Text | Kulturation 1/2003 | Dietrich Mühlberg | Vom langsamen Wandel der Erinnerung an die DDR
| I.
Über allgemeine Bedingungen ostdeutschen Erinnerns
Vorbemerkung
Anlaß für diese Skizze war die Anfrage, ob
sich auf einer Tagung über das Verhältnis von Gedächtnis und
Zeitgeschichte bereits etwas über mögliche Wandlungen der Erinnerung an
die DDR aussagen lasse. Und dies vor dem Hintergrund der Tatsache, daß
Erkenntnisse historischer Forschung immer wieder in konflikthafte
Beziehung zu jenen Geschichten vom Vergangenen geraten, die im
Alltagsleben der Leute umlaufen und ihrer Vergewisserung in aktuellen
Zeitläufen dienen. Gerade diese Berührungen und Konflikte zwischen der
"außerwissenschaftlichen" Erinnerung der Vielen einerseits und der
professionell betriebenen Zeitgeschichte und ihrer politischen
Verwertung auf der anderen Seite, sind in den ostdeutschen Ländern,
sind bei der Population der ostdeutsch Sozialisierten, von eigener Art.
Dies vor allem, weil der "Erinnerungsbedarf" einer großen Mehrheit der
Ostdeutschen von den offiziellen Verlautbarungen kaum berücksichtigt
wird. Sie werden sogar angehalten, den größeren Teil ihrer Erfahrungen
aus der Erinnerung zu löschen und sich an das "kommunikative und
kulturelle Gedächtnis"[1] der anderen deutschen Teil-Gesellschaft zu
halten. In eigener Sache verbleiben sie darum auf der Stufe oraler
Traditionsbildung. Durch viele kleine Geschichten, durch
Bewahrungshandlungen und durch Erinnerungsstücke bilden sie eine
zerstreute Erinnerungsgemeinschaft. Die wird noch kaum durch eigene
Verarbeitungen zusammengehalten, sondern vor allem durch den
anhaltenden Vorwurf von Politikern, Wissenschaftlern, Militärs,
Publizisten, Chefs usw., daß sie immer noch so anders sind und von
unstrittigen kulturellen Normen abweichen. Das irritierte sie und sie
fragten mit den Jahren vermehrt danach, wer sie selbst sind, woher sie
kommen und worauf sie sich stützen könnten. Aktuelle
Konfliktsituationen und der völlige Verlust der Traditionssicherheit
forderten sie immer wieder heraus, sich anders als offiziell erwartet
zu erinnern. Dafür zwei alltägliche Beispiele unterschiedlicher Art.
"Es ist mein Vaterland und meine Muttersprache, ich habe nie woanders
gelebt, aber die Leute auf den Briefmarken kenne ich nicht."[2] Mit
diesem Satz leitet Daniela Dahn ihr Plädoyer "Für eine ehrliche
Geschichtsschreibung auf beiden Seiten" ein. Es mag zunächst als
Lappalie gelten, daß Ostdeutschen und ihnen vertrauten Personen der
Platz auf der Briefmarke ausdrücklich verwehrt bleibt. Doch diese
postalische Ausgrenzung ist nur ein Symptom. Von anderem Gewicht war
es, als der Bundespräsident auf der großen Berliner
Anti-Terror-Demonstration eine kluge ausgewogene Rede hielt und es
dabei wohl gar nicht bemerkte, daß eine einzige bekräftigende
Nebenbemerkung das große Auditorium sofort in zwei Lager spaltete.
Besonders hätten die USA, so meinte er, Anspruch auf die Solidarität
der Berliner - nach allem, was Amerika gerade für sie getan habe! Eine
ostdeutsche Publizistin antwortete ihm. "Wenn Ostdeutsche kühler
erscheinen in ihrer Reaktion auf das Drama von New York, ist das nicht
Antiamerikanismus, sondern Distanz. Im Osten glaubt man weniger an Gut
und Böse als an die Verstrickungen von Macht bei der Durchsetzung
ökonomischer Interessen. Es ist eine andere Gefühlslage. Die
Ostdeutschen sind nicht dankbar, sie haben keine Care-Pakete mit
überseeischem Milchpulver empfangen. Sie sind mit Amerika nicht
verwandt."[3]
Solcherart geschichtliche Ausgrenzung der Ostdeutschen ist alltäglich,
weil Westdeutsche es gar nicht für möglich halten können, daß es noch
eine andere historisch Erfahrung und ein anderes gültiges Verhältnis
zur Vergangenheit geben könnte. In solcher "Blindheit" sollte keine
naive Selbstgerechtigkeit gesehen werden, haben doch Jahrzehnte des
Kalten Krieges und das politisch verbindliche Delegitimierungsgebot
dafür gesorgt, daß es für Westdeutsche außer einem Arbeiteraufstand
(immerhin !) und den Demonstrationen von Bürgerrechtlern nichts
Positives an der Vergangenheit der Ostdeutschen gibt.
Das Nachdenken über den Wandel der Erinnerung bleibt kaum unbeeinflußt
von dieser allgemeinen ideologischen Ost-West-Kontroverse, die an
Brisanz in den letzten Jahren eher zugenommen hat. Spezieller stehen
sich, wenn es um die Geschichte der DDR geht, im Großen und Ganzen die
Erinnerungen der Ostdeutschen und die professionelle Geschichtsdeutung
von Westdeutschen wenig vermittelt gegenüber.
Das beeinfluß auch die Materiallage für diesen leichtsinnigen Versuch,
einen sachlichen Bericht darüber zu geben, wie sich in der ostdeutschen
Teilgesellschaft das Erinnern an die untergegangene DDR gewandelt haben
könnte. Zumal es außer der irritierenden Tendenzlastigkeit der
einschlägigen Befunde auch an gesichertem empirischen Material zu
diesem speziellen Thema mangelt. Überdies ist "Erinnerung" ein weites,
unübersichtliches Feld und schließlich dürfte auch die recht kurze
Spanne von zehn Jahren es noch gar nicht zulassen, eine "Geschichte des
Erinnerns" zu entwerfen. Um dies zu leisten wäre das "Erinnern" als
kollektiver Vorgang in der Zeit auf seine Motive, Anlässe und Medien zu
untersuchen. Auch wären die politischen Steuerungen, die Einflüsse der
Massenmedien wie die der professionell-akademischen Erinnerungsarbeit
näher anzusehen. Zudem wäre die Beziehung auf den
historisch-kulturellen Erinnerungs- und Aufarbeitungsbetrieb der
Bundesrepublik zu betrachten, die Automatik der Jahrestage ebenso wie
die Installation von alltäglichen Verweisungen auf die politische
Geschichte, also von Denkmälern und öffentlichen Bauten, von
Inschriften, Straßennamen, Briefmarken, politischen Symbolen und
Fahnen, von Gelöbnissen, Festen, Umzügen usw. Zu berücksichtigen wäre,
was in den Schulen geschieht, was durch die politische Bildungsarbeit
verbreitet wird usw. - also das ganze institutionelle Feld der
bundesdeutschen Geschichtskultur wäre darauf abzuleuchten, in welcher
Beziehung es zur Erinnerung der Ostdeutschen steht, zu der ja auch die
zeithistorischen Studien der abgedrängten ostdeutschen Wissenschaftler
gehören. Bislang ist das nur punktuell und recht kontrovers geschehen.
Gleichwohl ist die Situation nicht hoffnungslos, denn Hinweise auf
erinnerndes Verhalten finden sich in diversen Umfrageergebnissen
(Forsa, Allensbach, Emnid u.a.), findet sich bei der Marktforschung
(sinus, Burda, Mediaperspektiven u.a.), in soziologischen und
sozialpsychologischen Studien (Universitäten Trier und Leipzig, WZB,
BISS, SFZ, Gewis u. a.), in Reportagen und publizistischen Äußerungen,
in ostpolitischen Debatten (Landtage, Forum Ostdeutschland der SPD
u.a.), vor allem auch in den Ostdeutschland betreffenden Kunst- und
Literaturdebatten, in Ausstellungen und in ihrer Resonanz
(Besucherbücher, Presse), in autobiographischen Bekenntnissen und
weiterem (insgesamt heterogen) Material.
Im folgenden werden zunächst allgemeine Bedingungen ostdeutschen
Erinnerns skizziert. Danach wird auf Phasen der erinnernden Beziehung
zur DDR hingewiesen und schließlich versucht, Tendenzen der
ostdeutschen Erinnerung an die DDR-Gesellschaft zu benennen.
Es fehlt ein übergreifendes Verständnis von Tradition
Zu den allgemeinen Umständen ostdeutscher Vergangenheitsbeziehung
gehört, daß mit dem Zusammenbruch des Sozialismus und dem Beitritt der
politisch reformierten DDR zur Bundesrepublik die Beziehung zur
Vergangenheit neu definiert und alles Erinnern in eine neue Motivlage
gekommen war. Der deutsche Nationalstaat war wiedererstanden und in
beiden Teilgesellschaften hatte sich damit die Perspektive auf die je
eigene Herkunftsgeschichte geändert: es waren nun aufeinander bezogene
Teilgeschichten einer zeitweilig gespaltenen Nation.
Mit dieser unerwarteten Wendung kam erneut die Frage auf, die im 19.
Jh. die nationalstaatliche Identitätsbildung begleitet und
vorangetrieben hatte: woher kommen wir und wohin gehen wir? Hier war
nun plötzlich die vier Jahrzehnte währende Sezession der Ostdeutschen
und ihre unerwartete Entscheidung für die nationale Einheit zu
verarbeiten. Die großen Fraktionen westdeutscher Politik waren sich in
der Beurteilung der zusammengebrochenen DDR schnell einig. Argumentativ
ausgestattet durch die analogen Fraktionen in der Historiographie,
betrieben sie eine Erinnerungspolitik, mit der sie auszulöschen, zu
bewahren und hervorzuheben suchten. Hinsichtlich des ostdeutschen
"Realsozialismus" war sie ausschließlich abgrenzend ("zweite deutsche
Diktatur"), hinsichtlich der Nation doppelt unentschlossen. Einerseits
galt das nationale Kapitel bereits als abgeschlossen. Und wenn man sich
widerwillig - weil ja nun das Zusammenwachsen zu innerer Einheit
angesagt war - auf das Nationale einließ, war nicht zu erkennen, worin
denn außer der Schlüsselübergabe ein positiver ostdeutscher Beitrag zur
deutschen Nation bestanden habe.
Die dadurch entstandene Lage sollte sich als problematisch erweisen.
Zwar konnte es zunächst beruhigen, daß der Überschwang des medial
inszenierten Einheitstaumels von 1990 für das "Nationalbewußtsein"
zunächst folgenlos war. Doch die ideelle Seite der Integration der
Ostdeutschen beschränkte sich auf die Segnungen der D-Mark und
bestätigte so die "Wirtschaftswunderidentität" der Westdeutschen
nachdrücklich, die Überflußgesellschaft hatte über die
Mangelgesellschaft gesiegt. Zugleich aber stützte die einsetzende
Dauerdebatte über Totalitarismus und über die Diktatur des SED-Regimes
den Geschichtsrevisionismus und führte folgerichtig nach Noltes Vorstoß
in den 80er Jahren zu einem zweiten Schub der Relativierung des
NS-Regimes. Doch waren die Debatten um Botho Strauß, Hans Jürgen
Syberberg, um Leitkultur und die neuen Pflichten der Deutschen
westdeutsche Themen. Im Osten wurde wahrgenommen, daß sie nicht nur
alle Lösungen entwertete, die in Ostdeutschland für die Problemlagen
moderner Gesellschaften gefunden worden sind, sondern auch die Ideen
und Praxen demokratischer Gegenbewegungen wertlos machte - sie hatten
sich am falschen Gegner abgearbeitet und waren darum zwar für den
Diktatur-Diskurs brauchbar, aber für die neue Bundesrepublik praktisch
wertlos. So übten die Westdeutschen zwar einen starken kulturellen
Assimilationsdruck aus, doch unterblieben Angebote, die aus der
deutschen Tradition Ausgegrenzten in eine höhere fiktionale
Gemeinschaft wieder aufzunehmen. Das sollte mit ihrer Bekehrung zu
Verfassungspatriotismus, mit Reden über Freiheit und Demokratie
abgedeckt werden. Als solche Missionen nicht recht erfolgreich waren,
wurden sie mit dem unpassenden Hinweis verteidigt, daß ja auch die
autoritär geformten frühen Bundesbürger erst durch den
Wirtschaftswunderwohlstand von den Vorzügen westlicher Demokratie
endgültig überzeugt worden sind. Man müsse also auch bei den
Ostdeutschen abwarten können, aus ihnen würden schon noch rechte
Demokraten werden.
Solcherart Nachsicht mußte von Ostdeutschen als Selbstgerechtigkeit
empfunden werden, wurde ihnen ja nicht - wie den unwilligen
Westdeutschen nach 1945 - das westliche Demokratiemodell aufgedrückt.
Sie selbst waren die Akteure der demokratischen Wende von 1989/90, die
aus einer inneren Entwicklung der DDR hervorgegangen ist. Aber gerade
das aus dieser Eigenbewegung hervorgegangene Selbstbewußtsein fand
keinen Platz im offiziellen Selbstverständnis der neuen Bundesrepublik.
