Text | Kulturation 2019 | Dieter Kramer | Zerbrechende Gesellschaften und Verflechtungen sozialkultureller Milieus
| Ein Essay, angeregt durch Andreas Reckwitz und Didier Eribon
Übersicht
1. Auseinanderdriftende Gesellschaft und kulturelle Milieus
2. Andreas Reckwitz und die „kulturtheoretische Perspektive der Moderne“
3. Bildungsgraben und Milieubegegnungen
4. Verflechtungen als Voraussetzung der Demokratie: Honneth, Münkler
5. Ebenen kultureller Verflechtungen
6. Gemeinnutzen und Stein´sche Reformen im frühen 19. Jahrhundert
7. Kultur für alle als Grundrecht und Gemeingut in der sozialen Demokratie
Vorbemerkung
Die
„Trennung von Natur-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften“ beklagt
Ulrich Roos, wenn es um existenzielle Fragen der Krise der
Wachstumsgesellschaft geht. Und er meint, „um die Welt zu begreifen…
bedarf es daher eines Verständnisses der wesentlichen physikalischen,
chemischen, biologischen, ökonomischen und politischen Mechanismen“
(Roos 2019: 52). Kulturelle Dimensionen sind hier wie auch bei Harald
Welzer (2019) und bei Ralf Fücks (2013) nicht einbezogen. Sie sind aber
möglicherweise entscheidend. Viele denken bei Kultur immer nur an
Künste und die Institutionen, in denen diese gepflegt werden (zur
Kultur gehen: wenn meine Mutter Ende der 1940er Jahre in die Kultur
ging, dann waren das im Taunus Forstkulturen, in denen Bäumchen gesetzt
wurden). Dass es bei Kultur auch um die verhaltensleitenden Werte und
Standards des gemeinschaftlichen Lebens geht (wie in dem von der
Ethnologie beeinflussten Kulturbegriff der UNESCO), wird dabei gern
vernachlässigt.
Zukunft ist ein kulturelles Programm,
argumentierte der 2018 verstorbene ehemalige Kulturdezernent von
Frankfurt am Main, Hilmar Hoffmann. (1997) Er betonte, dass technische
und ökonomische Strategien allein keine Lösung für die
Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft liefern. Entscheidend
dafür, wie Menschen mit ihren Ressourcen und Möglichkeiten umgehen,
sind die von ihnen angestrebten Standards des „guten und richtigen
Lebens“ und die sozialregulativen Ideen dafür.
Ulrich Roos
fordert 2019 eine überzeugende und zukunftsfähige
gesellschaftspolitische Perspektive und eine „attraktive, unmittelbar
eingängige und emotional berührende neue große Erzählung“, die „zum
Handeln motiviert und Mut macht.“ (Roos 2019:50) Aber kann die
entstehen ohne die kulturelle (wertebezogene) Verständigung darüber,
wie die Menschen leben wollen?
1. Auseinanderdriftende Gesellschaft und kulturelle Milieus
Der
vieldiskutierte französische Autor Didier Eribon versucht, für die
Gegenwart sozialkulturellen Prozessen Konturen zu geben. Er konstruiert
dazu einen Milieudeterminismus: Die „Gesellschaft als Urteil“
„definiert, was die Individuen sind und werden“ (Eribon 2017: 31)
Der
plakativ-programmatische Milieudeterminismus von Eribon berücksichtigt
die wechselseitigen Verflechtungen der (sozial-)kulturellen Milieus
nicht. Sie sind jedoch für den Zustand und den Zusammenhalt von
Gesellschaften entscheidend, und zwar nicht nur bei den üblichen
Konzepten zur harmonisch integrierten Gesellschaft, sondern ebenso für
eine Gesellschaft, in der scheinbar unversöhnliche Gegensätze
aufeinanderprallen. Denn auch dabei geht es darum, das Werte-Fundament
des Zusammenlebens nicht zu vergessen: Konfliktlösungen in
Klassenkämpfen oder Bürgerkriegen können nur produktiv bearbeitet
werden, wenn die Perspektive eines gemeinsamen Lebens auf einem allen
gehörenden Territorium nicht aus den Augen verloren wird. Diese Ebene
wird auf globaler Ebene mit dem Brundtland-Bericht „Unsere gemeinsame
Zukunft“ (Hauff 1987) ebenso angesprochen wie mit dem Manifest „Brücken
in die Zukunft“ (2001), das UN-Generasekretär Kofi Annann herausgegeben
hat. Die katholische Laienorganisation St. Egidio Trastevere (Rom) geht
bei ihren Versuchen, Frieden in Bürgerkriegen möglich zu machen,
ebenfalls von solchen Überlegungen aus (Versöhnung 2005:
http://www.santegidio )
Die Verflechtungen der Milieus werden
