auch über die drei Schreckensdamen Margot Honecker, Inge Lange und Hanna Wolf, die auf dem 11. Plenum mit ihren spießigen Zwischenrufen die Angriffe der Betonköpfe befeuerten. Den Chef des Ganzen, Walter Ulbricht, lässt Decker als Zerrissenen zwischen moderner Wirtschaftsreform und konservativem Kulturverständnis auftreten. In seinem Exkurs zum Dogma des sozialistischen Realismus bleibt Decker bei den alten Geschichten des Formalismus-Plenums von 1951 stehen. Zwar wird Roger Garaudys Konzept eines „Realismus ohne Scheuklappen“ in der Folge der Kafka-Konferenz von 1963 erwähnt, aber die Bemühungen von Brecht, Eisler und marxistischen Literatur- und Kunstwissenschaftlern im Osten, eine zeitgemäße und moderne Realismusauffassung zu formulieren, finden keine Beachtung.
Freilich lässt die aufgebotene dramatische Konstellation den Aufbruch zu Freiheit, Moderne und Vernunft in dem eingemauerten Land übergroß und gewaltig erscheinen, die Gegenreaktionen des sogenannten Kahlschlags als durchgreifend und radikal. Aber die Aufbrüche waren individuell und qualitativ sehr unterschiedlich, die Entlassungen und Verbote nach dem 11. Plenum betrafen nicht alle Künste gleichermaßen. Von einem generellen Kahlschlag in der Kulturszene konnte keine Rede sein. Nach Gunnar Decker verpasste die DDR-Führung „mit tragikomischer Präzision sämtlich jene Zeitpunkte, da etwas Neues hätte beginnen können.“ Nach dem Verbot von Beat-Gruppen wurde die „Zähmung jugendlicher Energien“ als Singebewegung ins Leben gerufen, nach Hermlins berühmtem Lyrik-Abend initiierte man „den laschen Aufguss mit Namen ‚Poetenbewegung’“, nach Cremers Ausstellung Junge Kunst folgte „ein eher langweiliges Tableau des ‚Volkskunstschaffens’.“ Solcherart Engführungen, die zudem noch als „Weg in die gesamtgesellschaftliche Apathie“ (S. 211) gekennzeichnet werden, geben nur ein einseitiges Bild und verkennen den geschichtlichen Hergang. Denn bereits drei bis fünf Jahre später mussten Hager, Honecker und Ulbricht einlenken und dem Selbstbehauptungswillen der Jugendlichen wie der Intellektuellen Tribut zollen. Mit der „Aktion Rhythmus“, mit „Weite und Vielfalt“ sowie dem Slogan „keine Tabus“ wurde der Kurs des 11. Plenums offiziell zurückgenommen. Beat und Rock hatten sich ebenso durchgesetzt wie die Lyriker der „Sächsischen Dichterschule“ und die Volkskunst führte ein Dasein am Rande. Das kulturpolitische Wechselbad von Tauwetter und Eiszeit ging in eine neue Runde
Deckers Perspektive ist die der Künstler und Intellektuellen, die einen anderen und modernen Sozialismus wollten. Und wo man das Buch auch aufschlägt, es zieht den Leser in seinen Bann. Darum schmälert es nicht den Wert des Buches, wenn im Folgenden eine Reihe von Ungenauigkeiten und Fehlern aufgelistet wird, die bei einer zu wünschenden zweiten Auflage korrigiert werden sollten: Honeckers Kennzeichen der Kybernetik als „Pseudowissenschaft“ auf dem VIII. Parteitag ist nicht nachweisbar (S. 26), Chruschtschow hielt keine Kuhschwanz- sondern eine „Eselschwanzrede“ (S. 50), Rinderoffenställe waren keine Ställe ohne Dach (S. 60), die Initiative der Brigade Mamai kam nicht von unten, sondern war vom FDGB organisiert (S. 67), Strittmatter als „Gutsherr“ in Schulzenhof ist eine maßlose Übertreibung (S. 72), nicht Inge, sondern Annemarie Lange lehrte an der SED-Parteihochschule am Lehrstuhl Kulturpolitik (S. 75), die menschliche Psyche galt höchstens unter sehr Orthodoxen und Dogmatikern, aber nicht bei Marxisten als eine westlich-dekadente Erfindung (S. 99), von „Schauprozessen“ zu reden, die an die stalinistischen mit erzwungenen Selbstanklagen und Erschießungen erinnern, ist mehrfach überzogen (S. 102, 172, 284), „Schlacht unterwegs“ von Galina Nikolajewa erschien auch als Roman in der DDR 1962 (S. 151), Paul Menzer lehrte in Halle und nicht in Leipzig (S. 183). Willi Sitte aus Halle gehörte natürlich nicht zur „Leipziger Schule“ (S. 197), „Provinzfürsten“ waren doch wohl die SED-Bezirkschefs, sinngemäß träfe für die kleinere Verwaltungseinheit eher das Wort vom „Kreishauptmann“ zu (S. 275), die These von der relativ selbständigen Gesellschaftsformation setzte Ulbricht nicht 1965, sondern erst 1967 in die Welt (S. 321), Honecker formulierte auf dem VIII. Parteitag noch nicht den Slogan der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik, der kam erst später auf (S. 325, 437), Konrad Wolf drehte seinen großen Goya-Film erst 1971/72, mehr als fünf Jahre nach dem 11. Plenum (S. 356), und das von Hermlin herausgegebene „Deutsche Lesebuch“ erschien nicht 1982, sondern bereits 1976 (S. 431).
Ob allerdings das Jahr 1965 das „Schicksalsjahr“ war, das Vorspiel zum Zusammenbruch oder der Anfang vom Ende, bleibt eine Frage der persönlichen Perspektive. Es sind bisher viele Angebote gemacht worden: 1949, 1956, 1961, 1965, 1968, 1976, 1985, 1989. Da hat es immer Aufbrüche gegeben, die gescheitert sind und neue Aufbrüche hervorbrachten. Manche Interpreten sahen das Ende der DDR bereits in ihrem Anfang, andere an jeweils markanten Daten zwischen Anfang und Ende. Tatsächlich aber und historisch konkret kam es erst 1990. Fürwahr eine Binsenweisheit. Anfang der siebziger Jahre jedenfalls stand ein nächster „Sommer“ bevor und die von Decker mehrfach beschworene Ironie der Geschichte fand kein Ende. Doch auch dieser Sommer war nur ein rot angestrichener Winter, um Heinrich Heine zu paraphrasieren und die Metapher auf die Spitze zu treiben. Und weil es auf all den Seiten um die Erinnerung an ein verlorenes Land ging, endet das Buch mit den schönen Versen aus Sarah Kirschs „Reisezehrung“:
Ich gedenke nicht an Heimweh zu sterben.
Unauslöschlich hab ich Bilder im Kopf.
Die hellen die dunklen.
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