Folge der Geschichtspolitik war es, "... daß für den jüngsten,
originellsten Erinnerungsbestand der Ostdeutschen in der
bundesdeutschen Tradition wirklich kein Platz ist: Für die Erfahrung
der Ostdeutschen, erfolgreich zivilen Ungehorsam geübt, erfolgreich
plebejische und demokratische Forderungen gegen die politische Macht
gewendet zu haben. Ebenso wenig für die Erfahrung der Ostdeutschen, wie
sie mit mehr oder weniger Risiko eine demokratische, friedliche
Revolution zuwege brachten. Auch nicht für die Erfahrung, daß sie dabei
- Demonstrant und Polizist wie Kampfgruppenkämpfer - zu Verantwortung
und Verständigung, Phantasie und Utopie fähig waren."[4]
So kommt es zu der kuriosen Situation, daß der Mainstream der
offiziellen Geschichtsdarstellung seine Schwachstelle - in den Augen
der Ostdeutschen - ausgerechnet in seinem Demokratieverständnis hat.
Abgesehen davon, daß die SED selbst unter der "sozialistischer
Demokratie" eine diktatorische Herrschaftsform verstanden hatte, mußte
mit dem erneuten Diktatur-Ansatz das kritische Anliegen der
oppositionellen Bürgerbewegung verfehlt werden. Sie hatte ausdrücklich
"mehr Demokratie" gefordert und darunter etwas deutlich anderes
verstanden, als es die Demokratieformen der Bundesrepublik zu leisten
vermochten. Zwar teilte die Mehrheit der Ostdeutschen die Vorstellungen
der Bürgerrechtler nicht. Doch übereinstimmend war und ist der Gedanke,
Demokratie müsse es jedem ermöglichen, in allen ihn betreffenden
Angelegenheiten mitreden zu können.
Heimatlos in eine prekäre Zukunft versetzt
Die DDR war für so gut wie alle Ostdeutschen ein beinahe hermetischer
Erinnerungsraum. Die langsamen Wandlungen ihrer deutschen
Teil-Gesellschaft bildeten den mehr oder weniger bewußt gewordenen
Erlebnis- und Erfahrungshintergrund, auf den auch die beobachtete
Geschichte der Nachbarländer - voran die der Bundesrepublik - bezogen
wurde. Für die entsprechenden Generationen dürften Nachkrieg und
Aufbauphase die mit dem eigenen Lebenslauf am intensivsten verbundenen
Phasen gewesen sein. Sie hoben sich auch im offiziellen Geschichtsbild
deutlich ab, das die DDR-Geschichte ansonsten als ein Kontinuum ohne
ernsthafte Brüche schilderte.
Als die Ostdeutschen diese Kontinuität beendeten, fanden sie sich
plötzlich und unvorbereitet in einer Gesellschaft, deren Geschichte sie
nicht angehörten und deren geistige Eliten alles daran setzten, ihnen
das auch klar zu machen. Nun soll die Wirksamkeit dieser gehobenen Art
von Fremdenfeindlichkeit nicht überschätzt werden, weil der
Kontinuitätsbruch beim Übergang in das andere Gesellschaftssystem von
ganz elementarer Art war und die offiziell gewollte Geschichtslosigkeit
ihn nur noch verstärken konnte. Allerdings war die westdeutsche
kulturelle Elite außerordentlich gereizt und verdrossen - offenbar
arbeitete sie nun einen Teil der eigenen Vergangenheit am Osten ab. Es
wurde eine große Abrechnung inszeniert, mit der den ostdeutschen
Traditionsträgern das moralische Recht entzogen werden sollte, an der
Erinnerungsarbeit der neuen Bundesrepublik teilzunehmen. Es geschah
dies erst jetzt, weil - so Karasek 1990 - man vorher "die DDR um des
lieben Friedens und um der utopischen Hoffnung willen nicht reizen
wollte"[5].
Aus der Distanz nur weniger Jahre erstaunt es, mit welchem Haß und Hohn
hier die absolute Deutungshoheit mißbraucht worden ist, um
konkurrierende Intellektuelle zu schmähen. Kaum eine der
intellektuellen Leitfiguren innerer Systemkritik wurde ausgelassen,
keine ostdeutsche Wortmeldung übersehen. Man erinnere sich nur, auf
welches Unverständnis das Gedicht "Eigentum" von Volker Braun 1990
stieß: "Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen"[6]. In der Summe
wurde er zum vernagelten Anhänger der SED-Diktatur gestempelt. Keiner
seiner Kritiker mochte auch nur ahnen, wie intensiv sich hier auf
wenigen Zeilen bereits das zukünftige ostdeutsche Verhältnis zur
eigenen Geschichte ausdrücken sollte.
Von der Mehrheit der Ostdeutschen wurde die geistige Demontage ihrer
traditionstragenden Personage kaum bemerkt, sie waren mit ganz anderen
Problemen beschäftigt. Erst langsam wurden sie sich ihrer Auswanderung
aus der eigenen Geschichte, ihrer plötzlichen geistigen Heimatlosigkeit
bewußt und es begann das Erinnern an die verlassene Gesellschaft. Es
war durchaus vergleichbar mit dem Rückblick der in der Neuen Welt
gelandeten Auswanderer auf die zurückgelassene Herkunftsregion und
Heimat, deren Unwirtlichkeit sie vertrieben hatte.
Die westdeutschen DDR-Spezialisten formierten sich neu
Auch auf westdeutscher Seite gab es Veränderungen. Dort hatten auf den
Gegenstand des Erinnerns zunächst die langjährigen DDR-Forscher
mehrerer Disziplinen ein Monopol. Sie begannen sich 1990 um die
rechtmäßige Interpretation zu streiten, eine Veranstaltung an der sich
kaum noch ostdeutsche Wissenschaftler beteiligten, ihr Gros war durch
westdeutschen Personen- und Institutionentransfer bereits davon
ausgeschlossen. Der Begründungsvorwurf der Staatsnähe und
Systemrechtfertigung traf dabei auch fast alle diejenigen, die schon
vordem für ein historisch-kritisches Bild von der realsozialistischen
Gesellschaft plädiert hatten.
Weit abgeschwächter versetzte es auch diejenigen Westdeutschen in eine
Verteidigungsposition, die mit einer größeren Dauerhaftigkeit des
realsozialistischen Ostblocks gerechnet hatten und sich im Dienste
friedenserhaltender Koexistenz auf eine vergleichende Betrachtung der
Systeme eingestellt hatten. Inzwischen hatte sich die Formel "Wandel
durch Annäherung" erledigt und nun war nicht mehr zu fragen, welche
unterschiedlichen Problemlösungskompetenzen oder welche
verwandtschaftlichen Züge die beiden konkurrierenden Systeme besaßen.
Solche Fragen schienen sich durch den Sieg "des Westens" erledigt zu
haben. Jetzt war nur noch zu klären, wie es kommen konnte, daß die
SED-Diktatur sich so erstaunlich lange hatte halten können. Das
Täter-Opfer-Schema wurde dominant. Während westliche Politiker
aufgebrachten Bürgerrechtlern gegenüber beteuern mußten, mit den
gestürzten Diktatoren nur zum Scheine verhandelt und wahrhaftig nur auf
ihren schnellen Sturz erpicht gewesen zu sein, war dies bei den
Wissenschaftlern, die schnell im Geruche standen, Mit-Täter gewesen zu
sein, etwas schwieriger. Auch sie sortierten ihr Erinnerungsmaterial
neu und gingen - im Verein mit jener Gruppe von Bürgerrechtlern, die
sich nun auch als langjährige heftige Gegner des Realsozialismus zu
verstehen begannen - daran, mit den geistigen und politischen Folgen
der SED-Diktatur aufzuräumen. Zugleich bestand in der Öffnung aller
ostdeutschen Archive eine große Versuchung für Historiker, sich an der
Ausweidung der ostdeutschen Vergangenheit zu beteiligen und die
Geschichte ihrer Brüder und Schwestern aus den Papieren der Macht zu
schreiben. Dies gab notwendigen Neuinterpretation des
realsozialistischen Geschehens eine ganz eigene Note.
Ostdeutsche sind von der Neuinterpretation ausgeschlossen, aber unter bestimmten Bedingungen zugelassen
Ostdeutsche waren nunmehr nur noch am Rande an der Bearbeitung der
DDR-Vergangenheit beteiligt. Ihre Historiker und Sozialwissenschaftler
waren dazu weitgehend ungeeignet, denn entweder wurden sie als
notorische Ideologen des untergegangenen Regimes oder als inkonsequente
Reformer (und damit als die wirksameren Stützen der Diktatur) entlarvt
und ausgeschieden. Die Dämonisierung der ostdeutschen
Sicherheitsdienste ermöglichte es danach, beinahe jede störende Person
ins Abseits zu stellen.
Abgesehen von der kleinen Zahl ostdeutscher Wissenschaftler, die in
zeithistorische Forschungsprojekte eingebunden wurden, haben die
Ausgesonderten in vielen Einzelprojekten (die jenseits der
Wissenschaftsförderung möglich waren, meist über örtliche
Trägervereine, bei Museen und Kulturämtern, finanziert als ABM)
begonnen, DDR-Geschichte neu zu schreiben. Es ist noch nicht
auszumachen, was hier - in recht verschiedener Perspektive auf die DDR
- zur Ergründung ihrer Geschichte geleistet worden ist (Sicherung
biographischer Erinnerungen, lokale Forschungen, Erhalt ausgesonderter
Sammlungen und Archive, Alltagskultur, Umwelt- und Kunstprojekte u.
a.). Peer Pasternack hat im Rahmen einer Studie zu den geistes- und
sozialwissenschaftlichen Zeitschriften in Ostdeutschland einen
ernüchternden Überblick über das verbliebene Wissenschaftspotential
gegeben[7]
Die von diesen Gruppierungen und Einzelforschern geleistete
historiographische Arbeit wird vom akademischen Betrieb kaum
wahrgenommen und von den Medien ignoriert. Sie sollte aber nicht
unterschätzt werden, finden ihre Publikationen doch - vornehmlich über
ostdeutsche Kleinverlage - im Osten einen Markt. Dagegen werden die
meist dickleibigen Sammelbände und Monographien der zum Zwecke der
Aufarbeitung der ostdeutschen Vergangenheit geförderten Institute und
Projekte wenig wahrgenommen und fast ausschließlich "im Westen"
abgesetzt - dies schon, weil die inzwischen privatisierenden
ostdeutschen Wissenschaftler sie sich häufig gar nicht leisten können.
Die westdeutsche Deutung war siegreich, hatte aber unbeabsichtigte Folgen
Es war für die ostdeutsche Geschichtskultur prägend, daß sich recht
schnell ein Konsens bildete, der Politik, Medien,
Geschichtswissenschaft und die eher rechtskonservativen Fraktionen der
Bürgerrechtler einte und das Deutungsangebot an die beigetretene
ostdeutsche Bevölkerung festlegen sollte. Nur scheinbar an das
Demokratiebegehren der Bürgerrechtsbewegung anknüpfend, wurde die
geistige Delegitimierung der fehlgeschlagenen sozialistischen
Alternative durch ihre Entlarvung als Diktatur zur (auch
wissenschaftspolitisch) konsequent durchgesetzten Generalstrategie. Die
DDR war als "ein rechtskräftig beendetes Kapitel Feindgeschichte"[8] zu
behandeln. Eine entsprechende Denk- und Sprachregelung wurde in der
Öffentlichkeit durchgesetzt.
Dies auch über den Bereich der Spezialisten hinaus, weil das
"SED-Regime" hinreichend belastendes Material von
sinnlich-anschaulicher Wirksamkeit hinterlassen hat, das zur Stützung
der Thesen gut geeignet war. Die Zentrierung auf das Politische machte
diese Kampagne zugleich schwächlich und abgehoben; sie hatte auch
manche Züge, die den Anstrengungen der Abteilung Agitation im ZK der
SED recht ähnlich sahen, vor allem die Sicherheit und Einschichtigkeit
im Urteil.
Das gilt nicht gleichermaßen für das im Osten aufgebaute System der
politischen Bildungsarbeit, das differenzierter operierte. Doch es
leidet an drei Mängeln. Es propagiert die bundesdeutsche Variante
westlicher Demokratie, der Ostdeutsche von allen Seiten des neuen
Systems am skeptischsten gegenüberstehen. Zweitens konzentriert es sich
- wenn es um Geschichte geht - auf die politische, betreibt also
diversifizierte Kritik an der SED-Diktatur. Und da es in
volkspädagogischer Absicht vom Westen her kommt, heißt dies drittens -
wie Erhard Crome und Muszynski[9] in ihrem Bericht über die politische
Bildung und ihre Bedingungen in Ostdeutschland vorsichtig formulieren -
daß ihr die selbsttragende Entwicklung fehlt. Sie sprechen in diesem
Zusammenhang von Desinteresse und politischer Apathie, sind aber nicht
ohne Hoffnung.
Weit trauriger sieht es da an den ostdeutschen Schulen aus, die in
diesem Punkte nichts als eine schlechte Kopie der westdeutschen
Schulsituation sind. Schon ein Blick in die hier verwendeten
Schulbücher zeigt, daß sie als Orte historischer Vergewisserung
weitgehend ausfallen. Hier lehren verunsicherte Ostdeutsche nach
westdeutschen Lehrbüchern. Als Themen kommen vor: der 17. Juni, der
Mauerbau, die Leipziger Montagsdemos. Allerdings scheint dies nicht
allgemein zu gelten, denn in der Presse erscheinen immer wieder
Hinweise darauf, daß Lehrer ihre Freiräume zu differenzierter
Darstellung nutzen. Das gilt besonders für Berlin, wo dies auch direkt
als Ost-West-Konflikt ausgetragen wird, wenn sich etwa Westberliner
Bildungsbeamte in einem Arbeitskreis zusammenschlossen, "um die
folgenden Generationen vor Infiltrationen durch das 'Wertesystem der
DDR' zu bewahren"[10]. Da die einschlägigen Medienberichte nicht ohne
denunziatorische Züge sind, dürfte ein sachliches Urteil über den
Geschichtsunterricht in Ostdeutschland schwierig sein. Als sicher kann
angenommen werden, daß ostdeutsche Lehrer ihre Schwierigkeiten mit dem
offiziellen Deutungsangebot haben. Nach Analyse der in den Hauptschulen
der Bundesrepublik verwendeten Schulbücher sagte der Historiker
Wolfgang Jacobmeyer über deren allgemeines Darstellungsmuster, daß "es
eher ein politisches System tadelt, als einen historischen Vorgang
abbildet"[11] - ein vorsichtig vernichtendes Urteil. Auch die Automatik
der offiziellen Jahres- und Gedenktage kennt vom Osten das, was die
westdeutschen Schulbücher über den Osten wissen: den 17. Juni, den 13.