in den Sozial- und Kulturwissenschaften selten in ihrer Bedeutung
thematisiert. In der aktuellen Krise der Demokratie mit der wachsenden
Kluft zwischen Arm und Reich und all den auseinanderdriftenden
Lebenswelten kann es hilfreich sein, an die Bedeutung dieser
Verflechtungen zu erinnern und damit Handlungsspielräume zu
erschließen. Zu begreifen, dass man mit anderen gemeinsam auf einem
Territorium lebt, ist die erste Voraussetzung dafür, eine Gemeinschaft
(einen Staat, eine Gebietskörperschaft oder ein Milieu) als
zusammengehörende Einheit zu verstehen. Verbindende Werte und geteilte
Wissensbestände sind weitere Voraussetzungen. Aber erst in der
Alltagspraxis der sozialkulturellen Verflechtungen entstehen daraus
mehr oder weniger wirkungsvolle Vorstellungen einer gemeinsamen
Verantwortung, und aus ihnen kann dann Solidarität entstehen. Je
stärker Milieus sich voneinander abschotten, desto geringer ist die
Chance dazu.
Didier Eribon, mit seinen beiden ins Deutsche
übertragenen Büchern erstaunlich intensiv wahrgenommenen, regt dazu an,
über den von ihm unterstellten Milieudeterminismus nachzudenken. Er
behauptet, „dass die Gesellschaft uns Plätze zuweist und uns keine
Chance gibt, diese zu verlassen. Sie errichtet Grenzen und bringt
Individuen und Gruppen in eine hierarchische Ordnung“. So verkürzt ein
Werbetext für das Buch. Ein „Gesetz der familiären Vererbung“ im Milieu
(Eribon 2017: 30) bestimmt den Platz der Individuen (ebd. 31): Dies zu
behaupten unterscheidet sich kaum von der These eines genetischen Erbes
(ebd. 35). Es ist eine mechanistische These, die so viel von dem
ausklammert, was im realen Alltagsleben eine Rolle spielt.
Kulturwissenschaft
muss Bedenken anmelden, wenn Eribon von sozialen Automatismen (Eribon
2016: 81) und „statistische(m) Schicksal“ oder „gesellschaftlicher
Schicksalshaftigkeit“ (ebd. 107) spricht. Wie bei manchen Vertretern
der materialistischen Geschichtsauffassung werden so beobachtbare
Trends zu „sozialen Gesetzmäßigkeiten“ (ebd.), tendenziell sogar zu
unentrinnbaren Käfigen (Eribon selbst aber ist die Flucht daraus
gelungen).
Mit dieser Schuldzuweisung an das Milieu wird
das Interpretationsmuster von Eribon in aktuellen Diskussionen und
Publikationen gern aufgegriffen. Aber Édouard Louis z. B. bezieht sich
in seiner „Milieu-Ethnografie“ der „Arbeiterklasse“ unter dem Titel
„Wer hat meinen Vater umgebracht?“ zu Unrecht darauf, denn das Elend
seines Vaters ist nicht dem Milieu geschuldet, sondern einer realen
historischen Situation, in der die öffentliche Infrastruktur und die
materiellen Ressourcen der Individuen durch die Sozialpolitik zerstört
wurden und die Fähigkeit der Selbstorganisation im Milieu abhanden kam.
(Schellbach 2018: 27)
Anni Ernaux (2017) wird von Eribon
wiederum gern zitiert. Aber die Beschreibung ihres Werdegangs als
Aufsteigerin aus dem ärmlichen Provinzmilieu der Normandie ist eine
konkrete Geschichte mit dem Hintergrund starker gesellschaftlicher
Wandlungen seit den 1950er Jahren. „Die Gesellschaft bekam einen neuen
Namen, sie hieß jetzt ‚Konsum-Gesellschaft‘. […] Die Zeichen der Zeit
standen auf Geldausgeben, und so schaffte man sich unermüdlich
Gebrauchsgegenstände und Luxusgüter an. Man kaufte eine Kühl- und
Gefrierschrank-Kombination, einen Renault 5, […] man erwarb einen
Farbfernseher. Bunt war die Welt viel schöner [...]. Die Werbung
zeigte, wie man zu leben, sich zu verhalten und seine Wohnung
einzurichten hatte, sie war die Kulturanimateurin der Nation.“
(Wikipedia 2019) Ihre „unpersönliche Autobiografie“ ist kein
„gemütliches Nostalgie-Buch, sondern eine vielstimmige, stets
provozierende Aufforderung zur Selbstbesinnung in einer immer
unübersichtlicher werdenden Welt. Dazu gehört auch der Blick auf die
mittelständische Vorstadt vierzig Kilometer vor Paris, wo sie seit
Jahrzehnten lebt; oder die Beschreibung der Desillusionierung, die sie
als überzeugte Sozialistin seit Beginn der Mitterrand-Präsidentschaft
durchleiden musste.“ (ebd.)
