KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
 Start  Reports  Themen  Texte  Zeitdokumente  Kritik  Veranstaltungen 
 Editorial  Impressum       
RezensionKulturation 2021
über Felice Fey:
Verschwiegene Kunst. Die internationale Moderne in der DDR
Gerd Dietrich
Schweigsam oder verleugnet?
Felice Fey: Verschwiegene Kunst. Die internationale Moderne in der DDR. Mit einem Beitrag von Hannes Schwenger, Deutscher Kunstverlag, Berlin München 2021, 367 S., 138 Abb., ISBN 978-3-422-98433-2, 48.00 €.

Der Titel irritiert. Was ist verschwiegene Kunst? Kunst, die als Kunst nicht anerkannt und somit verschwiegen wurde? Oder eine Kunst, die selbst verschweigt, als Kunst zu gelten? Oder künstlerische Werke, die Verschweigen und Verschwiegenheit thematisieren? Das alles meint die Autorin nicht. Sie rekurriert auf die grobschlächtigen Unterscheidungsmuster offiziell - inoffiziell bzw. „Künstler der DDR“ - „Künstler in der DDR“. Um letztlich bei der Erkenntnis zu landen, dass verschwiegene Kunst nicht verschwiegen werden konnte, weil sie sich auch im Osten durchsetzte oder zunächst im Westen und danach im Osten anerkannt wurde. Denn selbstverständlich lässt sich weder mit dem Gegensatzpaar von offiziell-inoffiziell noch mit dem bipolaren Schema „Staatskunst“ - „autonome Kunst“ die heterogene und vieldimensionale DDR- Kunstentwicklung erfassen.

Aber es geht nicht allein um die Kunst, sondern es geht um die banale Feststellung, dass es „von Anfang an in der DDR moderne Kunst und unabhängige Künstler (gab), die sich nicht den politischen und ästhetischen Grenzsetzungen des SED-Staates unterwarfen“, wie Jochen Staadt (Projektleiter FU Berlin) im Vorwort erklärt. Das heißt, es geht um Künstler, die ganz oder teilweise, früher oder später, oder auch nur zeitweise von der SED-Kulturpolitik nicht anerkannt, verschwiegen oder gar verfemt wurden. Anders gesagt, im Mittelpunkt der Darstellung stehen Künstler, die sich nicht den politischen und ideologischen Prämissen der SED beugten, die nicht der Doktrin des „Sozialistischen Realismus“ folgten, die sich ins Private zurückzogen, mitunter in existenzielle Schwierigkeiten gerieten und vom herrschenden Kunstbetrieb ausgeschlossen wurden. Freilich ist solcherart „verschwiegen“ zu sein, noch kein Maßstab für die Kunst. Nicht jeder malende Dissident muss künstlerisch erstrangig und nicht jeder politische Mitläufer muss malerisch unbegabt sein. Es gab zu allen Zeiten Künstler, die mehr oder weniger im Verborgenen oder im Untergrund arbeiteten. Ob sie vergessen oder bekannt wurden, lag an ihrer künstlerischen Qualität und nicht an ihrem Widerspruch zur offiziellen Kulturpolitik.

Aufschluss- und kenntnisreich liest sich der Text in der Aufdeckung von künstlerischer Kreativität in der DDR, in der Erforschung der Weite, Vielfalt und Unabhängigkeit künstlerischen Schaffens und in der Darstellung der künstlerischen Erfahrungen und der Wege bekannter und weniger bekannter Maler, Grafiker und Aktionskünstler. Davon viel ans Licht gebracht zu haben, mit beeindruckenden Abbildungen und zumeist sehr treffenden Zitaten versehen, ist ein Verdienst dieser Studie. Sie beweist immer wieder, wie sich die moderne Kunst gegen alle konservativen politischen und sozialen Widerstände behauptet. Ob es das Ziel dieser Künstler war, die Selbstdarstellung der herrschenden Partei in Frage zu stellen, oder ob sie ihr künstlerisches Potential eher als Kritik für und nicht gegen utopische Hoffnungen entwickelten, müsste noch tiefer geprüft werden. Relativ chronologisch eingebettet in die Geschichte der DDR werden exemplarische Geschichten von Künstlern erzählt, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Die Autorin hat hierfür umfangreiche regionale und zentrale Archivquellen erschlossen und zahlreiche Gespräche mit Zeitzeugen geführt. Ein Abbildungs- und ein Literaturverzeichnis sowie ein Namensregister erleichtern und fördern den Zugang.