August 1961 und den Mauerfall. Ansonsten wird die westdeutsche
Erfolgsgeschichte abgefeiert.
Dem westdeutschen Umerziehungskonzept lag überdies die selbstgewisse -
aber wohl - irrige Vorstellung zugrunde, daß eine konsequente
Delegitimierung des Realsozialismus auf die Stimmungslage der
Ostdeutschen träfe und damit zugleich die Akzeptanz der
freiheitlich-demokratischen Grundordnung steigere. Das verkannte die
Gemütslagen, die Lage und Lebensperspektive der Ostdeutschen zwar nicht
völlig, ging dabei aber falsch mit der Tatsache um, daß sich nur eine
verschwindend kleine Gruppe sich die DDR zurück wünschte. Gerade sie
wurde durch die Aufarbeitungskampagnen in ihrer Nibelungentreue
bestärkt, während die Mehrheit sich eher einer andauernden Belehrung
ausgesetzt fühlte und in eine Rechtfertigungsposition gedrängt sah, auf
die spontan mit dem bekannten Spruch reagiert wurde: "es war ja nicht
alles schlecht, was wir hatten". Das war mehr ein Abwimmeln von
Zumutungen, da ja fast alle inzwischen damit beschäftigt waren, sich in
der neuen Gesellschaft einzurichten. Bekehrung zu wirklicher Freiheit
mußten sie für überflüssig halten, weil sie ja gerade versuchten, die
neuen Freiräume auszuloten, also sich ganz in der Zukunft befanden und
dabei bemerkten, wie wenig das eigene Vergangene und nun Erinnerte
dafür benötigt wurde.
In dieser Situation war es relativ leicht, ein abschließendes Urteil
über die DDR zu fällen. "Der regierungsamtliche Festdiskurs über die
Vereinigung hat eine neue Gründungsgeschichte für die erweiterte
Bundesrepublik geschaffen, in der sich die ostdeutschen Bürger selbst
befreiten, um Demokratie, soziale Marktwirtschaft und nationale Einheit
zu wählen." [12] Dieser Generalinterpretation der Vorgänge von 1989/90
mochte die Mehrheit der Ostdeutschen zunächst ohne größere Einwände
zustimmen. Doch schon bald sollte deutlich werden, daß diese Doktrin,
nach der ein Volk in Ketten sich endlich erhob und die lang ersehnte
Freiheit erlangte, nicht geeignet ist, die vierzig Jahre DDR und das
Handeln der ostdeutschen Sezessionisten in die nun wieder als Einheit
zu denkende Gesellschafts- und Nationalgeschichte der Deutschen
einzuordnen. Aber nicht nur wegen dieses Defizits, sondern auch
aufgrund ihrer Abgehobenheit blieben die offiziellen Deutungsangebote
an die ostdeutsche Bevölkerung relativ einflußschwach.
Ostdeutsche basteln sich ihre Geschichte selber
Trotz langjähriger aufmerksamer Nachbarschaft mußten sich die
Ostdeutschen in einer Gesellschaft zurechtfinden, die sie nicht
kannten. Alle westlichen Strukturen und Institutionen sind unvermittelt
auf den Osten übertragen worden, Markt, Wirtschaft, Technik, Recht,
Politik, Massenmedien, Verwaltung, soziale Sicherungen - nichts davon
ist östlich geblieben. Sie wurden "zu Fremden im eigenen Land, die noch
einmal ganz von vorn anzufangen hatten"[13]. Mühsam stellten sie ihre
alten Strategien und Techniken auf die neuen Umstände ein[14]. In
kurzer Zeit sollten sie so werden, wie Westdeutsche ganz
selbstverständlich sind. Im Großen kann das als Assimilations- und
Anpassungsprozeß interpretiert werden, der nicht nur für
Kulturwissenschaftler ein aufschlußreicher Vorgang ist, weil er bislang
weder in dieser Dimension noch in seiner exogen geprägten Form in
hochentwickelten Gesellschaften zu beobachten war.
Was Ostdeutschland in fünfundvierzig Jahren hervorgebracht hatte, war
mit einem Schlag entwertet, nutzlos geworden. Das ging bis in die
Details der Dingwelt, alles wurde neu und anders: die Zahnpasta und der
Frühstückskaffee, die Fenster, Türen, Wasserhähne, die Möbel,
Fernseher, Autos, Läden, die Brotsorten wie das Bier und die Bücher,
die Straßennamen, die Zeitungen und Radioprogramme usw. usw. Teils
fröhlich, teils wehmütig, wurde fast alles weggeworfen, was die Leute
oft ein Leben lang begleitet hatte und ihre Erinnerungen trug.
An der neu über sie gekommenen Dingwelt hafteten keine lebensweltlichen
Zeichen, die neuen Institutionen und Vorschriften hatten nichts
Vertrautes für sie, mit ihnen verband sich keine gute oder schlechte
Erinnerung. Alles was neu in den Osten kam, war in einer anderen Welt
entstanden. Unsichtbar für die Ostdeutschen, ist es mit dem
"Erlebnisstoff" anderer Generationen beladen, die in einem anderen Land
gelebt haben. Was es den Westdeutschen signalisiert und für sie
bedeutet, kann keiner im Osten verstehen oder nachempfinden.
Zugehörigkeitsgefühl kann nachträglich nicht gelernt werden.
Es mag zu Zeiten des medial verbreiteten Rufs "Wir sind ein Volk"
tatsächlich bei der Mehrheit der Ostdeutschen eine Gemütslage gegeben
haben, die der späteren Kohlschen Gründungsgeschichte entsprach. Doch
dauerhaftes Konfliktpotential mußte schon aus der trivialen Tatsache
folgen, daß nun mal jeder Gewinn mit Verlusten erkauft wird. Die wurden
für gewisse Lebensbereiche bald deutlich, doch ein reflektiertes
Verhältnis dazu entstand erst mit der Zeit. Der ostdeutsche
Theaterautor Thomas Oberender hat es in seinem Essay "Nachholen der
Vergangenheit" für sich entfaltet. "Für einen, der 'aus dem Osten
kommt', so innerlich emigriert man dort in ihrer Spätzeit auch lebte,
heißt das, wenn er nun versucht, wirklich in seiner Zeit zu leben:
alles "neu", eine konstante Herausforderung, die eigene Wahrnehmung zu
synchronisieren, rückwirkend, nachholend, keine Möglichkeit von
Anschluß, nur allmähliche Ent-deckung der eigenen Gegenwart in ihren
Schichtungen. Irgendwie ist es schon frustrierend zu bemerken, daß
tatsächlich alles, und ich meine wirklich alles, was jenes Interim von
40 Jahren in Ostdeutschland hervorgebracht hat, im Augenblick entwertet
ist. ... Alle Moden, Trends, Stichworte und emotionalen Bindungen
nähren sich aus einem Zeitspeicher, einem Echoraum der Erinnerung an
Kämpfe, Ideen, Gesten, den ich nicht teile. Was läßt sich von dieser
eigenen Lebenszeit vor dem Fall der Mauer im Osten heute noch als ein
bereichernder Impuls weiterreichen? Ich weiß es wirklich nicht." [15]
Im Alltagsbewußtsein der Mehrheit stellte sich solche Verlusterfahrung
weit weniger scharf reflektiert dar. Während der ostdeutsche
Theatermacher Thomas Oberender und andere Intellektuelle daran
arbeiteten, die eigene Wahrnehmung rückwirkend mit der Vergangenheit
des Westens zu synchronisieren, konnte das für Mehrheiten kein Anliegen
sein. Der jetzige Chefdramaturg von Bochum sagt es von seinen
Landsleuten: "Der Heimathafen der neuen Bundesländer ist jene
nachchristliche Universalkultur, die Amerika geprägt hat."[16]
Zweifellos eine richtige Beobachtung, die jedoch die geistige Situation
der Mehrheit nur unzureichend erfaßt. Die Affinität der Ostdeutschen zu
dieser Kultur der zeitlosen Mythen der Moderne beruht nicht nur darauf,
daß sie für eine nachträgliche Einfühlung in die Geschichte der
Westdeutschen kein Motiv haben. Sie müssen sich so behelfen, weil der
Identifikation mit dem neuen Deutschland einiges entgegensteht. Detlef
Pollack nennt als wichtigstes Hindernis die Erfahrung und Einsicht, zum
Aufschwung nach 1990 wenig beigetragen zu haben. Anders als ihre
östlichen Nachbarn wüßten sie, daß sie ihren heutigen Wohlstand "zum
größten Teil nicht selbst erarbeitet, sondern geschenkt bekommen haben.
Sicher haben die Ostdeutschen in den letzten Jahren viel geleistet.
Aber es hat nicht gereicht, um an das westliche Niveau aufzuschließen.
... Dort aber, wo man zur Herstellung des Ganzen schlichtweg nicht
gebraucht wird, kann das Ganze nicht zum eigenen werden."[17]
Wie die Ostdeutschen bei aller Neigung zur universalen Popularkultur
sich in dieser defizitären Situation behelfen, hat der Diktaturforscher
Stefan Wolle recht gut beschrieben: "Der alte Osten ist zum Eldorado
der Geschichtenerzähler geworden. Jenseits der Geschichtswissenschaft
hat sich eine lebendige Poesie der Erinnerung entwickelt, die oft als
Ostalgie mißverstanden wird. Sie will festhalten, was da gewesen ist,
die Bilder, Gerüche, Gesten, Gefühle, Worte. Sie macht sich am
Konkreten fest, nicht an abstrakten Kategorien wie Unrechtsstaat oder
totalitäre Diktatur."[18] Der arglose Ton dieser Aussage kann den Ernst
der Lage leicht übersehen lassen. Darum sei noch eine schärfer
akzentuierende Gewährsperson zitiert. Diese orale Erinnerungskultur -
über deren Dimensionen noch etwas zu sagen wäre - "siedelt auf der
diskursiven Brache, die ambitionierte Erzählungen vom 'Terror in der
DDR' und der 'Deformierung' des Ostens lassen. Ostalgie entsteht, weil
eine professionelle, medial wirksame Aufarbeitung der DDR, die nicht
stigmatisierend ist, die zu differenzieren, abzuwägen und an den
Alltagserfahrungen der Leute anzuknüpfen vermag, nicht
stattfindet."[19] Das mag - auch angesichts der Forschungen und
Publikationen dieses Hauses - etwas stark verallgemeinert erscheinen,
doch es stimmt sicherlich, daß ausgewogenere historiographische
Darstellungen medial kaum beachtet werden und die ostdeutsche
Öffentlichkeit gar nicht erreichen. Übrigens schon, weil es keine
solche Öffentlichkeit kaum gibt.
II.
Zum Versuch, drei Stadien unterschiedlicher Erinnerung an die DDR zu bestimmen
Gibt es Anhaltspunkte dafür, daß sich bei "den Ostdeutschen" das
Erinnern der eigenen Vergangenheit mit der Zeit verändert hat? Sollte
es da so etwas wie einen erkennbaren Mainstream geben? Schon ein Blick
auf die beteiligten Generationen läßt daran zweifeln. Christoph
Dieckmann hat die Unterschiede plastisch benannt: "Die Erinnerer der
SED-Diktatur sind in der Defensive. Die alten Ossis illuminieren ihr
Jugendland mit Abendlicht, der Mittelbau hat aktuelle Sorgen, und die
Handy&E-Mail-Jugend datiert unsere schönen Heldensagen von
verbotenen Liedermachern und illegalen Wachsmatritzen ins
Pleistozän."[20] Im Bewußtsein solcher Unterschiede und weiterer
sozialer und kultureller Differenzierungen sei dennoch der Versuch
gewagt, die zurückliegenden elf, zwölf Jahre in drei Phasen zu gliedern.
