KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
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RezensionKulturation 1/2010
über Christa Wolf:
Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud
Dieter Segert
Über Erinnern und Vergessen. Christa Wolf berichtet aus der Stadt der Engel

Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 416 S., geb. 24,90 €.
Zuerst war ich verstört, überschwängliche Lobeshymnen gefolgt von gnadenlosen Verrissen. Was denn nun, wie soll ich das neue Buch von Christa Wolf einschätzen? Allerdings: wenn damals ein Buch so scharf kritisiert wurde, war es für mich immer ein besonderer Anreiz gewesen, nach ihm zu suchen und es selbst zu lesen. Bei den Texten von Christa Wolf allerdings brauchte ich so einen Anreiz damals nicht und so ist es bis heute.

Dann diese Besprechung im „Falter“ (einer linken Wiener Wochenzeitung) von Sigrid Löffler: „Nach 17 Jahren stellt sich Christa Wolf literarisch ihrer Stasi-Vergangenheit. Angeblich“, lautet der Untertitel ihrer Kritik. „Leider kann C.W. auch heute nicht anders als verschwiemelt über ihre zwiespältige Doppelrolle als privilegierte Dissidentin in der DDR nachdenken.“ „Auf Seite 268 könnte es endlich soweit sein. Ihr Stasi-Dossier wird ihr in Kalifornien zugestellt…“ „Auch auf den verbleibenden 150 Seiten des Buches wird sich diese Heldin dem Inhalt ihrer notorischen ‚Täter-Akte’ nicht stellen.“ Immerhin, das Wort steht in Anführungszeichen, die könnten ja auch eine gewisse ironische Distanzierung ausdrücken wollen. Aber dann steht am Ende des Textes: „Die letzte Chance zur Selbstaufklärung hat sie damit wohl verpasst.“

Nein, Christa Wolf braucht meine Verteidigung nicht. Mein Antrieb, über meine völlig andere Interpretation des Buches zu schreiben, kommt aus einer ganz anderen Richtung. Ich habe das Buch gelesen, ja verschlungen, weil ich es, nach dem so passenden Gedicht von Volker Braun aus dem Jahr 1990 über das Ende der DDR („Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen…“) als eine weitere Gelegenheit nehmen kann, mit der Situation 1990 ins Reine zu kommen. In diesem Text geht es keineswegs nur um die zwei Großbuchstaben, die im öffentlichen Bewusstsein inzwischen so sehr verzerrt dargestellt werden, dass sie kaum noch dekonstruiert werden können. IM. Täter-Opfer. Nein! Worum geht es in der „Stadt der Engel“ denn nun wirklich?

Ich bin kein Germanist. Eine sachkundige Literaturkritik ist von mir, anders als von Sigrid Löffler, also nicht zu erwarten. Ich bin nur ein Spezialist für Deutungen des vergangenen Staatssozialismus. Christa Wolf hat – zumindest auch – mit diesem Buch über diejenigen geschrieben, die der DDR wegen ihres politischen Programms verbunden waren, und die trotz der sichtbaren Mängel nicht einfach aufgegeben haben, die in diesem Land trotz Schmerzen geblieben sind, aus Verantwortung, oder einfach, weil das ihr Leben war und ihnen wichtig genug. Das Buch ist, auch wenn das nur ein Aspekt unter vielen anderen ist, der Versuch Christa Wolfs, sich an den Wertekosmos der verschwundenen DDR zu erinnern. Dieser Text ist ein Erinnern, das sich der Einsicht in die Irrtümer jener ideellen Welt nicht verschließt. Was bleibt nach dem Scheitern? Auch für sie (uns) gilt ja, was dort beiläufig über den geachteten Freund Lew Kopelew steht: „Die Zeit ist über Leute wie ihn hinweggegangen.“ (101)

Dennoch. An dem richtigen Maß der Bewertung der Vergangenheiten festzuhalten ist überlebenswichtig. Sonst wird man leicht zur Knetmasse, aus der andere sich heute neue Ideologien und Herrschaftsinstrumente herstellen. Die Umwertung der Werte nach 1990 hat „gefeierte Dissidenten“ von einst in „privilegierte Staatskünstler“ verwandelt. Christa Wolf, Volker Braun oder Stefan Heym mussten demontiert werden, weil sie das gewünschte Bild der für die deutsche Einheit dankbaren Ostdeutschen störten.

Kalifornien war auch einmal das Zielland deutscher Emigranten. Überall stößt Wolf auf Angehörige der zweiten Generation jener jüdischen Flüchtlinge aus dem braunen Deutschland. In der Stadt lassen sich die Spuren des Lebens der Intellektuellen, die aus ihm fliehen mussten, nicht übersehen: Brecht, Mann, Schönberg. Christa Wolf muss nicht lange suchen, um sie zu finden. Sie liest das Tagebuch von Thomas Mann. Auch der Überrock des Dr. Freud ist auf verschlungenen, aber nicht unerfindlichen Wegen dorthin gelangt. Freud musste ja ebenfalls aus seiner Heimat (Wien) nach London fliehen, ein Jahr vor seinem Tod. Zur Welt der DDR gehört jene Scham, ein Deutscher zu sein, die Menschen meiner Generation allerdings nicht durch eigene Eindrücke, sondern durch Erzählungen Älterer angenommen hatten. Die Konsistenz der geistigen Welt der DDR lässt sich nicht verstehen, ohne den Versuch, aus der deutschen Schuld der Jahre nach 1933 Bleibendes zu lernen.

