Text | Kulturation 2/2005 | Volker Gransow | Eile mit Weile
Für eine Debatte um die schnelle deutsche Vereinigung und die stockende innere Einheit
| Die
schnelle deutsche Vereinigung mit ihren Irrtümern und Fehlern war
Voraussetzung für die stockende innere Einheit in den fünfzehn Jahren
danach. Diese These wird im folgenden überprüft. Sie entstand nach
Diskussionen über die Vergleichbarkeit von ostdeutschen Kulturen mit
denen der australischen Aborigines, Gesprächen mit nordamerikanischen
Professoren auf Deutschlandreise und Vorträgen für Besucher der
Bundeszentrale für politische Bildung in Berlin (vgl. Gransow 2003).
Von daher mögen Leserin und Leser verzeihen, wenn gelegentlich
Bekanntes wiederholt wird, freilich aus neuer Perspektive.
Ausgangspunkte sind zwei Fragen. Erstens: Was waren
Entwicklungsphasen der deutschen Vereinigung? Zweitens: Wie gestaltete
sich die Herstellung der inneren Einheit? Daraus ergibt sich eine
dritte Überlegung, nämlich die nach dem Zusammenhang der ersten beiden
Erkundungen.
Phasen und Akteure der deutschen Vereinigung
Die Dynamik der Vereinigung kann erklärt werden mit der
Überschneidung von vier miteinander eng zusammenhängenden
Entwicklungen: Erstens war es der Zerfall des Kommunismus in Osteuropa
und Zentralasien, der die Machtstrukturen Ostdeutschlands
destabilisierte. Diese Destabilisierung machte zweitens die friedliche
Bürgerrevolte in der DDR möglich, die nicht gewaltsam niedergeschlagen
werden konnte wie der Juni-Aufstand von 1953. Als drittens die
Revolution an den Punkt kam, wo freie Wahlen möglich und nötig waren,
wählte eine große Mehrheit der Ostdeutschen die vom westdeutschen
Bundeskanzler Helmut Kohl angebotene demokratische Vereinigung als
besten Weg zu politischer Freiheit und wirtschaftlichem Wohlstand. Dies
wurde von den westdeutschen Landsleuten akzeptiert. Viertens war all
dies notwendig verbunden mit dem Ende des Kalten Kriegs. Die Auflösung
der Warschauer Vertragsorganisation hatte zu einer neuen Beziehung
zwischen der Sowjet-Union und den USA geführt, wozu auch ihrer beider
Zustimmung zur Mitgliedschaft des vereinten Deutschland in NATO und EU
gehörte. Was waren die einzelnen Phasen des Vereinigungsprozesses (vgl.
Gransow/Jarausch 1991, Gransow/Jarausch 2004, Jarausch 1995, Jarausch
2005)?
Die erste Phase war die von Ausreise, Opposition und Reformblockade
in Ostdeutschland vom Frühsommer bis Mitte 1989. Im Frühjahr 1989 war
es klar, dass die sogenannte "Breschnew-Doktrin" über die begrenzte
Souveränität sozialistischer Länder von der "Sinatra Doktrin" ersetzt
worden war ("My Way"). Ungarn und Polen befanden sich offensichtlich
auf dem Weg zu parlamentarischer Demokratie und freier Marktwirtschaft.
Als Ungarn seine Grenzen erst zögernd, dann konsequent für DDR-Bürger
öffnete, war die Kontrolle der DDR-Führung über die Reisen ihrer
Untertanen faktisch beendet. Das geschah 28 Jahre, nachdem die
Warschauer Vertragsstaaten und die DDR-Regierung diese Kontrolle durch
den Mauerbau in Berlin etabliert hatten. Zu Hunderttausenden verließen
DDR-BürgerInnen jetzt das Land und siedelten in die Bundesrepublik
über. Sie konnten dies tun unter Berufung auf ihre gesamtdeutsche
Staatsbürgerschaft. Die Massenausreise delegitimierte die SED gewaltig.
Zweites destabilisierendes Element war die DDR-Opposition. Bis zu
diesem Zeitpunkt hatten Dissidenten meist in einer Alternativkultur
gelebt, die durch die evangelische Kirche geschützt worden war. Jetzt
suchte die immer noch illegale Opposition die Öffentlichkeit durch
dialogorientierte Manifeste. Die Führung reagierte wie paralysiert und
zeigte ihre Reformunfähigkeit. Mit Applaus für das Massaker in Peking
demonstrierte man die Bereitschaft zur brutalen Repression. Der 40.