Im ersten Kapitel geht es um „Picassos Schüler“ in den 50er Jahren: Exemplarisch um den in Annaberg lebenden Carlfriedrich Claus, der sich als Kommunist verstand, was die Autorin nicht erwähnt, der durch den Kunstwissenschaftler Will Grohmann, der von Dresden nach West-Berlin gegangen war, und dessen Vertraute Annemarie Zitz eine ästhetische Ausbildung erfuhr und eine Bild-Sprache der Laute und des Körpers entwickelte und mit seinen Denklandschaften außergewöhnlich blieb. Es geht um Peter Graf, der in seiner Freizeit eine eigene unabhängige Malerei betrieb und nach der Ausstellung „Junge Künstler“ in der Akademie der Künste von 1961 als „Modernist“ öffentlich angegriffen wurde. Und es geht um Kunstkritik: Fluxus ohne Ufer contra Realismus mit Ufer. Wobei anzumerken ist, dass Roger Garaudys Titel, den damals alle im Munde führten, korrekt eigentlich „Realismus ohne Scheuklappen“ hieß.

Das zweite Kapitel „Räume der Kommunikation“ bewegt sich in den 60er Jahren. Die gebildeten Liebhaber anspruchsvoller Kunst zogen sich in das kleine Format, insbesondere die Grafik zurück: Ursula Baring stellte privat in Dresden aus, Werner Schmidt im Dresdener Kupferstichkabinett, Werner Tim in der Berliner Nationalgalerie. Es werden die Kunstbuchhandlung Kurt Engewald in Leipzig, die im Hinterzimmer Zeichnungen und Druckgrafik ausstellte, die „Erfurter Ateliergemeinschaft“ als geschlossener Kunstverein, der Ausstellungen und Mappen zusammenstellte, der Jenaer Dozent Bernhard Wächter und weitere Engagierte vorgestellt. Danach wird auch jene sozialistische moderne Malerei gewürdigt, die sich etwa in den Namen von Bernhard Heisig, Willi Sitte und Werner Tübke verkörperte, sowie Fluxus-East und der Mail-Art am Beispiel von Robert Rehfeldt und Ruth Wolf-Rehfeldt.

Kapitel drei ist „Grenzen“ überschrieben. Es lässt uns den Garten von Gerhard Altenbourg betreten als einem bürgerlichen Solitär unter den Künstlern mit seinem zeichnerischen und malerischen Formen der Natur. Es führt uns in das konstruktivistische Werk Hermann Glöckners ein, dem „Patriarchen der Moderne“, mit seinen Faltungen, Linien und Proportionen. Und es reflektiert die Auswirkungen des Machtwechsels von Ulbricht zu Honecker im Bereich der Kunst, der anfangs auf liberale Zeiten hoffen ließ. „Innen und Außen“, das vierte Kapitel, wird mit dem Gothaer Künstler und Theoretiker Karl Waldfried Streubel eröffnet und dessen Rückzug aus der Öffentlichkeit. Danach geht es um eine geplante Ausstellung von Kunst der DDR in Paris und um die Integration vormals verfemter Künstler. Schließlich wird der lange Schatten von Dissidenten wie Wolf Biermann in der Kunst aufgezeigt, die Entstehung improvisierter Galerien im Untergrund, die Rolle kirchlicher Räume und das Wirken Bärbel Boleys.

Im Mittelpunkt des fünften Kapitels stehen die beiden Ausnahmekünstler Ralf Winkler alias A. R. Penck und Gerd Sonntag, deren Werk und Wirken als „Brüche“ der bestehenden Ordnung gedeutet werden. Mit „Stürzenden Ikarussen“, „Schwertern zu Pflugscharen“ und dem „Kampf gegen die Konterrevolution“ wird anschließend die „Krise der Kunstnation“ DDR umrissen. Das letzte Kapitel „Ende der Geschichte“ behandelt die Jahre vor der „Wende“. Kunst im Untergrund mit Katrin Eigenfeld, Annemirl Bauer, Gabriele Stötzer, Lutz Dammbeck, Ludwig Ehrler und vielen anderen, den „Ersten Leipziger Herbstsalon“, „Intermedia“ im Clubhaus Coswig, die Ausstellungen „Götzen, Ismen, Fetische“ im Berliner Dom und „Beuys von Beuys“ in Ost-Berlin. In „Erwartung einer Revolution“ wird schließlich die Freiheit der Andersdenkenden“ beschworen sowie auf den sinkenden Stern Sittes, das Bauernkriegspanorama Tübkes und den letzten Kongress des Künstlerverbandes eingegangen.