Zuerst das Aufleuchten einer noch ungewissen Zukunft (1990-92)
Konrad Jarausch und Matthias Middell haben 1993 auf Irritationen der
Historikerzunft hingewiesen. "Der überraschende Einbruch der Geschichte
in eine stabile Nachkriegsordnung hat die betroffenen Historiker in
unterschiedlichem Maße verunsichert"[21]. Ähnlich wie den
professionellen Beobachter der Weltläufe dürfte es den unmittelbar
davon Betroffenen ergangen sein. Denn alle Generationen der DDR haben
das Grunderlebnis der Dauerhaftigkeit geteilt, hatten die Erfahrung
großer Beständigkeit gegebener Strukturen gemacht. Für alle kam die
Öffnung der Grenze am 9. November 1989 plötzlich und unerwartet. Von
diesem Moment an war die ganze Aufmerksamkeit der Ostdeutschen auf die
Neue Situation konzentriert und mancherorts führte der Überschwang zu
einer hochgradig leichtsinnigen Trennung von all dem, was nun
"historischer Ballast" geworden war. Bibliotheken flogen ebenso in die
Container wie Archive von Kultureinrichtungen und Betrieben, Straßen
und Plätze wurden umbenannt, Denkmäler abgebaut, in den Straßen staute
sich der Sperrmüll und "Super-Illu", die neue Illustrierte für die
Ostdeutschen, setzte auf den Titel: "Vor der Wende mußte Meike aus
Berlin die hässliche blaue FDJ-Bluse anziehen. Heute trägt sie am
liebsten Reizwäsche. Doch der Wandel ist nicht nur äußerlich. Die neue
Freiheit ist wie ein Ventil für die Seele."[22] Man mag den Stil der
Schmutzpresse distanziert sehen, doch zweifellos drückte er einen
Zeitgeist aus, den der Historiker nüchtern beschrieb: "Es ist dies eine
Situation, die distanziertes und differenzierendes Geschichtsdenken
kaum aufkommen läßt. DDR-Nostalgie und Totalverdammung stehen abrupt
und ziemlich hilflos gegeneinander."[23] Diese rastlose und chaotische
Umbruchphase dauerte etwa zwei Jahre, sie diente der ersten
Orientierung und der schnellen Einübung in die neue Gesellschaft. Lutz
Niethammer formulierte feinsinnig: "Der neue Kontext westlicher
'Normalität' erscheint wie eine Befreiung zur Realität, aber in der DDR
ist er ein phantastisches Gebilde aus schnell wechselnden
Vorstellungen, die sich noch nicht an den eigenen Fähigkeiten und der
Organisierung eines Alltags bewährt haben."[24]
In dieser Zeit wurde vor allem intensiv Westdeutsches gelernt. Es war
die Zeit optimistischer Kopflosigkeit und Neugier: fast alle wollten
für sich an die neuen Möglichkeiten glauben. Das neue Deutschsein
schien auch unproblematisch zu funktionieren, es war zwar etwas
anstrengend, machte aber Spaß. Die Zustimmung zur sozialen
Marktwirtschaft war in allen Schichten ebenso hoch, wie zur
westdeutschen Parteien-Demokratie und erreichte Werte von nahezu 80%.
Unter zwölf Kriterien für die Leistungen beider Systeme wurde die DDR
nur noch in einer Position besser bewertet. Nur bei der Frage, ob der
Sozialismus zumindest eine gute Idee und ein löblicher Vorsatz sein
könnte, blieben die Ostdeutschen über die Zeit recht einig; konstant
waren sie zu knapp 80% dieser Meinung[25]. Dennoch dürfte die Distanz
zur DDR-Vergangenheit nie größer als zu dieser Zeit gewesen sein. Wozu
erinnern? Die DDR-Verlage (viele kleine Neugründungen darunter), die
gerade begonnen hatten, "Aufarbeitungsliteratur" in ihre Programme
aufzunehmen, blieben mit dem 1. Juli 1990 darauf sitzen und konnten sie
- zusammen mit ihren übrigen Beständen - zum Altpapier geben.
Ernüchterung: worauf die individuelle Perspektive gründen? (1993 bis 1996)
Als sich fast alle in der neuen Situation zurecht gefunden hatten,
begann eine zweite Phase. Die Ostdeutschen fingen an, tragfähige
individuelle Perspektiven zu entwerfen. Sie begriffen langsam, was da
in ihrer Umgebung ablief, wer hier die neuen Eigentümer waren, wer das
Sagen hatte. Ihre tatsächlichen Möglichkeiten zeichneten sich klarer ab
und wurden ausprobiert. Als die Irritationen des Kulturschocks[26]
sortiert waren, wurden nun auch die ehedem vertrauten Lebensregeln und
Alltagspraxen auf ihre Brauchbarkeit geprüft und allmählich geahnt, zu
welcher sozialen Gruppe, zu welchem Milieu der neuen Gesellschaft man
gehörte. Das war allerdings schwierig und auch die Milieuforscher
korrigierten damals noch alle paar Monate ihr Bild von den
Sozialmilieus der Ostdeutschen (inzwischen findet sich bei ihnen ein
wohlgeordnetes Nebeneinander der Sozialmilieus West und Ost,
Ähnlichkeiten und Unterschiede sind recht genau vermessen).
In dieser zweiten Phase stieg das Votum für die "gute Idee Sozialismus"
sogar auf über achtzig Prozent (die entsprechende Frage lautete
konstant, ob der Sozialismus im Grunde eine gute Idee war, die nur
schlecht ausgeführt wurde). Detlef Pollack warnte davor, dieses Votum
für die sozialistische Idee zu überschätzen, denn darin drücke "sich
auch die Verteidigung der in Mißkredit geratenen eigenen Vergangenheit
aus"[27]. Eine treffende Interpretation. Das Festhalten an dieser Idee
ist aber offenbar auch ein Indiz dafür, daß die neue Heimat
Bundesrepublik zwar als Augenblicksgesellschaft akzeptiert wurde, sie
aber noch keine für sie überzeugenden Zukunftsgarantien oder
Perspektiven erkennen ließ. Doch die wären ihnen auch sonst
verschlossen geblieben, weil für die Zukunftsgewißheit wohl gleichfalls
gilt, was der schon zitierte Theatermann Thomas Oberender für andere
Unwägbarkeiten feststellte: "Alle Moden, Trends, Stichworte und
emotionalen Bindungen nähren sich aus einem Zeitspeicher, einem
Echoraum der Erinnerung an Kämpfe, Ideen, Gesten". Der aber war und ist
bei den Ostdeutschen mit anderen Erinnerungen angefüllt. Es ist noch
nicht näher nachgefragt worden, welche Hinweise ihnen die eigene
Geschichte auf eine mögliche Zukunft der neuen Bundesrepublik gibt.
Es könnte in dieser Irritation auch die Erklärung für ein Paradoxon zu
finden sein, das die Meinungsforscher offenbar machten. Sie stellten
übereinstimmend fest, daß in dem selben Maße, wie bei den Ostdeutschen
die Zufriedenheit mit der eigenen Lebenssituation anstieg, hat über die
Jahre gleichermaßen die Unzufriedenheit mit dem Zustand der
Gesellschaft zugenommen. Die allgemeine Zukunft wird eher düster
gesehen. Vielleicht ist dieser Befund auch auf die Frageweise der
westdeutschen Forscher zurückzuführen, die Skepsis vordergründig als
Unzufriedenheit erleben und deuten. An unterschiedliche
"Geschichtskulturen" dürften sie kaum denken und darum auch nicht ins
Kalkül ziehen, daß alle Ostdeutschen sich so oder so der Frage hatten
stellen müssen, ob eine sozialistische Gesellschaft tatsächlich die
geschichtliche Alternative zur kapitalistischen Verkehrsform ist oder
sein könnte. Ganz gleichgültig, welche Antwort sie für sich gefunden
haben, sie sind - im Unterschied zur Mehrheit der Westdeutschen - daran
gewöhnt, auf diese Weise die Gesellschaft in historischer Zeit zu
denken, vor allem betrifft das die deutsche Geschichte.
Modernisierungstheoretisches Abwägen, wie groß denn der Bedarf an
"nachholender Modernisierung" im Osten sei, ist geläufig. Ebenso kann
man immer wieder (und immer wieder mit einiger Verblüffung) von
Ostdeutschen hören - etwa wenn es um soziale Sicherheiten oder
Frauenemanzipation geht - westdeutschen Kritikern entgegenhalten: "Wir
waren da schon weiter!" Den vielfältigen Bedeutungen und
Mißverständnisse, die in dieser Vorhaltung, die in diesem "wir" und in
diesem "schon weiter" stecken, können nicht diskutiert werden. Aber es
scheint sicher zu sein, daß in solchem entwicklungsgeschichtlich
motivierten Festhalten an der Idee des Sozialismus ein Schlüssel für
das Geschichtsverständnis der Ostdeutschen zu suchen und vielleicht zu
finden ist. Übrigens auch, weil sie gegenwärtig erneut als Gesamtheit
in der Situation sind, aufholen zu müssen. Und wieder heißt die einzig
erfolgversprechende Strategie: die Westler überholen ohne sie
einzuholen.
Doch zurück zu dem Versuch, die Zeit nach 1990 zu gliedern. In dieser
zweiten Phase hatten alle bald begriffen, daß - abgesehen von Ausnahmen
wie Arbeitnehmern zwischen vierzig und sechzig, wie alleinerziehenden
Müttern und ehemaligen hohen Funktionären - die neue soziale Lage des
Ostdeutschen häufig besser als die des früheren DDR-Bürgers war. Schon
1995 waren 50% mit ihrem neuen Leben zufriedener als zu dem in
DDR-Zeiten. Aber: dieser neue Status war zugleich in vielerlei Hinsicht
deutlich niedriger als der des vergleichbaren westdeutschen
Bundesbürgers. Dieses Gefälle störte zunächst noch wenig und wirkte
eher als Leistungsansporn, auch weil die "innere Einheit" ja zügig
vorankommen sollte. Um 1992/93 setzte für die ostdeutsche Mehrheit also
eine Phase privater Konsolidierung ein, die trotz heftiger sozialer
Probleme größerer Gruppen und Regionen bis heute anhält. Die
wirtschaftliche Lage der Familien verbesserte sich weiter, obwohl der
gesamtwirtschaftliche Aufholprozeß schon Mitte der 90er endete.
Um diese Zeit finden sich erste Signale eines neuen Selbstbewußtseins.
Es begann die Phase der für Westdeutsche meist unverständlichen
"Ostalgie", der positiven Rückerinnerung an das Leben in der DDR.
Bereits 1992 ließ sich der ostdeutsche Kabarettist Uwe Steimle beim
Patentamt München das Wort "Ostalgie" eintragen; das kostete ihn 1700
DM Gebühren. Das gestiegene Bedürfnis nach positivem Erinnern arbeitete
sich zunächst - und das einigermaßen unerwartet - an der eben noch
geschmähten Ding- und Bilderwelt der DDR ab. Der inzwischen "fremde
Blick" auf Überreste der eigenen Lebenswelt war häufig nicht viel mehr
als ein Abrufen unreflektierter Erfahrungen, ein naives Spielen mit den
Artefakten des "früheren Lebens". Der kultige Umgang mit Fahnen,
Uniformen, Mopeds, Trabant-Autos, politischen Festformen, mit
Schlagern, ostdeutschen Speisen, mit skurrilen Alltagsgegenständen,
Grußformeln usw. entsprach einerseits der allgemeinen Eventkultur mit
ihren bizarren Stoffen und Praktiken und wurde kommerziell ausgebeutet.
Zugleich war er die einzige unverfängliche Form, die eine positive
Beziehung zur eigenen Vergangenheit - eingeschlossen die blaue Bluse
der FDJ - ermöglichte[28].
Erfolgreich konnten die "ostalgischen" Videos, Spiele, Bilderbücher,
CDs, Poster und die karnevalesken Events nur sein, weil sie geschickt
den lebensweltlichen Erinnerungsbestand aktivierten. Ähnlich
ausgerichtete Internetseiten nahmen zu und an vielen Orten wurden
alltagsgeschichtliche Ausstellungen eröffnet. Die regionalen
Fernsehprogramme Ost zeigten wieder Filme aus der DEFA-Produktion und
wiederholten Sendungen des DDR-Fernsehens. Und es wurden sogenannte
"Ostprodukte" zu Reliquien. Weil die Leute auf der Suche nach dem
"Geschmack von einst" waren, machten Bäcker Reklame mit "echten
Ostschrippen". Auffällig war, daß es vor allem die sogenannten
Genußmittel waren, von denen die Erinnerung an den alten Osten erwartet
wurde: Zigarettensorten, Spirituosen, ostdeutsch gerösteter Kaffee,
eigenartige Schokoladen. Eine junge Künstlerin nannte das Motiv: "Wenn
Du wissen willst, wie Westkindheit war, dann gehst du und kaufst dir
'ne Kinderschokolade. Aber meine Kindheitsbonbons gibt's nicht
mehr."[29]
Es folgte ein wahrer Boom an Ausstellungen, die einzelnen Momenten des
früheren Alltagslebens gewidmet waren. Die Museen, Sammlungen und
Ausstellungen wurden zu attraktiven Hauptorten ostdeutscher
Erinnerungskultur. Ursprünglich oft von westdeutschen Stellungslosen
und Glückssuchern eingerichtet, wurden Sammlungen mit allerlei
DDR-Nachlässen inzwischen zu Attraktionen, zu tatsächlichen
"Verehrungsdeponien" (Odo Marquardt). Hier sind in Vitrinen "bleiche
Lebensmittel-Leichname aus DDR-Zeiten" (Gert Selle) ebenso zu
besichtigen wie die Gebrauchskunst von einst. Die Alltagskulturellen
Sammlungen zeigen "Dinge, die noch in Gebrauch sind. Die Eingeborenen
der Kultur des realen Sozialismus begegnen den Sachen, die sie zu Hause
haben, im Museum - dem Stuhl, dem Kochtopf und anderem. Sobald sie
dieses Museum betreten, werden sie zu seinem lebenden Inventar. Denn
der Anblick der dislozierten eigenen Dinge sagt ihnen, daß sie dahin
gehören."[30] Es dürfte die Konfliktsituation solcher
Selbst-Musealisierung verkennen, wenn der Zulauf zu derartigen
Ausstellungen auf ostalgische Anwandlungen der Ostdeutschen
zurückgeführt wird. Besucherbücher bekunden, daß nach derlei
Gelegenheiten gesucht wird, selbst darüber nachdenken zu können, was
mit einem eigentlich geschehen ist, worin der Bruch im eigenen Leben
besteht. Im Kontext solcher Erwartungen ist auch die starke Empörung
ostdeutscher Besucher über die schäbige DDR-Abteilung der großen
historischen Ausstellung zum 50. Jahrestag der Bundesrepublik zu
verstehen ("Einigkeit und Recht und Freiheit"). Ganz anders ist die
Stimmungslage bei den beliebten historischen Umzügen der zahlreich
gefeierten Dorf- und Kleinstadtjubiläen. Während man für den
"historischen Teil" der Fundus des nächsten Theater und das
Heimatmuseum benötigt, können für "unsere Zeit" alte Traktoren, der
LPG-Bus, Rübenhacken, blaue Arbeitsanzüge, Kittelschürzen, diverse
Fahnen und das Schild vom Dorfkonsum - alles aus eigenen Beständen -
die Erkennungsmarken oder Symbole sein.