Jahrestag der DDR Anfang Oktober markierte den Anfang vom Ende. Die
Sowjetunion tolerierte Massendemonstrationen von in der DDR bisher
unbekanntem Umfang, die zum Rücktritt von Parteichef Erich Honecker am
18. Oktober führten.
Damit hatte eine zweite Phase begonnen, die durch Aufbruch,
Mauerfall und Staatsbankrott charakterisiert wird. Was immer die neue
Führung tat - es schien ungenügend angesichts des Drucks durch eine in
Bewegung geratene Bevölkerung. Dialogangeboten folgten erste Reformen,
dann Rücktritte von Politikern, und schließlich die „Doppelherrschaft“
von alter Elite und Opposition am „Runden Tisch". Der Höhepunkt der
optimistischen Reformstimmung war eine Demonstration für Bürgerrechte
in Ost - Berlin am 4. November 2004. Mehr als 500 000 Menschen waren
gekommen um Christa Wolf und Stephan Heym zu bejubeln und den
Ostberliner Parteichef Günther Schabowski auszupfeifen. Die Führung
reagierte auf den zunehmenden gewaltlosen Druck, indem sie die Mauer in
der Nacht des 9.November 1989 öffnete. Tatsächlich erleichterte die
Maueröffnung die Lage der DDR-Regierung nicht. Nach dem Mauerfall
wichen Hoffnungen auf sozialistische Erneuerung auch angesichts leerer
Kassen einer anderen Hoffnung: der deutschen Einheit als dem
einfachsten Weg zu Demokratie und Marktwirtschaft.
Einheit wurde ab Januar 1990 zum realistischen Ziel. Die dritte
Phase kann als Einigungswelle und Deutschlandangst bezeichnet werden.
Die Situation Anfang 1990 war ambivalent. In der DDR waren sowohl
Parteichef Honecker als auch sein sinistrer Nachfolger Egon Krenz
zurückgetreten. Die Sozialistische Einheitspartei hatte sich in „Partei
des demokratischen Sozialismus“ (PDS) mit ihrem charismatischen
Sprecher Gregor Gysi umbenannt, die Mauer war offen und
Meinungsfreiheit hatte sich rapide ausgebreitet. Aber die SED -PDS
regierte immer noch ohne Legitimation. Und ihr Ministerpräsident Hans
Modrow hatte bei seinen Gesprächen mit Kanzler Kohl in Dresden im
Dezember 1989 nicht über die Vereinigung sprechen wollen. Stattdessen
bot er eine vage Vertragsgemeinschaft als Alternative zu Kohls
Vorschlag einer schrittweisen Entwicklung hin zur Wiedervereinigung an.
Vor dem Hintergrund des Massenexodus nach Westdeutschland und von
Angriffen auf die Gebäude der Staatssicherheit reiste Modrow im Januar
nach Moskau. Gorbatschow erklärte ihm, dass kein prinzipieller Zweifel
an der Vereinigung der Deutschen bestehe. Damit war die Bühne bereitet
für die nachfolgende Reise von Kohl nach Moskau und ihr Ergebnis: das
sowjetische Versprechen, einen gesamtdeutschen Staat zu akzeptieren.
Danach wurde eine ostdeutsche Regierungsdelegation (jetzt
einschließlich der Opposition) bei ihrem Besuch in Bonn am 14. und
15.Februar recht brüsk behandelt. Sie erhielt keine westdeutsche
Wirtschaftshilfe - mit einer gewissen Ausnahme: der Bundeskanzler
präsentierte sein Projekt einer Währungsunion. Es ist nicht
überraschend, dass die ostdeutsche Opposition wie auch ausländische
Beobachter Befürchtungen vor einer „Anschlusspolitik“ und einer
„erzwungenen Vereinigung“ äußerten, während eine große Mehrheit der
Ostdeutschen hoffte, die westdeutsche DM so bald wie möglich zu
bekommen.
In Ottawa wurde auf einer Konferenz von NATO und WTO Ende Februar
empfohlen, „Zwei plus Vier“-Verhandlungen über die äußeren Aspekte der
deutschen Vereinigung zu beginnen. Damit war ein neuer Rahmen für die
Annäherung der DDR mit dem Ziel der Vereinigung geschaffen worden. Der
Wahlkampf für die vorgezogenen Wahlen zur Volkskammer drehte sich
völlig um das Thema „Vereinigung“. Er war ersichtlich polarisiert, vor
allem von Helmut Kohl, der Demokratie und Wohlstand durch Vereinigung
versprach. Das Ergebnis der Märzwahl waren 75 % für die
Vereinigungsparteien CDU, SPD und Liberale - im Unterschied zu 16 % für
die PDS und mageren 4 % für die Grünen, den Unabhängigen Frauenverband
und die Bürgerbewegung zusammen. Dies war ein persönlicher Triumph für
Helmut Kohl - besonders im Süden der DDR und bei Facharbeitern. Die
neue Regierung der DDR verstand. Der neue (und letzte)
Ministerpräsident Lothar de Maiziere sagte: „Die Einheit muss so
schnell wie möglich kommen“.
