Rezension | Kulturation 2021 | über Yana Milev: Entkoppelte Gesellschaft - Ostdeutschland seit 1989/90, Band 3: Exil | Gerlinde Irmscher | Ostdeutsche im Exil?
| Yana Milev,: Entkoppelte Gesellschaft - Ostdeutschland seit 1989/90, Band 3: Exil, Peter Lang, Berlin, 2020
Das hier zu besprechende Werk gehört zu einem teils bereits realisierten, teils noch geplanten Zyklus von neun Bänden, mit dem das Ziel verfolgt wird, anhand von soziologischen Daten wie medialen Zeugnissen darzustellen, wie und warum Ostdeutschland heute vielfach als „entkoppelte Gesellschaft“ erscheint. Neben der Zeitdiagnose solle auch die politische Bildung befördert werden. Diese Aufgabenstellung ergibt sich aus den Interessen der Förderer des Projekts, zu denen neben akademischen auch Institutionen wie die Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen e.V. mit eher praktisch-politische Interessen gehören. Das Projekt, dem Yana Milev vorsteht, reiht sich damit in eine Reihe von Bilanzierungs- und Erklärungsversuchen ein, die dreißig Jahre nach dem Ende der DDR einfordern, die altbekannten Wege der Diffamierung der DDR zu verlassen (die im Übrigen komplementär die westdeutsche Geschichte zu einer reinen Erfolgsstory verklärt haben). Am Ende soll ein „umfassendes Kompendium der neoliberalen Entkopplung am Beispiel (Ost-)Deutschlands“ vorliegen (S. 25). Der Terminus „Kompendi-um“ verweist auf die vorherrschende Untersuchungs- und Darstellungsweise, die zwar „eine politische Theorie, eine politische Soziologie und eine politische Psychologie der sogenannten ‚Wiedervereinigung‘“ (S. 24) bieten soll, letztendlich aber dazu dient, umfassendes Datenmaterial zu sichten, zu ordnen und zu bewerten. Man könnte auch von einer Theorie geleiteten Dokumentation mit politischem Anliegen sprechen.
Nach 1990 passierte etwas, womit die meisten Ostdeutschen nicht gerech-net hatten: ein fundamentaler Wandel, ja eine Zerstörung ihrer alltäglichen Lebenswelt, der Selbstverständlichkeiten und des Selbstverständnisses. Sie entwickelten unterschiedliche Strategien, um damit fertig zu werden, um wieder belastbare Grundlagen ihres Lebens aufzubauen. Das gelang vielen mehr schlecht als recht. Den Ostdeutschen wurde manches auferlegt, das Milev streitbar als Annexions-, Vertreibungs- und Assimilationspolitik charakterisiert. Das sind politische Strategien, die für koloniale Unterwerfung charakteristisch sind und Rassismus generieren. Im Ergebnis wurden und werden die „Eingeborenen“ diskriminiert, inferiorisiert und ethnisiert.
Zunächst behandelt Milev staatliches Handeln seitens der Bundesbehörden, die unter Negierung von Widerstand und Alternativvorschlägen aus einem Industrieland ein Entwicklungsland gemacht hätten. Letztere werden ausführlich dokumentiert und belegen, dass viele Ostdeutsche engagiert für ihre Interessen eintraten - allerdings ohne Erfolg. Im Zentrum der Betrachtung steht das Wirken der Treuhandanstalt, die tatsächlich in einem „Abwick-lungsfeldzug“ (S, 265) nach nur vier Jahren „eine flächendeckende Vernichtung des Produktivvermögens der DDR und einen sozialen Niedergang in bisher nicht gekanntem Ausmaß“ hinterließ.
Die „Stiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur“ und die Stasi-Unterlagenbehörde (BStU) gelten Milev als „Schwesterbehörden“ der Treuhand-Anstalt: Liquidierung und Nihilierung seien nur zwei Seiten derselben Medaille.
Im zwölften Abschnitt des mit den an Freud gemahnenden Begriffen „Trau-ma und Tabu“ überschriebenen zweiten Teils wird das „Trauma“ unter Rückgriff auf entsprechende soziologische Theorien näher als „Entkopplung und Entortung“ beschrieben. Dem entsprechen kulturelle Verwerfungen (von Milev als „politischen Psychologie“ eingeführt), die letztlich das Selbst der Neubundesbürger in Frage stellen müssen. Die Rezensentin erinnert das an eine „Eulenspiegel“-Karikatur aus den frühen 1990er Jahren: Ein Ostdeutscher übergibt jemandem seine Visitenkarte und bemerkt dazu, dass darauf fast nichts mehr stimmt, die Telefonnummer nicht, der Straßenname, die Berufsbezeichnung und so fort. Am Ende zieht er die Karte zurück, sie scheint ihn nicht mehr zu repräsentieren.
Diese Auflösung des Selbst wird massiv befördert durch das, was Milev die „christlich-demokratische Säuberung“ (S.358) nennt, durch Antikommunis-mus, Antisozialismus und Antiatheismus im Verein mit der Abwertung von Sozialstaatlichkeit und Innovationen in der DDR. Das ist nicht ohne demo-grafische, psychosoziale und gesundheitliche Folgen abgelaufen, deren Darstellung zu Recht fast einhundert Seiten gewidmet werden. Sie werden noch lange gesellschaftliche Realität sein, weshalb zum Abschluss des Bandes gefragt wird, ob es „eine Zukunft der Gleichbehandlung und des Wohlstands für (Exil-)Ostdeutsche in Ostdeutschland“ geben könne (S. 505) und welche Wege zu beschreiten wären.
Das sieht die Rezensentin eher pessimistisch und zwar aus folgendem Grund: Die (Exil-)Ostdeutschen, wenn man bei diesem Begriff bleiben will, leben in einem Land, das mehrheitlich von Westdeutschen bewohnt wird. Erst diese machen es sinnvoll, den Begriff des Exils überhaupt zu gebrauchen. Sie haben der im vorliegenden Band kritisierten Vereinigungspolitik (fast) nichts entgegengesetzt, und zwar teilweise gegen die eigenen Interessen (siehe Neoliberalismus). Sie haben, bewusst oder unbewusst, daran mitgewirkt, dass die Autorin von den Ostdeutschen „als Einwanderer(n) und Fremde(n) im eigenen Land“ (S. 22) sprechen kann. Erst der Blick auf die reziproke Wahrnehmung schafft nach Auffassung der Rezensentin ein Gesamtbild. Hier könnte das Konzept der alltäglichen Lebenswelt von Alfred Schütz eine theoretische Basis liefern, dessen Fruchtbarkeit ihr Schöpfer, ein österreichischer Jude und Exilant in den USA, selbst in einem Essay „Der Fremde“ aus dem Jahre 1944 vorgeführt hat. Auch die strukturelle Ähnlichkeit der Lage von Ostdeutschen mit Migranten, wie sie Foroutan/Hensel diskutieren, wird aus dieser Perspektive evident. (Vgl. dazu u. a. : Foroutan, Naika; Hensel, Jana: Die Gesellschaft der Anderen, Berlin 2020 und Irmscher, Gerlinde: „Fremde im eigenen Land?“ Ein Angebot zur Interpretation, in: Kulturation. Online Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik, 33/2011.)
Leserinnen und Leser können gespannt sein, welche Ergebnisse die folgenden Bände noch zu Tage fördern werden - Yana Milev ist zu wünschen, dass dieses Projekt wie geplant vollendet werden kann.
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