In der Alltagskommunikation und nur wenig darüber bildete sich auf
diese Weise eine "Erfahrungs- und Erzählgemeinschaft, in der sich
überlieferte Elemente, Spolien der untergegangenen DDR erhalten und
umbilden"[31]. Um die Mitte der 90er Jahre begann sich "der Westen"
gegen solche ostalgischen Anwandlungen der seltsamen Brüder und
Schwestern zu rüsten. Die ostdeutsche Zeitschrift "Telegraph"
veröffentlichte eine Analyse von sechs Jahrgängen des SPIEGEL, die
offen legt, wie als Reaktion auf dieses unerwartete Selbstbewußtsein
der "miese Ostdeutsche" als ein westdeutsches Medienkonstrukt
entstanden ist[32].
1996 teilte der SPIEGEL sachlich mit (doch ein kritischer Unterton und
der Vorwurf der Undankbarkeit sind dabei nicht zu überhören): "Werden
Ostdeutsche nach ihren Empfindungen bei der Wiedervereinigung befragt,
so erinnern sich lediglich sieben Prozent an das schöne Gefühl
'Freiheit', gut dreimal so viele aber an ihre Ängste vor beruflichem
und sozialem Abstieg, vor der Zukunft und einer Verschlechterung der
persönlichen Lebensverhältnissen." (4. 11. 1996) In dieser Zeit begann
das Reden vom "neutrotzigen Osten" dem nun offenbar nachhaltiger klar
gemacht werden müsse, daß es kein moralisches Äquivalent zwischen einer
Diktatur und einer demokratisch verfaßten Gesellschaft geben könne.
Dies waren neue Züge im Verhalten gegenüber der ostdeutschen Mehrheit,
offenbar war die Geduld mit ihnen aufgebraucht. Hatte der Grüne Otto
Schily 1990 den Ausgang der Volkskammerwahl noch wortlos dadurch
kommentiert, daß er grinsend eine Banane hervorzog und in die Kamera
hielt, war jetzt offenbar das Ende der Schonzeit für die abartigen
Ostdeutschen erreicht. Nun wurden sie (das "Volk" von 1989) als ganze
Population in die harten Auseinandersetzungen einbezogen, die etwas
oberhalb des Alltags der Vielen schon 1990 begonnen hatten.
Auf diesen Einstieg sei kurz hingewiesen. In den Welten der
Deutungseliten war es bereits kurz nach der "Wende" um das Recht zur
Geschichtsinterpretation gegangen. Von prägender Wirkung für den
nachfolgenden Umgang mit der Vergangenheit der Ostdeutschen sollte der
sogenannte deutsch-deutsche Literaturstreit werden. Vordergründig ging
es dabei um Literatur, weil die vormals im Westen bewunderten Vertreter
der kritisch-linksutopischen Literaturtradition des Ostens nun in einer
einmaligen Medienaktion zu moralisierenden Gesinnungsästhetikern
runtergestuft wurden, die auf verbrecherische Weise die Illusion
genährt hätten, daß der Realsozialismus zu bessern gewesen wäre.
Karl-Heinz Bohrer verlangte, die DDR nicht länger als
"Kulturschutzgebiet"[33] zu betrachten. Mit umfassender Ablehnung wurde
auf Christa Wolfs Erzählung "Was bleibt" reagiert, mit der sie eine
Bilanz ihrer eigenen DDR-Geschichte versucht hatte.
Selbstgerechte Verunglimpfungen dieser Künstlerin erwiesen sich bald
als ein Moment einer großen Aktion, in der es - wie bei der Auflösung
der demokratisch reformierten ostdeutschen Medien klar ausgesprochen
wurde - gleichfalls "um die Zerschlagung des intellektuellen Potentials
Ost"[34] ging. In dieser Abwicklungsaktion standen die linken
DDR-Utopisten für den möglicherweise weiterwirkenden Gehalt ihrer
sozialistischen Maximen. Ulrich Greiner hat das gleich zu Beginn der
Angriffe - die Christa Wolf schließlich in die USA ausweichen ließen -
deutlich ausgesprochen: "Die Deutung der literarischen Vergangenheit,
die Durchsetzung einer Lesart, ist keine akademische Frage. Wer
bestimmt, was gewesen ist, der bestimmt auch, was sein wird. Der Streit
um die Vergangenheit ist ein Streit um die Zukunft."[35]
Von 1990 bis zum Ende der hier vermuteten "zweiten Phase" ging es hart
polemisch zu. Die DDR-Autoren (von Wolf und Braun bis zur
Prenzlauer-Berg-Szene) waren nicht zum Schweigen zu bringen. Zwar sah
der Literaturhistoriker hier "eine literarische Tendenz weitergehen ...
die gänzlich unwestlich" sei und nach und nach aufhöre, doch
prophezeite ihr eine längere Dauer: "Die deutschsprachige
Gegenwartsliteratur existiert in einer Vielzahl zueinander offener
Szenen. Eine davon wird noch für längere Zeit die sich verändernde
regionale ostdeutsche Szene auf den Spuren der einstigen DDR sein."
[36] Tatsächlich meldeten sich so gut wie alle "großen Alten" der
DDR-Literatur mit stark geschichtslastigen Werken zu Wort. Das war zu
erwarten und soll hier nicht betrachtet werden. Denn es überwog in
dieser Phase die publizistische und dokumentarische Literatur zum
Zusammenbruch der DDR. Man wird sich an die ersten Jahre der
Nachwendezeit als eine "Blütezeit der Essayistik" erinnern, meinte,
leicht euphemistisch, der Züricher Kritiker Andreas Isenschmidt[37].
Hinzuzufügen wäre, daß nur wenig davon die "nationale Ebene" erreichte,
daß ostdeutsche Reaktionen meist auf regionale und lokale
Öffentlichkeiten beschränkt blieben. So war es darum auch eine
Blütezeit des Kabaretts (in der moralisch-didaktischen DDR-Tradition),
der Cartoonisten und der Witzerfinder. Alle drei spitzten zu und
spielten mit den Erinnerungen und Vorurteilen ihres Publikums. Damit
waren sie selbstverständlich kaum geeignet, historisches Wissen in das
kollektive Gedächtnis zu übertragen. Aber Kabaretts (und
selbstverständlich Theater, Galerien und Kneipen) bildeten - wie zu
Zeiten der DDR - wieder wichtige Elemente lokaler Öffentlichkeiten, in
denen Ostdeutsche den Ton angaben und das auch deutlich herauskehrten.
Über die damalige Stimmungslage schrieb der Medizinpsychologe Elmar
Brähler: "Als ich im Jahr 1991 von Gießen nach Leipzig kam, sagte mir
der Taxifahrer am Hauptbahnhof, alle Westdeutschen gehörten umgebracht.
Damals habe ich noch gedacht, was muß der Mann erlitten haben. Heute
bin ich es leid, mich ständig nur einzufühlen. Ich gehe auch nicht mehr
ins Kabarett, ich kann keine Wessi-Witze mehr hören. Manchmal komme ich
mir vor wie ein Besatzer in einem fremden Land."[38]
Die literarischen und publizistischen Texte der nun folgenden zweiten
Phase reagierten auf die publizistischen Attacken und verhandelten
darum weniger die DDR-Geschichte selbst, sondern den Umgang mit dieser
Vergangenheit. Und sie haben Ähnlichkeit mit jener punktuellen
Rückerinnerung, die sich am Überschaubaren, an Alltagsobjekten und
Bildern fest macht. Denn bevorzugt wurden die kleinen literarischen
Formen: "Geschichte wird durch Geschichten erzählt und zwar
vorzugsweise in Form der Anekdote, des Witzes, der Kalendergeschichte
oder des Exempels. Das garantiert nicht nur die Aufbewahrung
individueller und kollektiver Erfahrungen, sondern auch deren
Reproduktion." Die hier zitierte Literaturwissenschaftlerin fügt die
Vermutung an, "ein allgemeines Mißtrauen gegenüber 'wissenschaftlicher'
Geschichtsbetrachtung mag ein Grund für diese Erzählstrategie sein"[39].
Selbstverständlich begannen die Germanistinnen in den USA und
Deutschland schon früh die Literatenszene darauf zu befragen, wo denn
der große Wenderoman bliebe und mußten erfahren, daß prominente Autoren
sich die Chronistenrolle nicht aufdrängen lassen wollten. Dennoch gab
es 1995/96 den ersten zu kommentierenden Boom an sog. Wenderomanen.
Allerdings sollte keine der da gegebenen Interpretationen des
Untergangs der DDR so recht befriedigen. Volker Hage bemängelte den nur
"kläglichen Erfolg"[40] der Autoren, Karl-Rudolf Korte meinte, "den
Epochenroman zwischen Wende und Einheit kann es wohl noch nicht geben"
(und fügte hinzu: "und wenn, dann mindestens zwei: Nämlich einen aus
West- und einen aus Ostsicht.")[41] und Susanne Ledanff diskutierte
dann am literarischen Material selbst den "Sinn oder Unsinn solcher
Erwartungen"[42], die sie für überraschend konservativ hielt[43].
Schon weil die erzählten Geschichten vom Leben in der DDR und über die
Wandlungszeit der Ostdeutschen berichten, mußte das ein weitgehend
ostdeutscher Diskurs sein. Stark vereinfacht gesagt ging es dabei
direkt oder indirekt um die Frage, ob die Wende 1989 das ersehnte Ende
der Diktatur gebracht hat oder als Beginn der Kolonialisierung des
Ostens anzusehen ist. Wortführer waren hier die Bürgerrechtler in
verschiedenen Fraktionen. Als prototypisch für die damalige
Polarisierung könnten Daniela Dahn[44] und Freya Klier[45] gelten.
Zwischen den Positionen der beiden Autorinnen liegt ein weites Feld
abwägender Betrachtungen über den Zusammenhang der aktuellen Zustände
und der DDR-Geschichte.
Auffällig ist, daß die in dieser Zeit hervortretenden ostdeutschen
Autorinnen und Autoren großenteils einer Altersgruppe angehören, die
Hans Misselwitz als "Trägergeneration des politischen Umbruchs"[46]
identifiziert hat. Im Alter zwischen vierzig und fünfzig Jahren,
begannen sie Mitte des Jahrzehnts die Enttäuschungen der Nachwende-Zeit
zu verarbeiten. Oppositionelle wie Reformer waren inzwischen beiseite
geschoben worden und hatten sich großenteils resigniert zurückgezogen.
Während die gleichaltrigen Westdeutschen zur Wendezeit längst etabliert
und in eigenen Institutionen fest verankert waren, standen sie nun
daneben - zu spät Gekommene. Entsprechend grundsätzlich fielen die
Bilanzen aus. Schon Titel aus der Mitte der 90er Jahre drücken eine
Tendenz aus: "Westwärts und nicht vergessen. Vom Unbehagen in der
Einheit" (Daniela Dahn, Jg. 49), "Nicht länger mit dem Gesicht nach
Westen. Das neue Selbstbewußtsein der Ostdeutschen" (Hans-J.
Misselwitz, Jg. 1950), "Penetrante Verwandte" (Freya Klier, Jg. 1950),
"Unbekannter Verlust" (Marion Titze, Jg. 53), "Ostgezeter. Beiträge zur
Schimpfkultur" (Thomas Rosenlöcher, Jg. 1947), "Die deutsche Trennung.
Grenzen der Einheit" (Christoph Dieckmann, Jg. 56). Bei Dieckmann
findet sich auch das leicht ironische Bekenntnis zur andauernden
Spaltung der Deutschen, das sich in verschiedener Weise bei fast allen
jüngeren Ostdeutschen findet, die sich literarisch-publizistisch zu
Wort melden konnten: "Ohne Vorteil ist die deutsche Teilung nicht. Sie
fördert vielerlei Gedächtnis und mehrstimmige Geschichte. Sie hindert,
was Deutschlands Nachbarn unter Ängste summieren. Sie erlaubt den
fremden Blick im eigenen Land, die räumliche Symbiose. Wir gewinnen,
was 1990 die Dichter des Dritten Weges erträumten: zwei Deutschländer
in kritischer Korrespondenz, aber ohne Grenzen untereinander." [47]
Mit solcherart Einsicht in die andauernde kulturelle Verschiedenheit
war auch die eigene Geschichte wieder legitimiert, konnte es unter den
Deutschen nur "vielerlei Gedächtnis und mehrstimmige Geschichte" geben.
Von diesem Moment an konnte die offizielle geschichtspolitische
Kampagne zur Delegitimierung des Realsozialismus zwar uneingeschränkt
den medialen Umgang mit der Vergangenheit der Ostdeutschen bestimmen,
wurde in den reflektierenden Milieus aber zunehmend als Diffamierung
der eigenen Vergangenheit angesehen.