Soweit ein kursorischer inhaltlicher Überblick, der bei weitem nicht alle Namen von Künstlern und Schriftstellern nennen konnte, die behandelt werden. Dass die Präsentation im Prinzip mit der Gründung der DDR und mit der Etablierung der stalinistischen Kulturpolitik einsetzt, ist problematisch. Es wird der Eindruck erweckt, als hätten die repressive Formalismus-Kampagne und die stalinistische Kunstpolitik der frühen 50er Jahre fast bis zum Ende der DDR bestand gehabt, als hätten sich die Vorstellungen über den sogenannten „Sozialistischen Realismus“ über die Jahre kaum geändert. Damit wurde ein Ausgangspunkt gewählt, der historiographisch und kulturgeschichtlich überholt ist. Es fehlt die Vorgeschichte von 1945 bis 1949, die offene Kunstsituation dieser Jahre und ihr Weiterwirken. Erst in dem Gastbeitrag von Hannes Schwenger über den Hallenser Künstler und Überlebenskünstler Fritz Baust wird auf diese Problematik explizit eingegangen. Vielleicht war das auch der Grund dafür, ihn am Schluss des Bandes einzubringen, obwohl er eher an den Anfang gehört hätte, weil er die künstlerische Pluralität der frühen Jahre dokumentiert.

Mit ihrem Ansatz ist es der Autorin auch entgangen, dass sich bereits in der DDR in der zweiten Hälfte der 70er Jahre, konkret im Katalog der von ihr nur beiläufig erwähnten Ausstellung „Weggefährten-Zeitgenossen“ von 1979, eine Historisierung und Neubewertung der Kunstentwicklung vollzogen hatte: Nicht in der III. Deutschen Kunstaustellung von 1953 mit ihrer pseudo-realistischen und pathetisch idealisierenden Malerei hatte sich die Kunst der DDR formiert, sondern in jenen Nachkriegsjahren. Werke wie Wilhelm Lachnits „Tod von Dresden“, Horst Strempels „Nacht über Deutschland“ und Hans Grundigs „Den Opfern des Faschismus“ wurden nun als eigentlicher Beginn der sozialistisch-realistischen Kunst interpretiert. Hinter diesen Stand konnte auch die Kulturpolitik nicht mehr zurück. Bereits zum Ende der 60er Jahre hatte die SED den Kampf um die Durchsetzung eines unverwechselbar sozialistischen kollektiven Stils verloren und die künstlerischen Freiräume nahmen in den 80er Jahren entscheidend zu.

Hinsichtlich seiner kulturhistorischen und kunstpolitischen Aussagen und Einordnungen ist der Text eindimensional. Als wäre die Kunst von der SED allein als Waffe im Klassenkampf verstanden worden und als hätte es keinen antifaschistischen Konsens gegeben. Begriff und Kulturtechnik des Antifaschismus finden keine Erwähnung. Und über die Wandlungen des sogenannten „Sozialistischen Realismus“ von einer stalinistischen Doktrin über eine ideologisch-ästhetische Theorie bis hin zu seiner Auflösung in der Praxis erfährt man relativ wenig, obwohl doch die Künstler darauf einen maßgeblichen Einfluss hatten. Lapidar heißt es: Er „war im Grunde keine Stilrichtung, sondern eher ein staatliches Programm“. (S. 6) Ebenso vereinfachend werden die Kunstpolitik und die Kunstverhältnisse in der Gesellschaft dargestellt. Der Fokus der Autorin ist auf die einzelnen Künstler gerichtet, die verschiedenen kunstpolitischen Akteure und die unterschiedlichen Institutionen kommen selten in den Blick. Zumeist war es eben „die Partei“ bzw. „das MfS“, die beeinflussten, unterdrückten, behinderten, verboten oder vertrieben. (Doch die Bewertungen des MfS: staatsfreundlich, indifferent, staatsfeindlich, können heute keine Kriterien für künstlerische Leistung sein.) Zudem lernten die Künstler, mit den regionalen und lokalen, in verschiedenen Organisationen verzweigten Faktoren der Staatsordnung und mit deren konkurrierenden Ehrgeiz immer besser umzugehen.