Prägende Charakteristika der vierten Periode im Sommer 1990 waren
Währungsunion und internationaler Durchbruch. Die Einführung der
westdeutschen DM nach dem 1. Juli machte eine Sonderexistenz der DDR
immer unmöglicher, denn die Währungsunion war auch eine Wirtschafts-
und Sozialunion. Und die war letztlich ohne eine politische Absicherung
sinnlos. Zudem akzeptierte zu diesem Zeitpunkt die sowjetische Führung
bereits die NATO-Mitgliedschaft eines künftigen Gesamtdeutschlands.
Damit war das letzte Hindernis auf internationaler Ebene beseitigt, und
die ostdeutsche Volkskammer konnte am 24. August 1990 den Beitritt zur
Bundesrepublik beschließen.
Der Tag des Beitritts, der 3. Oktober 1990, wurde zum „Tag der
Freude“ für den Bundeskanzler und wohl die meisten Deutschen, des
„Untergangs der DDR“ für einige andere. Diese fünfte Vereinigungsphase,
die Phase von Einigungsverträgen und Beitritt, begann mit der
Wiederherstellung alter Verbindungen zwischen den beiden Teilen
Deutschlands und der Wiedergründung der fünf ostdeutschen Länder. Ein
zentrales Dokument für diese Phase ist der Einigungsvertrag vom 31.
August 1990, der die faktische Unterordnung der DDR unter die
Bundesrepublik festhielt. Gleich wichtig war der "Zwei plus Vier" -
Vertrag vom 12. September 1990, denn er ersetzte einen Friedensvertrag
und gab dem vereinten Deutschland die volle Souveränität. Die fünf
neuen Länder wählten am 14. Oktober 1990 ihre Landtage. Die
Christdemokraten gewannen überall, außer in Brandenburg. Der politische
Prozess der Vereinigung endete mit den gesamtdeutschen Bundestagswahlen
am 2. Dezember 1990. Der Wahlkampf drehte sich um die Vereinigung. Der
sozialdemokratische Kandidat Oskar Lafontaine warnte vor den hohen
Kosten der Einheit und den bevorstehenden sozialen Problemen. Kanzler
Kohl aber war optimistisch und siegte.
Herstellung der inneren Einheit
Die erste Integrationsperiode dauerte von 1991 bis 1995. Die
Standards wurden durch den Beitritt der DDR zur BRD gegeben, d.h. dass
der Westen den Maßstab der Integration setzt und dass die
Verfassungsforderung nach bundeseinheitlichen gleichen
Lebensverhältnissen ernst genommen werden muss. Zunächst ging es um die
Klärung von fünf rechtlichen Fragen, die im hurtigen
Herstellungsprozess der politischen Einheit offen geblieben waren.
(1) Der Bundestag beschloss im Juni 1991, dass Berlin sowohl
Bundeshauptstadt als auch Regierungssitz sein solle, freilich in
gewisser Arbeitsteilung mit Bonn. In der Diskussion argumentierten die
Bonn-Befürworter, dass die kleine, gemütliche, schöne, westliche
Universitätsstadt am Rhein Symbol der Westintegration sei, während die
Unterstützer Berlins auf dessen historische Rolle als Reichshauptstadt
und auf seine aktuelle Bedeutung als Hoffnungssymbol für Ostdeutschland
verwiesen. Berlin gewann die Abstimmung vermutlich aus verschiedenen
Gründen, darunter der Tatsache, dass Berlin und sein Brandenburger Tor
die deutsche Einheit wohl am besten symbolisieren. Die Entschließung
nannte einen Zeitrahmen von vier Jahren für den Umzug. Tatsächlich
dauerte er mehr als doppelt so lange, nämlich praktisch bis zur
Jahrtausendwende.
(2) Ein anderes Problem war die Frage der Abtreibung.
