Text | Kulturation 2/2009 | Volker Gransow | Müssen Deutsche das Töten lernen?
Kulturelle Aspekte menschlicher Sicherheit
10/2009 | “Die
Deutschen müssen das Töten lernen”. So äußerten sich Vertreter der
Regierung George W. Bush gegenüber Karsten D. Voigt, dem
Regierungsbeauftragten für deutsch-amerikanische Beziehungen, zur Lage
in Afghanistan. (“Der Spiegel”, Nr.47 vom 20.11.2006). Als ob die
Deutschen im 20. Jahrhundert nicht hinreichend ihre Fähigkeiten zum
Töten bewiesen hätten. Es geht wohl darum, dass Deutsche neben dem
Töten das Sterben im bewaffneten Kampf wieder erlernen. Gehört zur
“Lizenz zum Töten” nicht ebenfalls die “Lizenz zum Sterben”?
“Es wird der Eindruck erweckt, die Kriege der jüngsten Zeit seien
nach wie vor am Modell der klassischen zwischenstaatlichen Kriege zu
beurteilen. Das ist aber nicht mehr der Fall...”. Mit diesen Worten
wies der Berliner Politologe Herfried Münkler den Vorwurf zurück, dass
Israel im Krieg gegen die libanesische Hisbollah das Völkerrecht
verletzt habe. (“Frankfurter Rundschau” vom 23.11.2006). Die
Politikwissenschaft des 21. Jahrhunderts scheint da gar nicht so neu.
Vielmehr eher befangen in einem Freund-Feind-Denken mit dehnbarem
Völkerrecht. Denkt man da nicht an die Schriften des unseligen Carl
Schmitt (1888 - 1985)? Ist das nicht ein Autor, den Münkler kennen
könnte?
“Seven months after Israel started a fierce three-week military
campaign here to stop rockets from being fored on its southern
communities, Hamas has suspended its use of rockets and shifted focus
to winning support at home and abroad through cultural initiatives and
public relations”. Das notierte unter der Überschrift “In Hamas’s
Arsenal, Rockets and Culture” Ethan Bronner in der “New York Times”
(“The New York Times”, SZ-Edition, 3. August 2009). Kultur - nicht als
Accessoire, sondern integral verstanden - gehört anscheinend zum Krieg,
auch beim unter Obama zur “Overseas Contingency Operation”
verniedlichten “War on Terrorism”. Noch mehr zu einer alternativen
Sicherheitspolitik der Prävention, des Gesprächs und der gegenseitigen
Hilfe?
Bleibt zu fragen, ob es bei der Frage nach Kultur als integralem
Teil etablierter wie alternativer Sicherheitspolitik nicht um
Augenwischerei geht. “Und das größte Wunder der Erde ist der
Wunderglaube ihrer Bewohner, besonders der Linken ... Selbst wenn wir
jeden bärtigen Krieger, dessen wir habhaft werden können, in ein
Ent-Talibanisierungslager schicken und ihm Röpke und Eucken erklären,
Habermas und Dahrendorf vorlesen “ spottete Bestseller-Verfasser
Richard Precht, “ - selbst dann wären die Erfolgsaussichten gering
(“Feigheit vor dem Volk”, in “Der Spiegel” Nr.32/2009). Dem
Philosophie-Volkspädagogen würde hier vielleicht etwas Dialektik
helfen. Denn die von ihm belächelten “Lehrer und Kindergärtner,
Polit-Profis, Poeten und Professoren” könnten mit kulturellen
Kenntnissen und Dialog-Angeboten nicht nur für “bärtige Krieger”
vielleicht verhindern, dass Unsummen an Steuergeldern für Tornados
verschleudert werden. Und dass deutsche Soldatinnen und Soldaten für
Opiumexport und eine potenzielle Pipeline sterben.
Ja, sterben. Oder “fallen”? Klaus Harpprecht bemerkte dazu:
“Offiziell führt Deutschland am Hindukusch keinen Krieg”. Aber doch
beklage die Bundeswehr ihre ersten Toten in einem Krieg, der nicht so
genannt werden soll. “Fallen” dürfen sie seit 2009 dort immerhin.
“Deutsche Soldaten sterben nicht. Sie kommen auch nicht um. Sie werden
nicht getötet. Sie finden - eine merkwürdige Wendung - vielleicht den
Tod, den sie nicht gesucht haben. Sie fallen” (“Gefallen”, in “Die
Zeit” vom 6. August 2009).