Für die 80er Jahre konstatiert die Autorin das Verblassen der großen Utopie. „Auch die Idee des ‚Sozialistischen Realismus‘ in der Kunst mochte groß sein – aber wirklich mitreißende, völkerverbindende und friedensstiftende sozialistische Kunstwerke waren in der realen Welt so selten wie das Einhorn… Manchmal schienen die sozialistischen Verhältnisse in der Kunst geradezu erstickend konservativ zu sein – ästhetisch, romantisch, vergangenheitssüchtig.“ (S. 278) Dagegen eroberten sich die Künstler langsam und unter Schwierigkeiten ihre Autonomie zurück. „Unzählige Nischen bildeten sich, und langsam entglitt die Kunst der staatlichen Kontrolle... Die so lange verdrängte autonome Moderne kehrte zurück, spät, mit umso größerer Leidenschaft, subjektiver als in vergangenen Zeiten jemals.“ (S. 311f.) Ihr Fazit: „In der Bundesrepublik war die moderne Kunst, vielfach neu interpretiert, ein sichtbares Zeichen des demokratischen neuen Anfangs. In der DDR dagegen wurde die Kunst der Moderne und der Gegenwart von wenigen einzelnen Künstlern und Vermittlern gepflegt und fortgesetzt, gegen Widerstände und unter Gefährdungen, Viele von ihnen verließen auf die Dauer den Staat. Sie bildeten ein Gewebe vielfältiger Beziehungen, ein Gedächtnis, ein hintergründiges Strömen.“ (S. 337)

Im Prinzip hat die Autorin die alte Konfrontationsformel: Abstraktion/Moderne West contra Realismus/Tradition Ost in gewisser Weise auf die Kunst innerhalb der DDR übertragen. Dabei blieb doch auch für viele Künstler in der DDR der Wunsch bestimmend, an die Kunst vor der NS-Zeit anzuknüpfen und das eigentlich spannende waren die untereinander konkurrierenden Angebote zu einer Moderne für eine neue Gesellschaft. Denn sehr viele Künstler sympathisierten mit der Idee des Sozialismus ohne Anhänger der SED-Ideologie oder gar ihrer Kunstpolitik zu sein. Die ostdeutsche Künstlerschaft sauber in zwei gegensätzliche Gruppen aufzuteilen, hie staatsferne da staatstragende Kunst, zieht Grenzen, die es so nicht gegeben hat. Da gab es immer Brücken und Stege, Kooperationen, Grenzgänger und Seitenwechsel. Der Antagonismus ist nur ein scheinbarer, denn man bewegte sich auf der gemeinsamen Basis der mehr oder weniger akzeptierten ostdeutschen Gesellschaft und ihrer spezifischen Kunstverhältnisse. Die Debatte darüber ist noch nicht abgeschlossen und hilfreich, weit über die Grenzen des Gegenstands hinaus.

Denn dieser Streit führt „nicht nur zu Verletzungen, sondern weist auch positive Resultate auf. Man kann mit einigem Recht behaupten, dass die anhaltende und im Ton nicht milder werdende Debatte über die Kunst in, aus oder einfach der DDR der einzige Kulturdiskurs ist, der einen auch gesamtdeutsch registrierten Erkenntnisgewinn verspricht – über die enggesteckten Grenzen polarisierender Teilinteressen zwischen „Ausgebürgerten“ und „Dagebliebenen“, zwischen Dissidenten und Staatskünstlern, Künstlern (Ost) und Künstlern (West) hinaus.“ (Paul Kaiser und Karl Siegfried Rehberg: Editorial der Herausgeber. In: Enge und Vielfalt – Auftragskunst und Kunstförderung in der DDR, Analysen und Meinungen, Hamburg 1999, S. 6.)