Ostdeutschland besaß eine Fristenregelung für die ersten drei Monate
der Schwangerschaft. In Westdeutschland war die Abtreibung verboten,
allerdings mit der Möglichkeit der medizinischen oder sozialen
Indikation. Der Konflikt wurde durch einen vom Bundesverfassungsgericht
erzwungenen Kompromiss gelöst: Abtreibung war nun illegal, allerdings
auch straflos.
(3) Der Einigungsvertrag hatte die Frage nach einer neuen
Verfassung offen gelassen. Mit nur wenigen Veränderungen blieb das
westdeutsche Grundgesetz die Verfassung des vereinten Deutschland.
(4) Neue Institutionen entstanden, die vor allem für die fünf neuen
Länder wichtig waren. Eine davon war die Treuhandanstalt. Ihre riesige
Aufgabe war die Überführung des Volkseigentums der DDR in Privatbesitz.
(5) Die zweite neue Einrichtung wurde zunächst Gauck-Behörde nach
ihrem ersten Leiter, dann Birthler-Behörde (nach seiner Nachfolgerin)
genannt. Sie ist das Amt für die Unterlagen des Ministeriums für
Staatssicherheit, das gleichzeitig Geheimpolizei und Nachrichtendienst
war.
Insgesamt war diese erste Phase durch gewaltige finanzielle
Transfers vom Bund nach Ostdeutschland charakterisiert (bis heute mehr
als 100 Milliarden DM bzw. 50 Milliarden € jährlich, je nach
Berechnungsweise, geplant sind weitere 156 Milliarden € aus dem
Solidarpakt II bis zum Jahr 2019. Eine Folge war die gründliche
Modernisierung der ostdeutschen Infrastruktur von Autobahnen,
Schienenwegen, Telekommunikation bis hin zur gesamten Lebensweise. In
dieser Phase geschah auch eine fast vollständige De Industrialisierung
Ostdeutschlands, die Abwicklung nicht nur von Institutionen wie dem
Auswärtigen Amt, dem Sicherheitsdienst und der Armee, sondern auch von
wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und wissenschaftlichen
Einrichtungen. Begleitet wurde all dies von der Erfahrung schnell
wachsender Arbeitslosigkeit. Zu Reise- und Konsumfreiheit gesellte sich
eine massive Entwertung von Qualifikationen und Erfahrungen.
Die zweite Integrationsphase begann 1996 und ist anscheinend noch
nicht beendigt. In dieser Phase wurden keine neuen rechtlichen
Innovationen gestartet. Die Treuhandanstalt hatte ihre Arbeit 1994 mit
dem gigantischen Defizit von 256 Milliarden DM beendet. Die Behörde für
die Unterlagen des Staatssicherdienstes hat nunmehr ihre Aufgaben bei
der Säuberung des ostdeutschen öffentlichen Dienstes und für die
Strafverfolgung der DDR-Führung erfüllt. Sie stellt jetzt immer noch
Informationen für Bürger über ihre Akten bereit; ansonsten dient sie
der öffentlichen Information und zunehmend der historischen Forschung.
Der Modernisierungsprozess setzte sich fort, allerdings mit weniger
Überraschungen. Die Integration in die demokratische und
kapitalistische Gesellschaft änderte sich in dem Maß, in dem neue
Generationen mit der sozialen und kulturellen Realität
Gesamtdeutschlands konfrontiert waren. Unterschiede zwischen Ost und
West werden besonders im Osten jetzt eher als Probleme sozialer
Ungleichheit und Ungerechtigkeit wahrgenommen.
Die Mehrheit in Ostdeutschland hatte 1994 die Wiederwahl Kanzler
Kohls unterstützt. 1998 war sie enttäuscht genug, um dem Rest des
Landes bei der Umorientierung zu einem rot-grünen Bündnis unter Gerhard
Schröder(SPD) und Joschka Fischer(Grüne) zu folgen. Ähnliches gilt für
die Bundestagswahl 2002 unter dem Eindruck von ostdeutscher
Flutkatastrophe und Irak-Krieg (vgl. Konrad-Adenauer-Stiftung 2005).
Die Integrationsergebnisse auf den vier Gebieten Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Kultur waren folgende:
Im Blick auf die Wirtschaft kann man sagen, dass sich die
westdeutsche Wirtschaft strukturell "nur" globalisierungsbedingt
verändert hat, während die ostdeutsche Wirtschaft völlig transformiert
wurde. Eine staatliche Planwirtschaft wurde zum Bestandteil der
kapitalistischen Marktwirtschaft der BRD und der EU. Die Dominanz des
Privateigentums ist klar. Und man sollte hinzufügen, nicht nur des
Privateigentums an sich, sondern des westlichen Privateigentums. Den
meisten Quellen zufolge besitzen Ostdeutsche nur 6 % der privatisierten
Unternehmen. 9 % der von der Treuhandanstalt verkauften Firmen gingen
an ausländische Käufer und 85 % an Westdeutsche.