Auch Daniela Dröscher (Schäfer
2018: 16) kann sich nur oberflächlich auf den von Eribon behaupteten
Milieudeteriminismus beziehen, wenn es um die Probleme des Aufstiegs in
die Bildungswelt geht: Was ihr an Schwierigkeiten dabei begegnet ist,
ist seit den 1950er Jahren vielen, die erfolgreich aus
nichtbildungsbürgerlichem Milieu in die Bildungswelt aufstiegen,
zugestoßen. Es wurde einst unter dem Stichwort „Uni Angst und Uni
Bluff“ dargestellt mit dem Hinweis, dass es an der Universität zu den
wichtigsten Eigenschaften der „Elite“ gehört, den Eindruck der
Überlegenheit zu erwecken. Viele, so auch ich, können sich in den
Interpretationen von Eribon überhaupt nicht wiederentdecken – sie
empfinden auch keine Scham wegen ihrer Herkunft, selbst wenn sie nicht
immer stolz darauf sind.
Ähnlich ist es auch bei Francesca
Melandri (2018) und ihrem (mit Recherche gestützten) Roman zu Südtirol:
Der Lebensweg, den sie schildert, ist trotz der Auseinandersetzungen um
das Südtiroler Autonomiestatut (1972) geprägt von der Phase des
italienischen „Miracolo economico“ und durch den Tourismus, der ab 1947
und erst recht mit der Brenner Autobahn, seit den 1960er Jahren
Wohlstand in das Land bringt (Heiss 201: 91).
Seit den
1950er Jahren konnten viele diesen Weg des sozialen Aufstiegs gehen,
weil das Milieu eben nicht das Schicksal, der Käfig war, aus dem es
kein Entrinnen gab. Heute ist dieses Fenster der Veränderung wieder
viel stärker geschlossen, aber das muss nicht so bleiben. Es ist keine
Großmut, keine Gnade, wenn Bildungschancen breit eröffnet werden,
sondern es wird als eine ökonomisch, zudem gesellschaftspolitisch
lohnende Investition begriffen, weil damit Vielfalt gesichert wird.
2. Andreas Reckwitz und eine „kulturtheoretische Perspektive der Moderne“
Der
zitierte Didier Eribon ist kein Soziologe, auch wenn er immer wieder
als solcher bezeichnet wird. Er arbeitet weder mit soziologischer noch
mit kulturwissenschaftlicher oder ethnologischer Empirie. Mit einem
bescheidenen subjektiven Erfahrungshintergrund entwickelt er seine
Ideen. Lothar Peter (2017) hat gezeigt, wie wenig die Thesen von Eribon
die Veränderungen der Klassenverhältnisse und sozialen Schichtung im
Frankreich dieser Zeit berücksichtigen. Soziologie kann mit ihren
zahlreichen Schwerpunkten und Methoden viel mehr leisten als nur solche
spekulativen Ableitungen. Von qualitativer Soziologie,
Kultursoziologie, Cultural Studies und Postcolonial Studies hätte auch
Eribon sich zu überzeugenderen Aussagen inspirieren lassen können,
ebenso von Forschungen zu sozialen Systemen. (Moebius 2012)
Interessanter
als die Unterstellung von Milieu-Determinanten sind kulturtheoretische
Überlegungen. E.P.Thompson hat eine kulturwissenschaftliche Perspektive
des Zuganges zur Sozialgeschichte eröffnet, mit der Klassen-,
Schichten- und Milieuspezifik ohne Schematismen interpretiert werden
können (Thompson 1980). In der DDR-Kulturwissenschaft wurde ein solcher
Zugang beispielhaft in der Auseinandersetzung mit Freizeit und
Alltagskultur entwickelt (Dietrich 2018: 1150, 1229 f.)