In fast allen Texten dieser Jahre "spielen Rückblicke auf die Zeit in
der DDR eine wichtige Rolle. Der Blick auf das bisherige Leben und
damit die Infragestellung getroffener Entscheidungen sind nicht zuletzt
ein Ausdruck dafür, daß die Autoren ein Bedürfnis haben, sich des
eigenen Lebens zu vergewissern, sich für getroffene Entscheidungen zu
rechtfertigen und diese auch im Nachhinein als richtig zu
bewerten."[48] In diesem Kontext kam es zu einer Art
Schlüssel-Erfahrung dieser "mittleren Generation". Sie bestätigten
sich, daß ihre idealen Vorstellungen von sozialer Gleichheit und von
einer gerechten Welt für alle, die sie in den 80er Jahren zu
"Regimekritikern" hatten werden lassen und die sie nun in wachsende
Distanz zum neuen Gesellschaftszustand brachten, aus der Geschichte der
DDR selbst stammten. Das veränderte deutlich die Perspektive auf die
eigene Vergangenheit, sie wurde nun stärker als Heimat und Herkunft der
eigenen Lebens- und Gesellschaftsauffassung gesehen. Da die
Begeisterung über errungene Freiheiten sich insgesamt bald in Grenzen
hielt, ging auch die Publikumsresonanz der radikalen
Sozialismuskritiker zurück. Und dies, obwohl die westdeutschen Medien,
Politiker, Wissenschaftler und Förderinstanzen aus einleuchtenden
Gründen recht eindeutig auf Seiten derjenigen Bürgerrechtler standen
und stehen, die persönlich gute Gründe haben, die Vergangenheit als
SED-Diktatur scharf zu verurteilen. Das ist eine vergleichsweise kleine
Gruppe. Für die Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung dürfte ein
unvermitteltes Nebeneinander charakteristisch sein: viele Thesen der
offiziellen Kritik am SED-Regime werden übernommen und kollidieren im
einzelnen kaum mit der Überzeugung, selbst unter ganz anderen Umständen
gelebt zu haben.
Reaktionen auf eine anhaltende Stagnation (1996-2001)
"Vom Aufschwung Ost ist keine Rede mehr. Statt dessen geht das Wort vom
Absturz Ost um."[49] Schon 1996 zeichnete sich für Hans Misselwitz und
andere ostdeutsche Beobachter ab, daß der wirtschaftliche Aufholprozeß
des Ostens beendet war. Nun sollte sich Jahr für Jahr der Abstand zum
Westen wieder vergrößern. Eine selbsttragende Entwicklung war und ist
nicht in Aussicht, dafür die Perspektive dauerhafter Alimentierung der
ganzen Region. Mehrheiten wurde bewußt, daß die eigene Ostvergangenheit
noch über Jahrzehnte ein persönlicher Nachteil sein würde. Damit
entstand ein stärkerer Druck, sich dieser Vergangenheit zu stellen, sie
anzunehmen und sich auch zu ihr bekennen.
Zwar ist das Verhältnis der ostdeutschen Population zur eigenen
Geschichte für die großen Befragungsinstitute kein wichtiges Thema,
doch läßt sich diversen ihrer Veröffentlichungen dazu etwas entnehmen.
Ein Indikator für den Vergangenheitsbezug könnte etwa das Wohlbefinden
im neuen Gesellschaftssystem sein. Im Jahre 1999 sahen 27% keinen
Unterschied zu früher, 31% fühlten sich heute wohler, 42% haben sich
"alles in allem" in der DDR wohler gefühlt. Solche und ähnliche Daten
sind für manche Interpretation offen, doch sie lassen vielleicht den
Schluß zu, daß ein großer Teil der Ostdeutschen inzwischen eine
emotional positive Beziehung zur DDR-Vergangenheit hat.
Solche Stimmungslagen dürften aber nur ein Nebenaspekt sein, denn
unmittelbar gab es auf Stagnation und Niedergang deutlichere
Reaktionen. Einerseits stieg die bis 1996 rückläufige Zahl der
mehrheitlich jungen Auswanderer wieder an - das war und ist nicht nur
die Abkehr von einer trostlosen Gegenwart, sondern immer auch die
Flucht vor der belastenden Vergangenheit. Und bei denen, die sich zum
Ausharren in der Heimat entschlossen haben, nahm die
"Kapitalismuskritik" wieder zu. Zwangsläufig bekam damit das
alltägliche Erinnern an die Zeit in der DDR positivere Züge.
Sicher spiegelt sich etwas davon auch in den künstlerischen Äußerungen
dieser dritten Phase der Nachwendezeit, die für die ostdeutsche
Literatur recht produktiv war. Dazu gehörte auch, daß sich der Umgang
mit der DDR-Geschichte zu differenzieren begann und recht
unterschiedliche Deutungsangebote für die ostdeutsche Vergangenheit in
Umlauf kamen. Auffällig war, daß jetzt jüngere ostdeutsche Autoren auf
die Bestsellerlisten kamen und sich dort auch behaupten konnten. Nun
begannen die in den 60er Jahren geborenen Autoren langsam den Ton
anzugeben: Thomas Brussig, Falko Hennig, Kerstin Hensel, Johannes
Jansen, Kerstin Jentzsch, Ingo Schramm, Ingo Schulze, Ulrich Zieger u.
a.
Als Steffen Mensching bereits 1991 in einem Kriminal-, Abenteuer- und
Schelmenroman einen Helden, der sich bisher standhaft gegen die
"Geheimnisse der Ämter" aufgelehnt hatte, nun selbst in die Fänge des
Informationssystems geraten ließ[50], löste diese kolportagehaft
angelegte Satire noch keine Proteste aus. Das war anders, als Thomas
Brussig 1995 seinen thematisch verwandten Roman "Helden wie wir"
herausbrachte. Er provozierte damit einen außerwissenschaftlichen
Streit über den zulässigen Umgang mit der DDR-Geschichte. "Die
Machtstrukturen in der DDR werden verlacht und parodiert... Ist das
Verlachen ein Ersatz für das Aufarbeiten der Vergangenheit?[51]" Für
die analysierende Germanistin eine rhetorische Frage, doch der Streit
darüber hielt an und lebte immer wieder auf, vor allem als der nach
einem Brussig-Text von Leander Haussmann gedrehte Film "Sonnenalle"
zeigte, wie den jugendlichen Protagonisten ein eher heiterer Abschied
von der DDR gelingt. Offenbar ein geeigneter Stoff, denn 2001 wurde er
erfolgreich als ein Musical auf die Bühne gebracht, dem es sogar (durch
eine dramaturgische Konstruktion) gelingt, den Unterschied zwischen
vergangener Wirklichkeit und den Bildern zu zeigen, die "den
Verdrängungs-, den Vereinfachungs-, vor allem auch den
Verklärungsfilter des Erinnerungsapparates passiert" haben[52].
Übereinstimmend stellt die Literaturkritik vor allem an jungen
ostdeutschen Autoren pikareske Züge fest und interpretiert sie als
Widerständigkeit gegen alle offiziellen Geschichts-Deutungen. In
gleicher Bewertung wird an ihnen ein Hang zu feiner bis bitterer Ironie
hervorgehoben. Ein Ost-West-Vergleich innerhalb dieser Generation ist
kaum möglich, weil die gleichaltrigen Westdeutschen zwar auch - und
dies vor allem in Berlin - die krassen gesellschaftlichen Brüche
bemerken, doch sie eher wie "Touristen" beobachten und andere
literarische Konzepte verfolgen. Sie haben für Auseinandersetzungen mit
der eigenen Herkunft kein Motiv. Für die jungen Ost-Dichter gehören
diese Literaturstars (von Tim Staffel bis Alexa von Hennig) zu den
typisch westlichen Berlin-Inszenierungen, über die sie sich lustig
machen, die sie mit satirischen Seitenhieben bedenken[53].
Die ostdeutsche Literaturszene ist inzwischen so differenziert und
widersprüchlich, daß es schwer fällt, in diesem Felde der
Erinnerungskultur auffällige Gemeinsamkeiten begründet hervorzuheben.
Es gibt solche Versuche. Üblich - und vielleicht für die
Historiographie anregend - ist der Vergleich mit der ostdeutschen
Literaturszene nach 1945. Sie war auf mehr als ein Jahrzehnt beinahe
vollständig mit ihren jüngsten geschichtlichen Erfahrungen beschäftigt.
Damit aber dürfte die heutige ostdeutsche Literaturproduktion nur
bedingt ähnlich sein. "Jedes einzelne Buch, jede einzelne Perspektive"
schreibt Susanne Ledanff, "stellt Verlust, Umbruch, Folgen, Fragen nach
der Vergangenheit anders dar. Gibt es eine Tendenz, wenn auch keine
auch nur ansatzweise gemeinsame Ästhetik wie in der
Nach-Fünfundvierziger-Situation, dann höchstens eine neuerliche
Bereitschaft, für die Brussigs Roman ein Indiz ist: die
Selbstbespiegelung einer sich immer mehr zusammengehörig fühlenden
Ex-DDR-Lebensgemeinschaft."[54]
Neben dieser Bindung attestiert die (westdeutsche) Literaturkritik den
Ostdeutschen einen entschieden realistischeren Blick auch auf die
westdeutsche Gesellschaft und ihre Geschichte, der „auf einer
doppelten, von westdeutschen Autoren so nicht zu imaginierenden
Bruch-Erfahrung beruht(.) ... potenziert durch das Wegbrechen ihrer
Ursprungsgesellschaft, lassen [sie] unvermeidlich die Risse auch in der
neuen Welt aufscheinen, ganz so, als blicke einer auf die Oberfläche
eines vielfach gesplitterten Spiegels“[55].
Dies gilt auch für die diversen Szenen ostdeutscher Poeten, die ihr
Zentrum zweifellos unter den Jungen in Ostberlin haben. "In dieser
halbproletarisch-spätbürgerlichen Subkultur dominiert eine
postideologische Ost-Generation der 30-Jährigen, die bei der Wende
gerade das Gymnasium hinter sich hatte", schrieben Henryk M. Broder und
Reinhard Mohr nach ihrer Besichtigungstour zu den Orten einer
neuartigen Öffentlichkeit unterhalb der allgemeinen Verlagskultur und
des Literatursponsorings. "Die jungen Wilden aus dem literarischen
Untergrund Berlins haben den Systemvergleich im harten Alltagstest
gelernt: erst Ost, dann West. Sie beobachten alles. Und sie erinnern
sich an alles. Sie spotten im unnachahmlichen Ost-Berliner Idiom über
das westliche Weltniveau noch beim Vollkorn-Bäcker an der Ecke und über
die östliche Armseligkeit auch dort, wo sie im Sonnenallee-Glanz der
eigenen Jugend erstrahlt: Das Leben als Herausforderung des Alltags
zwischen Schulaufsatz und moderner Großstadtprosa im neuen Berlin."[56]
Diese kulturelle Ost-West-Differenz steht für alle Beobachter der
Literaturszenen außer Frage. Gerade in jüngster Zeit nehmen die
Hinweise darauf zu, daß ostdeutsche Künstler und Autoren eine
spezifische Sicht auf die Gesellschaft und allemal auch auf ihre
Geschichte einzubringen haben. Neben den spezifisch ästhetischen
Qualitäten ist es dieser sozial geprägte historische Anspruch, der etwa
Heinz-Ludwig Arnold veranlaßte, von der "DDR-Literatur der neunziger
Jahre" zu reden (so der Titel des Sonderbandes 2000 der Zeitschrift
"Text und Kritik") und Iris Radisch macht die - auch historiographisch
interessante - Zuspitzung: daß die "Geschichte der DDR-Literatur erst
jetzt beginne".
Die möglichen Wirkungen von Werken der schönen Literatur auf die
Geschichtskultur der ostdeutschen Teilgesellschaft sollten nicht zu
hoch veranschlagt werden; vermittelt über andere Medien erreichen sie
wahrscheinlich einen breiteren Kreis. Aber auf die Belletristik wird
hier vor allem verwiesen, weil an ihr geistige Tendenzen der sich neu
formierenden regionalen kulturellen Elite abzulesen sind. Ihre
stärkeren sozialen Bindungen wie ihre größere Distanz zu den
Selbstverständlichkeiten der "westlichen Welt" dürften auch ihren
Umgangsweisen mit der Vergangenheit eigene Züge verleihen.
Vergleichbare kulturelle Eigenheiten sind auch in anderen
künstlerischen Feldern zu finden, die nur bedingt zu den "narrativen
Vermittlungsformen"[57] des kulturellen Gedächtnisses zu rechnen sind,
weil sie eher zur rituellen oder ikonischen Formen seiner Prägung
gehören. Am kräftigsten sind solche kulturellen Besonderheiten in den
lokalen Kunstformen ausgeprägt, die nur in der unmittelbaren Beziehung
zum ostdeutschen Zuschauer funktionieren, vor allem also in den
darstellenden Künsten. Selbstverständlich steht jedes Bühnengeschehen
auch in übergreifenden Kommunikationen, doch es muß sich an den
Erwartungen und Vorurteilen der lokalen Szenen abarbeiten. Der Erfolg
setzt immer das Einverständnis mit dem jeweiligen Publikum voraus.
Insofern müßte eine Untersuchung ostdeutscher Vergangenheitsbezüge das
"Theaterleben" in allen seinen Formen einbeziehen. Ähnliches gilt für
die bildenden Künste. Auf sie sei zum Schluß noch kurz hingewiesen,
weil eine Eigenart dieser Kunstformen zwangsläufig zu einer
Auseinandersetzung auf nationaler Ebene führen mußte. Schon weil der
Einigungsvertrag die Bewahrung der kulturellen Substanz des Ostens
vorsah. Doch was durfte als "substantiell" gelten?