Die Ostdeutschen holten dennoch in mancher Hinsicht auf. Das
Bruttoeinkommen und die Produktivität in Ostdeutschland liegen bei etwa
75%, gemessen am Westteil des Landes. Ausgabenstruktur und Konsumption
sind nahezu gleich. Während 1989 nur 17% der ostdeutschen Haushalte ein
Telefon hatten, waren es 1997 schon 94% verglichen mit 97% in
Westdeutschland, fast ein Gleichstand. Ähnliches kann gesagt werden
über Farbfernseher, Videorekorder, Waschmaschinen usw.
Das wichtigste Problem der ostdeutschen Wirtschaft ist die
Arbeitslosigkeit. Die Arbeitslosigkeit stieg ständig von 10.3% im Jahre
1991 (verglichen mit 6.3% im Westen ) bis auf 19.5% 1998 (10.5% im
Westen). 2004 lag sie bei 17,5% (8.2 im Westen).
Ein strukturelles Kennzeichen der ostdeutschen Wirtschaft ist die
„branch plant economy“. D.h., dass Unternehmen nur Komponenten
produzieren und nicht über Investitionen, Kontrolle, Marketing und
Verteilung entscheiden. Wenn man sich ostdeutsche Betriebe mit mehr als
1000 Beschäftigten anschaut, dann sieht man nur eine Firma, die alle
unternehmerischen Funktionen kombiniert (vgl. Roesler). Das "Deutsche
Institut für Wirtschaftsforschung" bilanzierte 2005, dass das
Einkommensgefälle zwischen beiden Landesteilen wieder zugenommen habe
(vgl. "Neues Deutschland" vom 14./15. Mai 2005).
Ähnliche Beobachtungen kann man auf dem Gebiet der Gesellschaft
machen. Während die hochdifferenzierte westdeutsche Gesellschaft sich
strukturell wenig änderte, wurde die ostdeutsche Sozialstruktur
komplett umgebildet. 1989 gab es fast 10 Millionen Berufstätige in der
DDR, heute liegt die Zahl bei etwa 5 1/2 Millionen. Zwei typische
Sozialschichten der DDR verschwanden fast vollständig, nämlich die
Machtelite und die „sozialistische Dienstklasse“ (nach Rainer Geißler
ungefähr 300 000 Menschen, vgl. Geißler 1999, Ohse 2004). Rentner
erfuhren eine deutlich spürbare Verbesserung ihres Lebensstandards.
Wegen der Vollbeschäftigung in der DDR beziehen sie durchschnittlich
höhere Ruhestandsbezüge als westdeutsche Senioren. Die Einkommen von
Arbeitern und Angestellten waren schon 1997 so differenziert wie im
Westen. Die Beschäftigungsstruktur wandelte sich ebenfalls in Richtung
„Modell Bundesrepublik“. Die Zahl der in der Landwirtschaft
Beschäftigten fiel dramatisch von 11% im Jahre 1989 auf 4.1% bereits im
Jahre 1992. Und schon 1997 befand sich der Anteil des
Dienstsleistungssektors in beiden Teilen Deutschlands bei 62.8%.
Es gibt fünf Problemgruppen in Ostdeutschland: Erstens Frauen. Sie
waren in der DDR fast alle berufstätig. Jetzt ist ihr Anteil an den
Arbeitslosen regional unterschiedlich um 40 bis 100% höher als bei
Männern. Zweitens traf es Menschen mit geringer Ausbildung besonders
hart. Das gleiche kann drittens über Personen gesagt werden, die im
Bereich der Landwirtschaft beschäftigt waren. Eine vierte Problemgruppe
waren diejenigen, die 1989 zwischen 45 und 55 Jahre alt waren. Sie
waren zu jung für die erhöhten Pensionen und zu alt für den Wettbewerb
um die sehr seltenen neuen Jobs. Fünftens entstand neue Armut in
Ostdeutschland bei Langzeitarbeitslosen, alleinstehenden Müttern und
Familien mit mehr als drei Kindern.
Der Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen
Einheit ergab auch 2005, dass für "viele Menschen in Ostdeutschland ...
das Gefühl der sozialen Sicherheit verloren gegangen" sei
(Bundestagspräsident Thierse, nach "Neues Deutschland" vom
19./20..2005). Soziologen sprechen von „Anomie“ (Emile Durkheim) als
Konsequenz radikaler sozialer Umbrüche.