Die hier gegebene Auswahl von Pressemeldungen und Kommentaren aus
den Jahren 2006 bis 2009 deutet auf eine zumindest in Nuancen andere
Dimension internationaler Politik nach den Schrecken des 20.
Jahrhunderts, der Implosion des Realsozialismus und dem Angriff auf das
World Trade Center am 11.September 2001. Bedrohungen resultieren nicht
mehr allein aus zwischenstaatlichen Konflikten und einer
Block-Konfrontation, sondern aus Armut und Massenelend, ethnisch oder
religiös motivierter Gewalt, dem internationalen Terrorismus, der
Proliferation von Massenvernichtungswaffen oder weltweiten
Umweltgefahren. Es sei als weiteres Stichwort nur die wirtschaftliche
und kulturelle Dimension der kapitalistischen Globalisierung genannt.
In diesem Zusammenhang wird ein erweiterter Sicherheitsbegriff
diskutiert: “Human Security” oder “menschliche Sicherheit”. Was ist
das? Eine Arbeitsdefinition wäre (Human Security Network, “A
Perspective on Human Security”, Lyksoe 1999):
“A humane world where people can live in security and free from
poverty or despair, is till a dream for many and should be enjoyed by
all. In such a world, every individual would be guaranteed freedom from
fear and freedom from want, with an equal opportunity to fully develop
their human potential”.
Die kulturelle Dimension eines erweiterten Sicherheitsbegriffs wird
oft übersehen. Zur Klärung sollen im folgenden Antworten auf drei
Fragen gesucht werden: Eine erste Frage ist die, wie fasst man die
Beziehung von Kultur und Politik heute begrifflich? Zweitens geht es um
menschliche Sicherheit im kulturellen Kontext. Drittens soll über
mögliche Implikationen für Deutschland und Europäische Union
nachgedacht werden. Schließlich soll zusammenfassend nach
sicherheitspolitischen Alternativen zum Töten und Sterben gesucht
werden.
Kultur und Politik
In der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts prägen drei Phänomene internationale Politik:
a) der Kapitalismus ist global geworden;
b) eine demografische Spaltung zwischen armen Ländern mit
wachsender Bevölkerung und reichen Ländern mit schrumpfender
Bevölkerung;
c) technischer Wandel, besonders das Internet , verstärkt die beiden vorgenannten Entwicklungen.
Um die Beziehung von Kultur und Politik in diesem Kontext zu
analysieren, muss man Begriffe finden, die jenseits von einem
Kulturverständnis sind, das Kultur als spezifisch für einen
Nationalstaat oder eine nationale Gesellschaft sieht. Die “klassische”
Definition von politischer Kultur in der westlichen Politikwissenschaft
des 20. Jahrhunderts war ein politisches Kulturverständnis als “the
specifically political orientations-attitudes towards the political
system and its various parts” (Almond/Verba, p.12). Mir scheint dies
heute ungenügend zu sein, weil es sich auf nationale Gesellschaften
beschränkt und weil es die materiellen Aspekte von Kultur
vernachlässigt, besonders “Kulturgüter”. Wenn wir diese Definition als
zu eng zurückweisen, dann brauchen wir einen weiten Kulturbegriff. Ein
weiter Kulturbegriff benötigt jedoch immer eine oder mehrere
spezifische Differenzen, wie die Unterscheidung von Basis und Überbau
oder zwischen materieller und geistiger Kultur in verschiedenen
marxistischen Denkrichtungen. Diese Unterscheidung wäre freilich von
Marx selbst nicht akzeptiert worden. In seinem bekannten Vergleich
zwischen Biene und Architekt im ersten Band des “Kapital” sagte Marx
selber (Marx, S. 193):
“Wir unterstellen die Arbeit in einer Form , worin sie dem Menschen
ausschließlich angehört. Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen
des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer
Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein
den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß
er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut.”
Mit Marx könnte man nach dialektischeren Kulturkonzepten suchen.
Dietrich Mühlberg hat hierzu einen sehr nützlichen Vorschlag gemacht.
Für Mühlberg differenziert sich Kultur in eine objektive und eine
subjektive Existenzweise. Die objektive Kultur ist sowohl das
materielle wie auch das geistige kulturelle Erbe, das subjektiv durch
die heutige Generation angeeignet wird. So wird Kultur als
kontinuierlicher Wandlungsprozess betrachtet Und: “Kulturgüter” werden
wichtig genommen, Kultur ist nicht auf geistige Kultur reduziert (vgl.
u.v.a. Mühlberg, Dölling, Vereek). Vielleicht ist “Hybridkultur” eine
theoretische und praktische Hilfe (vgl. Tschernokoshewa/Kramer,
Tschernokoshewa/Gransow)?
