KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
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RezensionKulturation 2011
über Rainer Hohlfeld u.a.: :
Grenzen des Erklärens
Volker Gransow
Wasser im kausalen Kelch. Menschen zwischen Natur und Kultur
Rezension zu: Rainer Hohlfeld / Günter Altner / Markus Dederich / Katrin Grüber (Hg.) : Grenzen des Erklärens. Plädoyer für verschiedene Zugangswege zum Erkennen. S.Hirzel Verlag, Stuttgart 2011, 140 S., br., ISBN 10.377718179, Euro 22,00.


Man kennt Karl Jaspers (1883 - 1969) als einen der großen Existenzphilosophen des 20. Jahrhunderts. Es ist bekannt, wie er den Drangsalierungen der Nazis trotzte und später scharfsinnig vor restaurativen Tendenzen der Bundesrepublik warnte. In seinem Briefwechsel mit Hannah Arendt entfaltete er ein intellektuelles Potenzial, das weit über das des von Arendt ebenfalls geschätzten Martin Heidegger hinausging. Optisch gehört dazu das Bild eines kontemplativ hingestreckten großen Mannes auf seiner Chaiselongue, der “Jaspers-Liege”. Im vorliegenden Sammelband entdeckt zumindest der Rezensent noch einen anderen Jaspers.

Karl Jaspers war zeitlebens krank. Er litt an einer Erweiterung der Bronchien, die durch eine Herzschwäche bedingt war und ständige Schleimabsonderung erforderte. 1901 (mit 18 Jahren) gab er sich noch fünf Jahre Lebenszeit. Tatsächlich wurde er 81. 1906 notierte er in seinem Tagebuch: “Gesunde können Kranke nicht verstehen...Sie verstehen nicht, was die eigentlichen Leistungen sind im Kampf mit der Schwäche” (hier zitiert auf S.119). Am Beispiel von Jaspers erörtert der Hamburger Behindertenpädagoge Christian Mürner die “Grenzen des Verstehens”. Er fragt nach dem Stellenwert von kausalen Erklärungen gegenüber existenziellen Situationen. Er belegt, wie Jaspers’ Krankheit sein gesamtes Leben beeinflusste, wie krankheitsbedingte Zurückhaltung ihm als Arroganz ausgelegt wurde. Aber Mürner interessieren auch die Konsequenzen für das wissenschaftliche Werk des Gelehrten: “Für Jaspers ist das Existenzielle konsequent von der Öffentlichkeit und der wissenschaftlich beschreibbaren ‘objektiven Welt’ zu trennen, auch wenn diese Grenze durch Kommunikation zeitweise überwunden werden kann” (S.122). Damit kommt Mürner zum zentralen Thema des Buches.

Die Autorinnen und Autoren fragen nach den “Grenzen des Erklärens” in einem Dialog zwischen Geistes - und Naturwissenschafen, um das Verhältnis von Natur und Kultur besser zu verstehen. Das klingt anspruchsvoll und ist es auch. Trotz theoretischer Ambitionen geht es aber nicht um abstrakte Begriffshuberei. Die versammelten Texte leben von einer extrem praktischen Motivierung. Die Mehrheit der Verfasserinnen und Verfasser gehört zum Berliner Institut “Mensch, Ethik und Wissenschaft”, das in seiner Arbeit besonders die Perspektive von Menschen mit Behinderung bzw. chronischen Erkrankungen berücksichtigt (Disability Mainstreaming).

Bezugspunkt für fast alle Beiträge ist der einleitende Essay des Berliner Biologen und Wissenschaftssoziologen Rainer Hohlfeld. Hohlfeld ersetzt den cartesianischen Dualismus von Körper und Geist durch einen epistemischen Dualismus der Erkenntnis-Methoden. Der methodische Monismus des naturwissenschaftlichen Erklärens durch Kausalität muß seines Erachtens durch ein kulturwissenschaftliches Verstehen ergänzt werden. So könnten dann auch kulturelle Phänomene begriffen werden. Als Beispiel dient ihm die Relation von Akustik und Sprache: “An dieser Schnittstelle fängt die Semantik an, neurophysiologische Phänomene werden in sprachliche Basalstrukturen gewandelt... Damit ist nicht erklärt, wie der Sinn in die Wörter kommt, wie aus der Physik Sematik entsteht. Die Alternative zu diesem ‘Rätsel’ ist die Interpretation, dass die Konstitution von Bedeutung auf soziale Sprachspiele und interaktive Verständigung von identischer Bedeutung zurückgeführt wird”, wie er in Anlehnung an Wittgenstein und Habermas betont (S.21). Vor diesem Hintergrund enwickeln sich dann die weiteren Analysen. Günter Altner beschäftigt sich mit verstehender Biologie aus einer eher theologisch - sozialethischen Perspektive, Elisabeth List versucht eine Synthese von Neurobiologie und Phänomenologie. Direkt in die Empirie geht es dann in dem Beitrag des Oldenburger Facharzts für Neurochirurgie Andreas Zieger. Er beschäftigt sich mit Patienten im Wachkoma, die neurologisch keine Erregung mehr zeigen, schwerste Form einer menschenmöglichen Behinderung. Trotzdem lassen sich “körpersprachliche Äußerungen” teilnehmend entschlüsseln und sich “körpersemantisch” in eine Praxis der Förderung, Rehabiltation und Teilhabe umsetzen. Folgerichtig ist wohl an der frühzeitigen Unterlassung von lebenserhaltenden Maßnahmen zu zweifeln - etwa durch weitgehende “Patientenverfügungen”.

Sabine Stengel-Rutkowski, Humangenetikerin an der Universität München, untersucht, ob die genetische Diagnose geistiger Behinderung den Weg für Therapiechancen entsprechend diagnostizierter Kinder verbaut.Wegen einer genetischen Syndromdiagnose und motorischer Entwicklungsstörung werden solche Kinder a priori für geistig behindert gehalten . Anhand einer detaillierten Einzelfallanalyse mit Videos (die auf 10 Seiten ausführlich dokumentiert wird) weist Stengel-Rutkowski exemplarisch nach, dass es sich hier um eine Fehlinterpretation handelt. So stützt sie empirisch Hohlfelds These, dass aus einer beobachteten Kette von Ereignisfolgen nicht auf eine gesetzmäßige kausale Folge geschlossen werden könne. Gerade vor dem Hintergrund des Bundestags-Beschlusses zur Präimplantationsdiagnostik vom Sommer 2011 scheinen sich für den Rezensenten hier die Zweifel an einer technokratisch bestimmten Lebensqualität zu verstärken (vgl. Ulrike Baureithel, “Die gottlosen Argumente sind die besseren”, in: “Freitag” Nr.27 / 2011).

Der Gedanke der Herausgeber, dass hier mit “David Hume Wasser in den kausalen Kelch der universellen Geltung” (S.7) gegossen werde, ist nicht unberechigt. Daraus lässt sich aber nicht zwingend schließen, “dass neben dem erklärenden Beobachterstandpunkt der Natur ein Teilnehmerstandpunkt zur Interpretation kultureller und sozialer Phänomene erforderlich“ sei (S.8). Der Teilnehmerstandpunkt ist selbstverständlich von Schelling bis Bloch immer wieder gewürdigt worden, könnte aber hier den Eindruck erwecken, dass weitere kulturgeschichtliche oder kultursoziologische Forschungen gar nicht nötig seien. Das ist hoffentlich nicht so gemeint, denn: “Man muß nicht unbedingt in der Bratpfanne gelegen haben, um die Qualität eines Schnitzels beurteilen zu können” (Maxim Gorki).