Im Bereich der Politik vollzog sich die Integration reibungslos,
zumindest soweit es um die Gründung politischer Institutionen ging. Die
fünf östlichen Länder waren bereits 1990 wiedergegündet worden.
Gleichzeitig war der Ostteil des Stadtstaats Berlin mit der westlichen
Stadthälfte wiedervereinigt worden. Die Etablierung
parlamentarisch-demokratischer Institutionen wurde während der frühen
90er Jahre abgeschlossen mit starker Unterstützung von westdeutschen
„Paten“-Bundesländern für ihre ostdeutschen „Klienten“ wie Hessen und
Thüringen, NRW und Brandenburg usw. (vgl. Thumfarth).
Die Situation war bei den politischen Parteien komplizierter. In
Westdeutschland existierte seit den 80ern ein Vierparteiensystem aus
den Volksparteien CDU und SPD sowie zwei kleineren Parteien, der
liberalen FDP und den Grünen. Nach 1990 war die CDU in Ostdeutschland
eine Fortsetzung der „Blockparteien“ CDU und DBD. Die Sozialdemokraten
formierten sich dort 1989 wieder. Obwohl sie zunächst in Wahlen relativ
gut abschnitten, haben sie eine recht geringe Mitgliederzahl
(ca.30000). Die FDP in Ostdeutschland ist eine Kombination der
Blockparteien LDP und NDPD mit einigen liberalen Bürgerrechtlern. Die
Grünen schlossen sich 1992 mit Bürgerrechtlern zusammen und nannten
sich in „Bündnis 90 / Die Grünen“ um. Gleichwohl haben sie nur rund
3000 Mitglieder im Osten und sind dort parlamentarisch nicht vertreten,
außer in Berlin und Sachsen. Gegenwärtig wird ein ostdeutsches Land von
der CDU regiert (Thüringen), eins "schwarz-gelb" (CDU/FDP,
Sachsen-Anhalt), zwei von einer Großen Koalition aus SPD und CDU
(Brandenburg, Sachsen), während Mecklenburg-Vorpommern und Berlin
„rot-rote“ Regierungen haben, d.h. Koalitionen von SPD und PDS.
Die PDS ist ein dezidiert ostdeutsches Phänomen. Ob das nach ihrer
Umbenennung in "Linkspartei" und dem Bündnis mit der vorwiegend
westdeutschen Wahlalternative "Arbeit und soziale Gerechtigkeit" (2005)
so bleibt, ist abzuwarten. Ihre Wähler im Westen sind weniger als 2
oder 3%. Sie ist offizielle Nachfolgerin der kommunistischen
Staatspartei SED. Sie beansprucht, völlig mit dem Stalinismus gebrochen
zu haben, eine demokratisch-sozialistische Gesellschaft anzustreben und
besonders ostdeutsche Interessen zu repräsentieren. Sie ist die einzige
deutsche Partei, die gegen die militärischen Eingriffe in Serbien und
Afghanistan opponierte. Ihre Mitgliedschaft ist von 2.3 Millionen 1989
auf ca. 65000 zurückgegangen. Ihr Anteil an ostdeutschen Stimmen zum
Bundestag stieg indes von 11,1 % 1990 auf 19.8 % 1994 und 21,7 % 1998.
2002 erreichte die PDS nur 16.0 % in Ostdeutschland und 4 % in
Gesamtdeutschland, so dass sie keine Fraktion mehr im Bundestag
besitzt. Erfolge bei ostdeutschen Landtagswahlen können nicht übersehen
werden: 22,2 % in Sachsen 1999 und 47.6 % in Ost-Berlin 2001. Bei den
Europawahlen 2004 errang sie in Brandenburg 30,9 %.
Kultur
Während der vierzigjährigen Teilung wurde Kultur von vielen als
einigendes Band betrachtet. Dies war sicher richtig, soweit es um
Sprache und kulturelles Erbe geht. Zudem hatte die alte Bundesrepublik
seit den 70er Jahren ein Bedürfnis nach „Kultur für alle“ (Hilmar
Hoffmann) entwickelt, während die kommunistische Zielkultur der DDR
starke egalitäre Züge hatte. Jetzt ist die Kultur Ostdeutschlands
westlich geprägt. D.h. dass kommunistische Regionalzeitungen von
Westverlagen übernommen worden und dass im dualen System sowohl
öffentliche wie private Betreiber Fernsehen und Rundfunk anbieten. Die
Theater sind jetzt frei zu spielen, was sie wollen, aber sie können den
Schauspielern nur befristete Verträge geben. In Kunst und Literatur gab
es eine heiße Diskussion darüber, ob die DDR-Literatur Stasi-gesteuert
und zudem überschätzt worden war (vgl. Böthig/Michael 1993, Gransow
1994). Insgesamt schienen die Voraussetzungen für die kulturelle
Integration günstig.