Aber wo ist Politik? Bei Almond/Verba war ein enges
Politikverständnis mit einem engen Kulturbegriff verbunden worden. Bei
Mühlberg finden wir eine ausgezeichnete dialektische Definition von
Kultur, aber Politik kommt nur implizit vor. Deshalb schlage ich vor,
Raymond Williams’ Kulturbegriff einzubeziehen.
Für Raymond Williams ist Politik zentral für Kultur. Williams sieht
Kultur sowohl als “ganze Lebensweise” als auch als “ein kennzeichnendes
Netz von Symbolen”, wie etwa Kunst. Sie ist gleichzeitig Komplexität
von Hegemonie. Hegemonie setzt die Existenz von etwas voraus, was nicht
nur zweitrangig oder ein Überbau ist. Sie konstituiert Substanz und
Grenzen des Alltagsverständnisses einer Mehrheit. Das bedeutet, dass
Kunst und Kultur per definitionem politisch sind. Kultur ist außerdem
nicht nur politisch, sondern auch historisch. Sie ist historisch
insofern, als Williams in einer gegebenen Kultur zwischen dominanter,
alternativer und oppositioneller Kultur differenziert. Sozialer und
hegemonialer Wandel und Interaktion, Repression und Inkorporation
zwischen diesen Teilen der Kultur führen zu neuen Konfigurationen. Was
gestern noch alternativ war, kann morgen schon dominant sein.
Nach Williams, "in any society, in any particular period, there is
a central system of practices, meanings and values, which we can
properly call dominant, ... which are not merely abstract, but which
are organized and lived" (Williams 1980 , p.38). Die Grenzen von
alternativen und oppositionellen Kulturen zur dominanten Kultur sind
schwer zu ziehen: “There is a simple theoretical distinction between
alternative and oppositional, that is to say between someone who simply
finds a different way to live and wishes to be left alone with it, and
someone who finds a different way to live and wants to change the
society in its light... But it is often a very narrow line, in reality
" (ibidem pp.41-42). Williams - wie auch der ihm ebenbürtige
französische Kultursoziologe Pierre Bourdieu (vgl. Bourdieu ) -
entwickelte sein Konzept von Kultur und Politik in der zweiten Hälfte
des 20. Jahrhundersts. Ist es noch gültig am Beginn des neuen
Jahrtausends?
Meiner Meinung nach lautet die Antwort: “grundsätzlich ja”. Aber
der Unterschied ist, dass wir heute nicht mehr den Nationalstaat als
Rahmen poltischen Handelns akzeptieren können. Wir müssen die Begriffe
modifizieren, um die Realität von heute begreifen zu können.
Wenn wir heute Williams’ dialektisches Konzept von Kultur und
Politik anwenden wollen, müssen wir bedenken, dass wir es mit einer
universellen dominanten Kultur des globalen Kapitalismus zu tun haben.
Zitat von Stephen Clarkson : ”If the consequent dedication to
competition, glorification of consumption, commodification of culture,
denigration of community, and blurring of national identities are given
freer reign in the new North America than on other continents as the
transnational corporation becomes the lead force defining public
values, the North American model will distinguish itself as giving the
greatest leeway for the market to produce social norms and discipline
governments” (Clarkson 2000, p.19). Für mich ist das eine genaue
Beschreibung der dominanten Kultur des globalen Kapitalismus.
Diese dominante Kultur ist in einer hegemonialen Auseinandersetzung
konfrontiert mit den oppositionellen Kulturen des Jihad oder
Islamischen Fundamentalismus und den alternativen Kulturen von Attac
und den Weltsozialforen. Mir scheint wichtig, dass die politische und
kulturelle Interaktion zwischen diesen drei Kulturen durch Produktion,
Integration und Repression nicht reduziert wird zu binären Modellen wie
dem “Kampf der Kulturen” (Huntington) oder sogar “Jihad vs. Mc.World”
(Benjamin Barber, vgl. Goytisolo). Wenn wir nach einem Instrument für
einen globalen kulturellen “Trialog” suchen, dann müssen wir uns einem
kulturellen Verständnis menschlicher Sicherheit zuwenden. Dabei ist die
Mühlbergsche Heraushebung objektiver Kultur als kultureller
Errungenschaft früherer Generationen zentral.