Andreas
Reckwitz versucht einen kultursoziologisch inspirierten philosophischen
Zugang zu gesellschaftlichen Prozessen der „Spätmoderne“. Er fragt
danach, wie diese „Gesellschaft der Singularitäten“ zusammengehalten
werden kann. Wie wenig das Bild von einem Milieudeterminismus dabei
tragfähig ist, wird durch seinen Hinweis auf Kontingenz deutlich. Gegen
die Narrative der „homogenen Moderne“ und der „Disziplinierung“ ist er
bestrebt, „einen anderen Befund zu demonstrieren und im Detail zu
erläutern: Die Moderne produziert keine eindeutige, homogene
Subjektstruktur, sie liefert vielmehr ein Feld der Auseinandersetzung
um kulturelle Differenzen bezüglich dessen, was das Subjekt ist und wie
es sich formen kann“ (Reckwitz 2018: 15). Sie gibt dem Subjekt keine
definite Form, sondern gesteht Kontingenz zu und bezieht Prozessualität
ein. Es gibt „drei differente, miteinander konfligierende Ordnungen des Subjekts innerhalb der Moderne: die bürgerliche Moderne des 18. und 19. Jahrhunderts versucht die Form des moralisch-souveränen, respektablen Subjekts verbindlich zu machen; die organisierte Moderne der 1920er bis 1970er Jahre produziert als Normalform das extrovertierte Angestelltensubjekt; die Postmoderne von den 1980er Jahren bis zur Gegenwart entwickelt das Modell einer kreativ-konsumtorischen Subjektivität“
(ebd.), kurz: Es ist der Weg vom Charakter über die Persönlichkeit zum
Selbst. Dabei folgen „alle Subjektkulturen … einer kulturellen Logik der Hybridität“ :
(ebd: 19) Die Überlegungen von Reckwitz unterstellen in der
„Gesellschaft der Singularitäten“ die eigene Aktivität der Individuen
in ergebnisoffenen Prozessen und stehen damit im Gegensatz zu allen
milieu- und sozialdeterministischen Grundmustern oder
Gesetzmäßigkeiten, ebenbso zu den „Modalpersonen“ der Ethnologie oder
den ökonomistischen Mustern im historischen Materialismus, aber auch zu
konkurrierend angebotenen religiösen und aufklärungsphilosophischen
Mustern, erst recht zu dem behaupteten Käfig des „Lebens in
überlieferten Ordnungen“, von dem der Wiener Volkskundler Leopold
Schmidt (1949) spricht.
Reckwitz entwickelt eine „im
weitesten Sinne kulturtheoretische Perspektive der Moderne“, die
anknüpft an Weber, Nietzsche, Foucault und andere, nicht aber an das
„Primat der formalen Strukturen politischer, ökonomischer, klassischer
gesellschaftstheoretischer Theorien.“ (Reckwitz 2010: 23) Verstanden
wird die „Moderne“ „als Netz von Kulturkonflikten und hybriden
Mischungen.“ Und: „Gegen das Primat der formalen Strukturen gilt aus
kulturtheoretischer Sicht nicht nur für die sogenannten traditionalen,
sondern auch für die modernen Gesellschaften des Westens, dass ihre
besonderen sozialen Praktiken sich als Produkte hochspezifischer,
partikularer Sinnmuster, von lokalhistorischen kulturellen Codes
darstellen“ (ebd. 23/24).
In dem Buch „Die Gesellschaft der
Singularitäten“ (Reckwitz 2017) geht es um die „konflikthafte
Drei-Drittel-Gesellschaft“. Die „Einzigartigkeit“ ist in dieser
Gesellschaft der Singularitäten „paradoxe gesellschaftliche Erwartung“
(ebd. 9). Nur marginal wird auf „Triebkräfte“ hingewiesen: „Die
Ökonomie hat zweifellos eine gesellschaftliche Schrittmacherfunktion,
aber die Umdeklinierung vom Allgemeinen zum Besonderen findet längst
auch in anderen Bereichen statt, etwa in der Bildung.“ (ebd. 8) Das
wirkt naiv, wenn man berücksichtigt, wie sehr das Bildungsschicksal von
der Herkunft beeinflusst wird. „In der Spätmoderne findet ein
gesellschaftlicher Strukturwandel statt, der darin besteht, dass die
soziale Logik des Allgemeinen ihre Vorherrschaft verliert an die
soziale Logik des Besonderen“, und darauf baut die „Theorie der
Spätmoderne“ als „Gesellschaft der Singularitäten“ (ebd. 11) auf. Das
hat materielle Komponenten: „Weder das Allgemeine noch das Besondere
sind also einfach vorhanden. Beide werden sozial fabriziert.“ (ebd.)