Tatsächlich ist die kulturelle Assimilation indes differenziert.
Ostdeutsche Traditionen erweisen sich als hartnäckig; auch entstehen
dort eigenständige Kulturformen. Dies kann in vier Feldern belegt
werden. Bei den Werten dominiert in Ostdeutschland „Gleichheit“,
während Westdeutsche „Freiheit“ präferieren. In nahezu allen Bereichen
des Alltagslebens gibt es signifikante Unterschiede, vom
Sexualverhalten bis zur Wohnungseinrichtung. Zeichen und Symbole sind
jeweils anders. Im Osten sind alte DDR-Fernsehserien populär, und viele
Ostdeutsche bestehen auf ihren Ampelmännchen und dem „grünen Pfeil“ zur
Verkehrsverflüssigung. Ob es ein Flirt ist oder eine
Geschäftsverhandlung, Kommunikation zwischen Ost und West ist voller
Missverständnisse. Es gibt inzwischen Ratgeberbücher, um das
„Kommunikationsdilemma“ zu überwinden (vgl. Klein, Mühlberg). In Polen
wurde inzwischen sogar von ernst zu nehmenden Wissenschaftlern gefragt,
ob die Ostdeutschen im vereinten Deutschland eine ethnische Minderheit
darstellen (vgl. Erbe). Möglicherweise liegen kulturelle Chancen eher
in der Herstellung einer deutsch-europäischen "Hybridkultur" (vgl.
Tschernokoshewa / Kramer).
In einer Reportage aus dem Jahre 2005 schreibt Richard Bernstein
für die "New York Times" über ostdeutsche weibliche Jugendliche heute:
"In many ways, their lives are quite similar to those of middle-class
young people from the former West Germany or even the United States".
Er fährt allerdings fort: "But even at this early age, the girls have
inherited the rituals and habits of mind, in altered form, of the East
Germany that was dying when they were born" ("The New York Times.
Articles selected for Süddeutsche Zeitung", 25.April 2005).
Vergangenheitsbewältigung
Vier Beispiele für die Bewältigung der ostdeutschen Vergangenheit
durch gesamtdeutsche Institutionen sind die Prozesse wegen
DDR-Regierungskriminalität, die Disqualifizierung von
Verwaltungspersonal wegen Zusammenarbeit mit der Geheimpolizei, eine
parlamentarische Enquete-Kommission und die Rückgabe von
Privateigentum.
Laut Generalstaatsanwalt Christoph Schaefgen, bis 1999 zuständig
für DDR-Regierungskriminalität, wurden über 65 000 Ermittlungsverfahren
eingeleitet. Sie führten zu in 800 Fällen zu Prozessen. 400 Menschen
bekamen Gefängnisstrafen, davon 200 auf Bewährung. Dies kann wohl kaum
„Siegerjustiz“ genannt werden - auch wenn die Sonderstaatsanwaltschaft
ausschließlich aus Westdeutschen bestand. Etwas anders war es bei den
Prozessen wegen der Todesschüsse an der innerdeutschen Grenze. Diese
Prozesse begannen mit Anklagen gegen einzelne Grenzschützer und endeten
„ganz oben“, beim „Politbüro-Prozeß“, der schließlich mit der
Verurteilung der drei SED-Führer Krenz, Kleiber und Schabowski am 25.
August 1997 endete. Für James McAdams “this particular prosecution was
grounded on the dubious proposition that the accused were guilty not
for what they had done but for what they had failed to do: to humanize
the GDR border regime” (McAdams, S. 52).
Ein zweites Phänomen war die Entlassung aus dem öffentlichen
Dienst. Polizisten, Lehrer und andere öffentliche Angestellte wurden
entlassen, nachdem ihre Tätigkeit als Informanten des Ministeriums für
Staatssicherheit bekannt geworden war. Manche Quellen nennen als
Gesamtzahl 500 000 Personen. Doch diese Zahl scheint Stasi-bedingte
Entlassungen mit der Restrukturierung des öffentlichen Dienstes
insgesamt zu vermischen. Tatsächlich dürften es nicht mehr als 54 000
Menschen gewesen sein. Und in zahlreichen Fällen revidierten
Arbeitsgerichte solche Entlassungen. Manchmal bekommt man den Eindruck,
dass durch solche Vorgänge die Stasi wichtiger gemacht wird als sie in
Wirklichkeit war. Der Historiker Lutz Niethammer hatte die DDR als
„Sozial- und Polizeistaat“ bezeichnet, für den die Stasi nur
„notwendige Randbedingung“ gewesen sei. Diese Behauptung wurde
besonders von der Forschungsabteilung der Birthler-Behörde angegriffen,
ohne wirklich widerlegt werden zu können.