Menschliche Sicherheit
Der kanadische Politikwissenschaftler Alex Macleod fasste 2005
seine Analyse menschlicher Sicherheit wie folgt zusammen: “The most
successful way of coming to grips with human security questions is
through prevention, particularly through aid and development
programmes, carried out by national governments, NGOs and the UN and
its specialised agencies” (Macleod, p.8). Da kann man voll zustimmen,
fragt aber nach der speziellen kulturellen Komponente und der Rolle der
EU, weil die EU für die neuen Herausforderungen strukturell besser
geeignet sein könnte. Sie ist mehr als eine internationale Organisation
von Nationalstaaten (wie die im Kontext menschlicher Sicherheit
wertvolle UNO; vgl. Homer-Dixon), aber weniger als ein echter
Bundesstaat. Daran ändert auch das vielbeklagte Demokratiedefizit
nichts.
In Bezug auf kulturelle Komponenten möchte ich die Diskussion
menschlicher Sicherheit mit der Diskussion “öffentlicher Güter”
verbinden. Hier folge ich Elmar Altvater und der UNO-“Commission on
Human Security” (vgl. Altvater, Commission 2003) Altvater argumentiert,
dass Menschenrechte universell und nicht reduzierbar sind. Menschliche
Sicherheit kann jedoch ausschließlich unter bestimmten historischen,
wirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen hergestellt werden. Nur
bei Unterstützung durch menschliche Sicherheit können Menschenrechte
realisiert werden. Dies geschieht durch die Bereitstellung öffentlicher
Güter, nicht durch militärischen Kampf gegen den Terror, der selber
eine Gefahr für menschliche Sicherheit und Menschenrechte ist. Abu
Ghraib und Guantanamo sind hierfür makabere Symbole (vgl. Altvater,
S.2). Öffentliche Güter sind Güter, die für jene Teile menschlichen
Lebens notwendig sind, wo Individuen oder Gruppen unfähig sind,
Ressourcen für Bildung, Gesundheit, Alter, Ernährung, Unterbringung und
Wasserversorgung bereitzustellen. Mit anderen Worten: öffentliche Güter
schließen Kulturgüter ein, eine Politik menschlicher Sicherheit
schließt kulturelles und künstlerisches Handeln ein.
Aus meiner Sicht ist diese Verbindung von Menschenrechten,
menschlicher Sicherheit und öffentlichen Gütern notwendig für einen
globalen politischen “Trialog” zwischen dominanten, alternativen und
oppositionellen Kulturen. Dazu gehören weite Begriffe von Kultur,
Politik und menschlicher Sicherheit ohne die grundlegenden
Voraussetzungen menschlichen Lebens zu vergessen. Diese Politik
menschlicher Sicherheit ist sehr wahrscheinlich vielversprechender als
ein rein militärischer Kampf gegen den Terror.
Mögliche Konsequenzen für die Bundesrepublik und die EU
Kann es dabei eine besondere Rolle für die menschliche
Sicherheitspolitik der Bundesrepublik und der EU geben? Deutschland und
die EU haben sich bisher in Sachen menschlicher Sicherheit eher
zurückgehalten. Die EU hat sich in der internationalen Diskussion
gemeinsam mit Kanada besonders in der Landminenfrage und im Handel mit
kleinen und leichteren Waffen engagiert.
Auf internationaler Ebene gibt es das “Human Security Network”, dem
u. a. Kanada, Mali, Österreich und die Slowakei angehören. Weder die
USA noch die Bundesrepublik noch die EU sind bisher Mitglieder. Auch
unter Obama ist die Bush-Doktrin der “Homeland Security“ nicht durch
eine der “Human Security” ersetzt worden.
Seit 2004 liegen der EU (z. T. von ihr selbst angeforderte)
diesbezüglich Vorschläge und Politik-Empfehlungen verschiedener
Wissenschaftler-Teams (den Autor dieser Zeilen eingeschlossen) vor. Man
fordert erstens eine “Human Security Doktrin”, zweitens die Schaffung
einer “Human Security Response Force” von 15.000 Frauen und Männern
durch die EU, wovon mindestens ein Drittel zivil wäre, und drittens die
Schaffung eines neuen rechtlichen Rahmens. Die Bundesrepublik
Deutschland in Gestalt des Auswärtigen Amtes (AA) und die Kommissariate
der für internationale Beziehungen zuständigen EU-Kommissare Xavier
Solana und Benita Ferrero-Waldner haben bisher reagiert. Neben
Deutschland und der EU ist in den verschiedenen Politik-Empfehlungen
auch das traditionell an Menschlicher Sicherheit besonders
interessierte Kanada angesprochen worden (vgl. Bredow).