Ähnlich dem kalten Bruderkrieg der Schriftsteller und Dichter kam es
hier zu einem deutsch-deutschen "Bilderstreit" um die Maßstäbe, nach
denen die bildende, bauende und angewandte Kunst der DDR beurteilt
werden soll. Doch im Unterschied zur "Substanz" Literatur handelt es
sich hier um einen zu bewahrenden (oder zu vernichtenden) dinglichen
Vorrat an symbolischen Darstellungen, der von graphischen Blättern,
Gemälden und Plastiken bis zu Denkmälern, Parkanlagen, Gebäuden und
städtebaulichen Ensembles reicht. Das Verhältnis zur Vergangenheit ist
hier vor allem praktisch.
Der Streit über den Umgang mit diesem historisch überkommenen
kulturellen Bestand hat verschiedene Ebenen. Zunächst brach er immer
wieder dort auf, wo Ausstellungen mit Werken ostdeutscher Künstler in
politisch aufklärender Absicht veranstaltet wurden oder sich einfach
das Kunstverständnis westdeutscher Kenner bei Auswahl und Hängung
durchgesetzt hatte. Ostdeutsche Besucher reagierten meist empört, denn
sie waren ja gekommen, um Bilder zu sehen, die für sie mit ästhetischen
Erfahrungen und "Bedeutungen" aufgeladen sind und deren Ikonographie
ihnen seit der Kindheit vertraut war. Gerade weil Museen und Galerien
für sie ästhetische Erinnerungsräume sind, verstört sie jede notwendig
"lieblose" Art didaktisch-analytischer Präsentation. Jenseits aller
Fachdebatten über den künstlerischen Wert der Exponate und ohne rechtes
Interesse für ihre Entstehungszusammenhänge, suchten und suchen sie
nach Kunstwerken, die ihnen wohlbekannt sind oder scheinen. Die wollen
sie "in Ehren gehalten" sehen, schon deren Benutzung als historisches
Dokument verstehen sie darum schnell als Denunziation des eigenen
Geschmacks und der eigenen Erinnerung. Solche Reaktionsweisen ließen
die Verantwortlichen aufmerken und sie warfen ernsthaft die Frage auf,
ob die Werke der DDR-Auftragskunst den ostdeutschen Eingeborenen noch
zugänglich sein sollten.
Mit dem Hinweis auf die gestaltpsychologische Erkenntnis
("Prägnanzbildung"), daß unser Gedächtnis die Neigung zur Typisierung
habe, wurde auf eine Eigenheit ostdeutscher Auftragskunstwerke
aufmerksam gemacht. Sie heroisierten, übersteigerten und typisierten
die (freilich nur vermeintlich) von ihnen abgebildete Realität. Das
mache sie besonders eingängig, weil sie "dem Erinnern keinen Widerstand
leisten, sondern ihm sogar entgegenkommen". Während es früher gegen
mögliche verderbliche Wirkungen dieser Bilder noch die schlimme
Wirklichkeit als Korrektiv gab, sind ihnen ostdeutsche Bildbetrachter
jetzt ausgeliefert, denn "übriggeblieben sind nun diese BILDER.
Kritisches Denken erfordert es, darauf achtzugeben, daß sich nun nicht
unversehens die Bilder an die Stelle der verschwundenen Realität
setzen, daß sie nicht nachträglich wirklich zu der Brille werden, durch
die hindurch sich eine Erinnerung an die DDR ausbildet." Robuste aber
kurzsichtige Politiker werden davor gewarnt, "solche Bilder einfach
verschwinden zu lassen"[58], weil sich ihre Wirkung dann im Untergrunde
nur um so intensiver entfalte. Ein anderer Experte sah solche
politischen Gefahren überhaupt nicht, sondern wollte umgekehrt die
fraglichen Kunstwerke bewahren, "damit immer wieder gezeigt und bezeugt
werden kann, mit welch gutem Gewissen und wie skrupellos privilegierte
Klassen, herrschende Schichten - und dazu gehören zum großen Teil auch
die Künstler mit ihren Auftraggebern - solche Luft- und Lügengebilde
produzieren und ihrem Volk als bestehende Realität verkaufen.[59]
Mit diesen wenigen Sätzen (aus der Sturm- und Drangphase anfangs der
90er Jahre) ist die Spannweite der politischen Bewertung ostdeutscher
Kunstwerke ungefähr angedeutet. Selbstverständlich wird auch
kunstimmanent gestritten, doch bislang schlägt das Politische immer
wider durch, wenn Kunsthistoriker, Kritiker, Museumsdirektoren,
Galeristen, Architekten und Stadthistoriker darüber streiten, wie diese
spezifische Seite überkommener ostdeutscher Geschichte behandelt werden
soll. Trotz einer Reihe von Konferenzen und hitziger Debatten anläßlich
von Ausstellungskonzepten, von Aufnahme und Wiederausschluß
ostdeutscher Werke, ist es noch zu keiner erkennbaren Einigung
gekommen. Dies übrigens auch, weil von politischer Seite immer wieder
versucht wurde, die Versachlichung der Debatte zu torpedieren[60].
Dennoch ist dieser Bilderstreit gegenwärtig wohl die einzige
deutsch-deutsche Debatte über die Bewertung der getrennt/gemeinsamen
Vergangenheit. Dies auch, weil Ostdeutsche hier in nennenswerter Zahl
teilnehmen dürfen. Trotz eindeutiger Tendenzen, ist der Ausgang noch
ungewiß. Während ostdeutsche Künstler an der Ausstattung des
Reichstagsgebäudes beteiligt wurden, hat die Direktion der
Nationalgalerie anders entschieden. Dort wurden die Werke der
Ostdeutschen längst abgehängt und in das Depot gebracht. Hier hat sich
offenbar eine einseitige Vorstellung von künstlerischer Moderne
endgültig durchgesetzt.
Dabei könnte gerade aus der Fortführung dieser kunst-historischen
Debatten manche Anregung für den Umgang mit dem vierzigjährigen
Nebeneinander der Deutschen kommen. Wurde anfangs dafür votiert, dem
Osten eine "andere Moderne", eine "gebremste" oder "verhinderte"
Moderne zuzugestehen (deren Hauptmerkmal eine stärkere historische
Bindung sei), wird inzwischen überzeugender davon gesprochen, daß es in
Ost wie West wohl jeweils zweierlei Moderne nebeneinander gegeben habe
und gibt (wie an Walter Gropius, dem Ahnherren des sozialistischen
Plattenbaus, erläutert werden könnte). In diesem Diskurs über die
Chancen heutiger Kunstströmungen wurde auch erkennbar, daß - bei allem
Wandel - viele ostdeutsche Künstler ihre stärkere Bindung an die
Traditionen der klassischen Moderne nicht aufgegeben haben und ihre
Ansichten von Sinn und Funktion ihrer Kunst auch die Möglichkeit
einschließen, geschichtliche Erfahrungen gesellschaftlich
kommunizierbar zu machen.
III.
Wohin tendiert die ostdeutsche Erinnerung an die DDR-Gesellschaft?
Nach Lage der Dinge dürfte jede Aussage über mögliche Tendenzen
ostdeutschen Erinnerns recht subjektiv ausfallen. Mit dieser
Einschränkung sollen sechs Beobachtungen als abschließende
Zusammenfassung mitgeteilt werden.
Erstens: Ostdeutsche sind in einer widersprüchlichen Situation.
Einerseits leben sie ganz im Neuen, kennen keine über Jahrzehnte
gewachsenen lieben Gewohnheiten und Umstände mehr, sind Augenblicks-
und Zukunftsmenschen. Zugleich hat sie der weitgehende Verlust des
Gewohnten für den Wert des Überkommenen sensibilisiert. Zumindest ahnen
sie, in welchem Maße ihr Selbst-Bewußtsein vom Konstruieren einer
annehmbaren Eigengeschichte abhängt. Und so geht der große Trend wohl
dahin, den "DDR-Teil" der deutschen Vergangenheit selbstverständlicher
als die eigene Geschichte und mit den Jahren differenzierter und im
ganzen positiver zu erinnern.
Zweitens: Solche Identifikation mit der vergangenen Gesellschaft als
der eigenen, als dem versunkenen Herkunftsland, ist selektiv.
Mehrheitlich wird eine gute Zeit erinnert, die verschwundene
Gesellschaft in der Erinnerung auch neu "erfunden". Nicht von ungefähr
heißen Romane "Unbekannter Verlust" (Marion Titze) und
kultursoziologische Essays über die Ostdeutschen "Kunde von einem
verlorenen Land" (Wolfgang Engler).
Drittens: Die offiziell angebotenen Interpretationen der Vergangenheit
(Diktatur, Stasi, Täter oder Opfer, notwendiger Zusammenbruch usw.)
bieten der eigenen Erinnerung nur sehr partiell Anknüpfungspunkte. Das
ist von Belang, weil sich über solche offiziellen Topoi nur sehr
ausnahmsweise eine Verbindung zwischen der eigenen Erinnerung und der
anderen Lebenssituation in der neuen Gesellschaft herstellen läßt (denn
wer denkt schon in den Kategorien: "früher war ich unterdrückt, heute
bin ich frei"?) Vergangenheit und Gegenwart zu vermitteln gelingt
gegenwärtig offenbar nur in der Anschauung von Personen, Objekten,
Riten usw., deren Fortleben in der neuen Gesellschaft symbolisch für
einen erfolgreichen oder einen mißlungenen Übergang stehen kann.
Zaghafte historiographische Versuche, die 45 Jahre getrennter
Vergangenheit als gemeinsame Geschichte zu sehen, blieben bislang ohne
Wirkung. Auch, weil es geschichtspolitisches Programm war und ist, eine
solche "Gleichsetzung" ausdrücklich und dauerhaft zu verhindern.
Viertens: Wegen der stark sinnlichen Anlässe des Erinnerns, und weil
dabei sogar ästhetische Formen überwiegen, bekommt die erfundene DDR
eine ganz poetische Patina. Sie ist damit immer auch das Gegenbild zur
perfekten Glätte und Farbigkeit der aktuellen Welt - die
selbstverständlich von einer Mehrheit gleichfalls goutiert wird.
Fünftens: Mit der Erfahrung des Scheiterns ist die Überlegenheit
gegenüber jedem naiven und selbstgefälligen Optimismus gegeben: die
Ironie derer, die es schon besser wissen. Zugleich ist noch gar nicht
geklärt, was da scheiterte und worin der Verlust denn besteht. Es gilt
dies als eine Art exklusives Geheimnis, das "die Wessis" schon deshalb
nicht ergründen können, weil sie es gar nicht vermuten. Dieses
unbestimmte Verlustempfinden ist vielfältig wirksam. Es regt dazu an,
allerlei Verlorenes herauszusortieren und zu bewahren. Vor allen nährt
es eine unbestimmte Trauer, eine melancholische Anhänglichkeit an die
symbolischen Artefakte früheren Lebens. Ironie und Melancholie gelten
als Merkmale ostdeutscher Literatur, die damit einen vom Publikum
erwarteten Ton trifft.
Sechstens: An dieser Re-Produktion einer verlorenen Heimat ist die
Tendenz zur Mythenbildung nicht zu übersehen. Es verfestigen sich dabei
einige Überzeugungen, auch durch die anhaltende "westliche" Kritik, die
sie auslösen: die DDR war demokratischer und gerechter, wir waren
damals einander näher, es ging bei uns gemütlicher zu, gemessen an den
egoistischen Westdeutschen sind wir solidarischer, wir orientieren uns
an Gemeinschaftswerten wir sind die "besseren Menschen" usw. Es handelt
sich dabei keineswegs um die nostalgische Anwandlungen älterer
"Wendeverlierer". Wie Untersuchungen zu "Lebensentwürfen und
Gesellschaftsbildern ostdeutscher Jugendlicher" ausweisen, ist diese
mythische Gegenwelt zu den "schwierigen Bedingungen der Gegenwart"
selbst "für solche Jugendliche attraktiv, die mit vielen ihrer
Orientierungen Trägerinnen und Träger der gesellschaftlichen Moderne
sind"[61].
Die "Funktion" des neu entstehenden DDR-Modells ist es offenbar, damit
in der anderen sozialen Welt die eigene Position markieren zu können
und so eine Unterlage für ein neues "Selbst-Bewußtsein" zu gewinnen.
Dieses Erinnern ist nicht larmoyant, im Gegenteil ist es eher eine
mühevolle, auch skeptische Suche nach Fundamenten, auf denen neue
Identität sich erst entwickeln kann. Der Soziologe Heinz Bude hat schon
vor einem Jahrzehnt die DDR als "tragische Gesellschaft" gesehen, weil
deren große Idee allemal auch das Scheitern enthielt. Doch das neue
Selbstbewußtsein kommt keineswegs allein aus dem Bewußtsein solcher
Tragik. Der ostdeutsche Autor und Kabarettist Uwe Steimle hielt dem
trocken entgegen: "Natürlich ist die DDR gescheitert, aber einen
Versuch war's allemal wert."[62]
Siebentens: Bei der aktuellen Identitätssuche übernimmt das Erinnern
abstützende wie kritische Funktionen. Ethnologisch könnte dieser
Vorgang als die Verarbeitung kultureller Fremderfahrung gedeutet
werden. In einer fremden Welt soll Identität durch Neuerfindung der
eigenen Tradition und Kultur bekräftigt werden. Sicher ist das ein
weiterer Beleg dafür, daß es keine "authentischen" Bilder von der
Vergangenheit gibt.
Wenn dabei immer wieder anklingt, "wir haben das Bessere wenigstens
versucht", dann geht das über simple Selbstbeschwichtigung und über die
Ebene der Alltagserfahrung hinaus. Damit wird auch versucht, die
ostdeutsche Vergangenheit ganz selbstverständlich in die deutsche
Nationalgeschichte einzuordnen. Das sollte besorgte Politiker eher
hoffnungsvoll stimmen und vielleicht auch die Aufmerksamkeit des
zeithistorischen akademischen Betriebs auf sich ziehen.