Die Geschichte der Freundin Emma weist auf ein anderes Moment des DDR-Wertekosmos hin. Mit den Kommunisten und ihrem Engagement konnte man damals nicht nur einen eigennützigen Herrschaftsapparat verbinden. Es ist alles ein wenig komplizierter. Emma ist eine Frau, die im „3. Reich“ im Zuchthaus saß und dann im eigenen Staat ins Gefängnis wanderte. Solche Menschen gehörten ebenfalls zur geistigen Welt der DDR von Christa Wolf. Ebenso aber auch jener alte Kommunist, der bei Erwähnung der gefallenen Sowjetsoldaten bei einem Bankett in der Sowjetunion vor Scham weint, welcher für seine Überzeugungen unter den Nazis im Gefängnis saß, aber in der DDR sehr engstirnig ist (geworden ist?): Die Angst der Kommunisten vor dem eigenen Volk: „Wozu brauchten sie das, woher diese Angst, diese Paranoia vor dem eigenen Volk, das ihnen soviel angetan hatte, und dessen kleineren Teil sie nun regierten.“ (111)

Zu meiner Erinnerung an die DDR gehört ebenso wie zu der Christa Wolfs die wichtige Einsicht in frühere eigene Irrtümer- die „Revolution als einziges Mittel zur Rettung der Menschheit“. So wird über ein Theaterstück erzählt, in dem eine Frau ihren Geliebten erschießt, weil er die falschen politischen Ziele verfolgt: „Ich brauchte lange, bis ich erkannte, daß eine Moral, die die Menschen in solche Konflikte stellt, ihnen etwas von ihrem Menschsein nimmt. Der neue Mensch als der reduzierte Mensch.“ Und dann auch die mühsame Distanzierung von einer falscher Identifikation mit dem Staat und seinen Agenturen: „Nein. Ich will nicht dasselbe wie die … eine bittere und befreiende Einsicht.“ In der DDR gab es diese drängende Zumutung einer geforderten Identifikation der politischen Aktivisten mit dem ganzen Staat, dann aber auch ihr mühsames Streben, gerade weil sie jener Utopie einer menschenwürdigen Gesellschaft nahe standen, sich um die innere Souveränität des eigenen Urteils über das Handeln jenes Machtapparates zu bemühen. Daraus erwuchs dann immer wieder der Impuls zur Kritik am Gegebenen. Bei Christa Wolf 1965 und 1976, um nur zwei Jahreszahlen zu nennen. Diesen Typ von Handeln konnte man immer wieder und überall im staatssozialistischen Osteuropa finden, jene Menschen könnte man als Reformsozialisten bezeichnen. Sie haben damals einiges zur Zivilisierung jener Herrschaftsform beigetragen.

Nun ja, und dann noch die Auseinandersetzung mit der eigenen, zweiten Akte, die allerdings anders als von Löffler behauptet nicht erst in der zweiten Hälfte des Buches und schon gar nicht erst nach Zustellung jenes Files nach Kalifornien einsetzt. Eigentlich lohnte es sich nicht, gegen die oben fixierten Unterstellungen aufzutreten, weil für alle, die lesen wollen, die Redlichkeit des Bemühens der Autorin sowieso klar ist. Sie erzählt ja auch nicht nur über das Vergessen, sondern über beides, über Erinnern und Vergessen (96), deren Funktionen im menschlichen Leben und in der Herrschaftsgeschichte, sie hat über Tabuisierung nachgedacht, kennt blinde Flecke in den geschichtlichen Erzählungen (108), sie weiß von Scham zu berichten, von der Versuchung des Selbstmitleids, aber auch von „Hexenjagd“ (203).

Wichtiger vielleicht, sie schreibt auch darüber, was nach 1990 mit dem bösen Erbe der DDR-Staatssicherheit geschehen ist: Es wurde trotz der redlichen Bemühungen eines Teils der DDR-Bürgerrechtler zu einem Instrument neuer Herrschaft. „Wie man sie dazu benutzte, einander um Lohn und Brot zu bringen und von begehrten Posten fernzuhalten.“ Nicht erst auf „Seite 268“ sondern immer wieder, und spätestens 180 ff. kann man etwas über Christa Wolfs Erkenntnisse aus der Auseinandersetzung um die eigene Geschichte und Verantwortung erfahren. „Weglaufen nützt nichts … sich stellen nützt auch nichts.“ „Kafka, sagte Francesco. Der hätte so etwas erfinden können. Ja, sagte ich. Auch weil bei ihm kein Unschuldiger vorkommt. Wie im wirklichen Leben.“

Indem man erzählt und sich dem Nichtsagbaren nähert, so lese ich irgendwo im Buch, kann eine Schriftstellerin vielleicht zur tieferen Erkenntnis auch des eigenen Lebens anderer beitragen. Ein wichtiger Text, sicher kein Roman, jedenfalls keine Fiktion, ein Gespinst vieler Erzählungen, das einem sehr nahe gehen kann, dann aber mit Gewinn an geistiger Freiheit zu lesen.