Resümierend scheinen mir weder der Ansatz der politischen
Kulturforschung besonders im Nordamerika des 20. Jahrhunderts noch das
traditionelle marxistische Kulturkonzept den Herausforderungen des 21.
Jahrhunderts zu entsprechen. Der “kulturelle Materialismus” von
Dietrich Mühlberg und Raymond Williams hingegen kann nutzbar gemacht
werden für eine Analyse der internationalen Beziehung von Kultur und
Politik, weil Kultur nicht als Objekt von Politik gesehen wird, sondern
Politik als Teil von Kultur.
Im “Trialog” zwischen dominanten, alternativen und oppositionellen
Kulturen auf globaler Ebene ist menschliche Sicherheit ein Kernpunkt.
Dies besonders dann, wenn die Diskussion über öffentliche Güter
(einschließlich Kulturgüter) einbezogen wird.
Bundesrepublik und EU könnten sich in praktischer Politik im Rahmen
des Human Security Network und der Bildung von “Human
Security”-Einsatzgruppen weit stärker engagieren, als dies bisher der
Fall ist und damit auch verbreiteten “mafiösen” Methoden in besonders
hilfsbedürftigen Ländern entgegenwirken (vgl. Stölting).
Im Ausblick scheinen mir Handlungsmöglichkeiten besonders gegeben
bei der Sicherung kultureller Örtlichkeiten im Konfliktfall. Hier ist
das Militär sehr oft schlicht überfordert. Man denke nur an die
Kosovo-Erfahrungen der Bundeswehr. Vielleicht sollte sich die
weitgehend AA-finanzierte Stiftung “Wissenschaft und Politik” am
Berliner Ludwigkirchplatz bei ihrem Untermieter “internationale
Friedensdienste” nach Einzelheiten über mißglückte Sicherungen von
Kulturgütern erkundigen.
Menschliche individuelle, auch ganz praktisch körperliche
individuelle Identität sollte ebenfalls Gegenstand menschlicher
Sicherheitspolitik sein. Das schließt geschlechtliche Identität ein.
Die Soldatinnen und Soldaten der Bundesrepublik Deutschland und der
ISAF schützen z. Z. in Afghanistan (vielleicht später auch in Pakistan)
nicht nur Opiumbarone, Warlords und die kleptokratische Kasai-Clique,
sondern auch z. B. die regelmäßige Vergewaltigung junger Männer durch
wohlhabende männliche Afghanen, die den auf dem Heiratsmarkt
erhältlichen Jungfrauen die intakte Jungfräulichkeit erhalten wollen.
In einer Reportage von Christoph Reuter aus Afghanistan im Sommer 2009
heißt es: “Von Kundus im Norden im Norden bis Kandahar im Süden halten
sich Reiche, vor allem Milizführer, ihre privaten Knaben, die Milch und
Hühnerfleisch bekommen und neben den Frauengemächern wohnen. Die vor
Freunden tanzen, für Unsummen gehandelt werden und bei denen niemand
fragt, ob sie Jungfrauen sind. Im Gegenteil: Den Lieblingsknaben eines
großen Commanders von hinten zu nehmen, ist eine Trophäe ... Schwul sei
hier niemand” (“Stern” Nr.33/2009). Und zum Schutz solcher Strukturen
müssen die Deutschen also das Töten lernen? Vielleicht könnte man auch
bei Genderpolitik Altenativen mit entwickeln helfen?
Selbstverständlich sollten Kulturgüter wie Kirchen und Kunstwerke
weit über das UNESCO-Kulturerbe hinaus durch menschliche
Sicherheitspolitik vor Vandalismus und anderen Angriffen bewahrt
werden. Analoges gilt für die extrem gefährdete Umwelt (vgl.
Homer-Dixon). Bei alledem geht es für Deutsche und andere freiwillig
Involvierte nicht darum, wegen narzisstischer Rache an AlQuaida oder
zum Schutz einer noch gar nicht gebauten Pipeline an einer Spirale des
Tötens mitzuwirken. Vielmehr ist eine durchdachte und koordinierte
“menschliche” (also nicht unbedingt nationale) Sicherheitspolitik auch
im Interesse von Nationen, die ihre herkömmliche Kultur durch Migranten
oder Asylanten bedroht sehen. Oft genug hat herkömmliche
Sicherheitspolitik deren Wanderungen erst erzwungen.
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