________________________________________
Anmerkungen
[1] Hier wird, anknüpfend an Aleida und Jan Assmann,
diese Unterscheidung benutzt, um die institutionalisierten
Gedächtnisformen von ihren Vorformen abzuheben. [2] Daniela Dahn, Vereintes Land - geteilte Freude. In: Willy-Brandt-Kreis (Hg.), Zur Lage der Nation. Berlin 2001, S. 12. [3] Jutta Voigt, Propaganda und Sehnsucht. Was habe ich mit Amerika zu tun?, in: Die Woche 41/01 vom 05. 10. 2001. [4] Thomas Ahbe, Gruppenbild mit Banane. Aus dem Kulturalmanach des vereinigten Deutschland, in: Freitag v. 29. 09. 2000. [5]
Hellmuth Karasek, Selbstgemachte Konfitüre. Spiegel-Redakteur Hellmuth
Karasek über die Diskussion um Christa Wolfs Erzählung "Was bleibt".
In: Der Spiegel 26, 1990. Vgl. auch Rolf Becker und Hellmuth Karasek,
Nötige Kritik oder Hinrichtung. Über die Debatte um Christa Wolf und
die DDR-Literatur, in: Der Spiegel, 16. 7. 1990. [6] Volker Braun, Lustgarten Preußen. Ausgewählte Gedichte, Frankfurt/M. 2000, S. S. 141. [7]Peer
Pasternack, Bewegung auf einem gesättigten Markt. Geistes- und
sozialwissenschaftlichen Zeitschriften in Ostdeutschland nach 1989.
Berlin (Edition Luisenstadt) 1998. [8] Christoph Dieckmann, Sieger der Geschichte. In: DIE ZEIT vom 07.12. 2000, S. 7. [9]
Erhard Crome und Bernhard Muszynski, Politikbedingungen und politische
Bildung in Ostdeutschland. In: Aus Politik und Zeitgeschichte,
B25/2000, S. 21 - 28. [10] Susanne Vieth-Entus, Hauptfach:
DDR-Nostalgie. Manche Lehrer an Schulen in Ostbezirken vermitteln noch
immer sozialistische Werte, ein Arbeitskreis fordert nun: Mehr
West-Lehrer an Ost-Schulen, in: DER TAGESSPIEGEL vom 07. 11. 2001, S.
13. [11] Wolfgang Jacobmeyer, DDR-Geschichte im Hauptschulbuch der
Bundesrepublik. In: Arnd Bauerkämper, Martin Sabrow, Bernd Stöver
(Hg.), Doppelte Zeitgeschichte. Deutsche-deutsche Beziehungen
1945-1990, Bonn 1998, S. 177. [12] Konrad H. Jarausch, Kritische
Perspektiven zur deutschen Vergangenheit: Folgen der Vereinigung für
die Geschichtswissenschaft. In: Ders. und Matthias Middell (Hg.), Nach
dem Erdbeben. (Re-)Konstruktion ostdeutscher Geschichte und
Geschichtswissenschaft, Leipzig 1994, S. 29. [13] Robert Hettlage,
Kulturelle Integration. In: Hettlage, Robert und Karl Lenz (Hrsg.),
Deutschland nach der Wende. Fünf-Jahres-Bilanz, München 1995, S. 17 -
18. [14] "Sie wußten nicht, wie die westlichen Gesellschaften
aufgebaut sind, welche Institutionen wichtig sind, welche Rolle
Parteien, Gewerkschaften, Vereine spielen, wie Interessen artikuliert
und Konflikte ausgetragen werden. Ostdeutschen ist die Kultur des
Westens fremd. Sich individuell auf die Bundesrepublik einzustellen,
das ist den meisten mittlerweile ziemlich gut gelungen. Aber sie haben
die westliche Gesellschaft nicht verinnerlicht." Rolf Reißig, Der Osten
will nicht verachtet werden. Interview mit R. Reißig, taz - Magazin vom
23./24 Mai 1998, S. VI - VII. [15] Thomas Oberender, Nachholen der Vergangenheit. Der Tagesspiegel vom 02. 05.1999, S. W3. [16] Ebd. [17]
Detlef Pollack, Wirtschaftlicher, sozialer und mentaler Wandel in
Ostdeutschland. Eine Bilanz nach zehn Jahren, in: Aus Politik und
Zeitgeschichte, B 40/2000, S. 21. [18] Stefan Wolle, Waschputzis Wahrheit. In: DIE ZEIT Nr. 46 vom 09. 11. 2000, S. 57. [19] Thomas Ahbe, Gruppenbild mit Banane. Aus dem Kulturalmanach des vereinigten Deutschland, in: Freitag v. 29. 09. 2000. [20] Christoph Dieckmann, Sieger der Geschichte. In: DIE ZEIT vom 07. 12. 2000, S. 7. [21]
Konrad H. Jarausch und Matthias Middell, Die DDR als Geschichte:
Verurteilung, Nostalgie oder Historisierung? In: Dies. (Hg.), Nach dem
Erdbeben. (Re-)Konstruktion ostdeutscher Geschichte und
Geschichtswissenschaft, Leipzig 1994, S. 10. [22] Super-Illu vom 26. 09. 1991 (Nr. 40), S. 10. [23]
Peter Hübner, "Geronnene Fiktionen"? Alltag in der DDR als Gegenstand
der zeithistorischen Forschung, in: Konrad H. Jarausch und Matthias
Middell (Hg.), Nach dem Erdbeben. (Re-)Konstruktion ostdeutscher
Geschichte und Geschichtswissenschaft, Leipzig 1994, S. 266. [24]
Lutz Niethammer, Glasnost privat 1987. In: L. Niethammer, A. v. Plato
u. D. Wierling, Die volkseigene Erfahrung. Berlin 1991, S. 68. [25]
wie Anmerkung 8 Detlef Pollack, Wirtschaftlicher, sozialer und mentaler
Wandel in Ostdeutschland. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage
40/2000, S. 17. [26] Vgl. Wolfgang Wagner, Kulturschock Deutschland.
Hamburg 1996; Ders. Kulturschock Deutschland. Der zweite Blick, Hamburg
1999. [27] Detlef Pollack, Wirtschaftlicher, sozialer und mentaler
Wandel in Ostdeutschland. . Eine Bilanz nach zehn Jahren, in: Aus
Politik und Zeitgeschichte, B 40/2000, S. 17. [28] Vgl. Thomas
Beutelschmidt: Out of fashion oder mega in? Die DDR im Spiegel ihrer
Objekte, Bilder und Töne, in: Rundfunk und Geschichte, 23. Jg. Nr. 4,
Oktober 1997, S. 224. [29] Antje-Ulrike Buckow und Uta Rinklebe:
Deutsch-deutsche Partnerschaften - die Annäherung zweiten Grades.
Seminararbeit Berlin 1998, S. 21. [30] Gert Selle, Erinnern -
Suchbewegung in der Wirklichkeit. In: Gerd Kuhn und Andreas Ludwig,
Alltag und soziales Gedächtnis. Hamburg 1997, S. 87. [31] Michael Rutschky: Wie erst jetzt die DDR entsteht. Vermischte Erzählungen, in: Merkur, Jg. 49 (1995), H. 9/10, S. 856. [32] Matthias Naumann und Rainer Stefan, Der Ostdeutsche als westdeutsches Medienkonstrukt. In: telegraph 2/1999. [33] Karl-Heins Bohrer, Kulturschutzgebiet DDR. In: Merkur 10/111990. [34] Daniela Dahn, Vertreibung ins Paradies. Reinbek 1998, S. 78. [35] Ulrich Greiner, Die deutsche Gesinnungspolitik. In: DIE ZEIT v. 01.11. 1990. [36] Wolfgang Emmerich, Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe, Leipzig 1996, S. 503 u. 525. [37]
Wachsende Verstörung - florierender Betrieb. Symposium der deutschen
Literaturkonferenz, in: ndl 41. Jg. 488. Heft, August 1993, S. 174. [38] Interview mit Elmar Brähler, Berliner Morgenpost vom 25. 07. 1999. [39]
Roswitha Skare, "Das wahre Leben im falschen". Erscheinungsformen
ostdeutscher Identität in Nach-Wende-Texten, in: Nordlit Nr. 5, Tromsø
1999. [40] Volker Hage, Nacht mit Folgen. Immer wieder
heraufbeschworen: Der große deutsche Roman über die Wende und
Mauerfall. In: Der Spiegel 15/1995. [41] Karl-Rudolf Korte,
Demokratie braucht Literatur. Vom deutschen Umgang mit erzählender
Literatur, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 13-14 (1996), S. 27 [42]
Susanne Ledanff, Die Suche nach dem "Wenderoman" - zu einigen Aspekten
der literarischen Reaktionen auf Mauerfall und deutsche Einheit in den
Jahren 1995 und 1996. In: Glossen. Eine internationale Zeitschrift zu
Literatur, Film und Kunst nach 1945, Heft 2, dickinson 1997 (Electronic
Journal, http://www.dickinson.edu/glossen/) . [43] Vgl. dazu auch
Christine Cosentino, Ostdeutsche Autoren Mitte der neunziger Jahre:
Volker Braun, Brigitte Burmeister und Reinhard Jirgl. In: The Germanic
Review Vol. 1 No 3 (1996), S. 177-194. [44] Daniela Dahn, Westwärts und nicht vergessen. Vom Unbehagen in der Einheit, Berlin 1996. [45] Freya Klier, Penetrante Verwandte. Kommentare, Aufsätze und Essays in Zeiten deutscher Einheit, Frankfurt/M. 1996. [46] Hans Misselwitz, Nicht länger mit dem Gesicht nach Westen. Das neue Selbstbewußtsein der Ostdeutschen, Bonn 1996, S. 107. [47] zitiert nach: Christoph Dieckmann, Das wahre Leben im falschen. Geschichten von ostdeutscher Identität, Berlin 1998, S.101. [48]
Roswitha Skare, "Das wahre Leben im falschen". Erscheinungsformen
ostdeutscher Identität in Nach-Wende-Texten, in: Nordlit Nr. 5, Tromsø
1999. [49] Hans Misselwitz, Nicht länger mit dem Gesicht nach Westen. Vorwort zur 2. Auflage, Bonn 1996. [50]
Steffen Mensching (Hg.), Pygmalion : ein verloren geglaubter dubioser
Kolportage-Roman aus den späten 80er Jahren. Halle 1991. [51] Heike
Henderson, Die deutsche Vereinigung im Spiegel der Literatur
(Sammelrezension). In: Glossen. Eine internationale Zeitschrift zu
Literatur, Film und Kunst nach 1945, Heft 6, dickinson 1999 (Electronic
Journal, http://www.dickinson.edu/glossen/). [52] Jens Bienioschek,
Urst stark, echt verboten - Schwedter Theater präsentiert "Sonnenallee"
als Schauspiel mit Musik. ddp-Korrespondenz,
Theaternachrichten@Theaterkanal.de, Newsletter vom 23. 09. 2001. [53] Jochen Schmidt, Triumphgemüse. München 2000. [54]
Susanne Ledanff, Die Suche nach dem "Wenderoman" - zu einigen Aspekten
der literarischen Reaktionen auf Mauerfall und deutsche Einheit. In:
Glossen. Eine internationale Zeitschrift zu Literatur, Film und Kunst
nach 1945, Heft 2, dickinson 1997 (Electronic Journal,
http://www.dickinson.edu/glossen/). [55] Frauke Meyer-Gosau,
Ost-West-Schmerz. Beobachtungen zu einer sich wandelnden Gemütslage,
in: Heinz-Ludwig Arnold (Hg.), DDR-Literatur der neunziger Jahre,
Text+Kritik IX/00, Sonderband, S. 11. [56] Henryk M. Broder und Reinhard Mohr, Der Aufstand der Surfpoeten. In: DER SPIEGEL vom 07. Februar 2000. [57] Herfried Münkler, Das kollektive Gedächtnis der DDR. In: Dieter Vorsteher (Hg.), Parteiauftrag : ein neues Deutschland. Bilder, Rituale und Symbole der frühen DDR, Berlin 1997, S.465. [58]
Heinz Dieter Kittsteiner, Die "Heroisierung" im geschichtstheoretischen
Kontext. In: Monika Flacke (Hg.), Auf der Suche nach dem verlorenen
Staat. Die Kunst der Parteien und Massenorganisationen der DDR, Berlin
1994, S.157. [59] Martin Warnke, Podiumsdiskussion. In: Monika
Flacke (Hg.), Auf der Suche nach dem verlorenen Staat. Die Kunst der
Parteien und Massenorganisationen der DDR, Berlin 1994, S.162. [60]
Der Umgang mit der Sitte-Ausstellung im Nürnberger Deutschen
Nationalmuseum - ausgelöst durch die "Kunsthistoriker" vom
Forschungsverbund SED-Staat der westberliner Freien Universität - ist
das jüngste Beispiel dafür. [61] Thomas Rausch, Zwischen
Freiheitssuche und DDR-Nostalgie. Lebensentwürfe und
Gesellschaftsbilder ostdeutscher Jugendlicher, in: Aus Politik und
Zeitgeschichte, Beilage 45/99, S. 38. [62] Uwe Steimle, Deutschland macht mich rasend. In: DER TAGESSPIEGEL vom 10. 11. 2000, S. 34.
Dieser Aufsatz erschien 9/2002 in dem beim CAMPUS VERLAG von Konrad H.
Jarausch und Martin Sabrow herausgegebenen Band "Verletztes Gedächtnis.
Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt" |
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