Mithin sah sich die Bundesrepublik vor der Herausforderung, ein
angemessenes Instrument zur Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit zu
finden. Daher schuf der Bundestag so etwas wie eine deutsche
„Wahrheits-Kommission“, nämlich die Enquete-Kommission zur
„Aufarbeitung der SED-Diktatur“, die von 1992 bis 1998 tätig war. Ihr
achtzehnbändiger Bericht war teilweise kontrovers. Allgemein wurde die
Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft in der DDR als
Unterordnungsverhältnis beschrieben. Um noch einmal James Mc Adams zu
zitieren: Es gab “no doubt, much of the attractiveness of this
position, both for the former dissidents on the commission and for the
western representatives of the major parties, lay in the need they all
felt to combat the electoral advances of the reform communist PDS in
the East” (McAdams 2001,S.113). Die Arbeit der Kommission führte 1998
zur Gründung einer Stiftung für die Aufarbeitung der SED-Diktatur, die
besonders für Aufarbeitungsprojekte und Opferverbände zuständig ist -
sicherlich eine interessante Ergänzung der schon beschlossenen Gesetze
zu Rehabilitierung und Wiedergutmachung. Trotzdem sind die
Opferverbände nach wie vor unzufrieden.
Der vierte Typ retrospektiver Gerechtigkeitspflege ist das
vielleicht noch umstrittenere Gebiet der Vermögensrückgabe. Dies war
der Versuch, Millionen Eigentumsfälle zu lösen, in denen es um Rückgabe
oder Entschädigung für seinerzeit enteignete Firmen oder Immobilien
ging - Priorität hatte die Rückgabe. In den 90er Jahren wurden nahezu
82% von 2.8 Millionen individuellen Entschädigungsansprüchen geregelt.
Oft waren die ursprünglichen Besitzer oder ihre Erben nunmehr
Westdeutsche. In manchen Fällen wurde die Entschädigung schwierig, weil
die Besitzer ihr Eigentum durch nationalsozialistische „Arisierung“
erhalten hatten. Aber man sollte auch bedenken, dass die großen
Enteignungen aus der sowjetischen Besatzungszeit von 1945 bis 1949
ausgenommen waren. Ein Grund hierfür war, dass die frei gewählte
DDR-Regierung von 1990 sich dazu verpflichtet fühlte, Wunden zu heilen
und den sozialen Frieden zu fördern.
Resümee und Perspektiven
Entwicklungsphasen sind erstens die Phase der „DDR-Auflösung und
Schaffung der staatlichen Einheit“ von 1989 bis 1990. Zweitens gab es
eine Phase der „Modernisierung und institutionellen Integration“ von
1990 bis 1995, der eine weitere - allerdings stockende -
Integrationsphase von 1996 bis heute folgte. Dabei fällt auf, dass sich
zunächst Zeithorizonte extrem verkürzten, während sie sich nunmehr fast
ins Unendliche zu verlängern scheinen.
Insgesamt ist die Herstellung der inneren Einheit nicht ohne
Erfolge. Ostdeutsche Wirtschaft und Gesellschaft hatten allerdings mit
De Industrialisierung und Arbeitslosigkeit einen gewaltigen Preis für
die politisch-kulturelle Teilintegration zu zahlen. Westdeutschland
kämpft weit länger als erwartet mit den unerwartet großen und dauernden
Transferzahlungen. Offen ist, inwieweit die Linkspartei/PDS nicht nur
integriert wird, sondern selbst einen Integrationsfaktor ins
parlamentarisch-demokratische System darstellt. Kulturell sollten die
existierenden Differenzen zwischen beiden Landesteilen zum
Ausgangspunkt eines Dialogs auch über die Europäische Union und
entstehende Hybridkulturen werden.
Die Ausgangsthese hat sich bestätigt. Die Schnelligkeit der
deutschen Vereinigung mit ihren Irrtümern und Fehlern war Voraussetzung
für die Langsamkeit der inneren Einheit.
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