Das findet in hochkomplexen Zusammenhängen statt. Bei ihnen einbezogen
sind Ökonomie und „Naturstoffwechsel“, nämlich die Nutzung
ressourcenverbrauchender Produkte und Infrastrukturen.
Das
Sympathische bei Reckwitz ist trotz aller Formelhaftigkeit, dass er
sich mit seiner Theorie nie festlegen muss: „Standardisierung und Singularisierung, Rationalisierung und Kulturalisierung, Versachlichung und
Affektintensivierung haben die Moderne in gewisser Weise von Anfang an
geprägt.“ (ebd.: 19). Diese „Moderne“ aber hat übernommen, was bereits
in der Scholastik als der prägnantesten Form des Diskurses entwickelt
und in der Renaissance weitergeführt wurde. Die „Affektintensivierung“
hat in der Renaissance besondere Blüten entwickelt (Roeck 2018, s. Rez.
in kulturation). Das ist hier für Reckwitz nicht erwähnenswert: Auf
„Moderne“ wird alles projiziert, was als wertvoll empfunden wird (fehlt
nur noch der Hinweis auf die Freiheit des Individuums als Ziel der
Geschichte, wie er sich bei Harald Welzer 2019 findet). Eigentlich
braucht man dann die Vokabel „Moderne“ gar nicht mehr, sondern kann von
Gegenwart oder Jetztzeit reden.
Für diese Gegenwart heißt es:„Was immer mehr erwartet wird, ist nicht das Allgemeine, sondern das Besondere“
(Reckwitz 2017: 7), das Singuläre im „kulturellen Kapitalismus“ (ebd:
8). Lebensqualität und Alleinstellungsmerkmale (ebd. 9) hängen damit
zusammen. Man kann Reckwitz vorwerfen, dass er aus einigen
Oberflächenbeobachtungen in den reichen Ländern, die ähnlich wie die
Wellen in einem See aus untergründigen Veränderungen an der Oberfläche
sichtbar werden, ein neues Paradigma ableitet, und dass er dies tut
ohne die Triebkräfte für die Grundwellen zu benennen.
Wichtig
ist in dem hier erörterten Thema, dass er bei aller Intensivierung der
Singularität bestätigt, dass es in der Krise des Politischen und der
Demokratie um die Frage, geht, „wie eine zumindest provisorische
‚Rekonstitution des Allgemeinen‘ innerhalb einer Gesellschaft der
Singularitäten möglich ist.“ (ebd. 440) Anders als in der „Vormoderne“
ist es nicht durch den materiellen Zusammenhang in Produktion und
gemeinschaftlicher Verwaltung vorhanden, sondern es muss „verfertigt“
werden. Dies geschieht, so Reckwitz, mit verschiedensten Versuchen
„neuer sozialer Bewegungen“, mit „Formen einer Rekonstitution des
gemeinsam Geteilten jenseits von Markt, Staat und Notgemeinschaften“.
(ebd.) Dabei reicht „das politische Paradigma des
apertistisch-differentiellen Liberalismus“ (des Neoliberalismus, könnte
man sagen) nicht aus, und es muss „einem neuen Paradigma Platz zu
machen, das man als ‚regulativen Liberalismus‘ bezeichnen könnte.“
(ebd. 441) Es scheint eine neue Sau durchs Dorf getrieben zu werden,
aber vielleicht sind es nur neue Schläuche für (guten?) alten Wein: der
vielgepriesene „Rheinische Kapitalismus“ oder „Ordo-Liberalismus“
können sich da wiedererkennen. Oder sollte man sich besser auf Herfried
Münkler (s.u.) und seine Forderung nach Stärkung soziomoralischer
Ressourcen beziehen?
Der platte Milieudeterminismus von
Eribon, aber auch die spekulativen Verallgemeinerungen von Reckwitz
wecken die Skepsis des Kulturwissenschaftlers, der sich beschäftigt mit
dem „Unspektakulären“ des Alltag jener Vielen, die das
gesellschaftliche Leben insgesamt tragen. Es ist die Lebenswelt
jenseits des urbanen kosmopolitischen Mittelstands, die für Reckwitz
anscheinend zur vordergründig hegemonialen wird. Diese Welt ist genau
so wenig die Einzige, wie die der westlich-atlantischen
Prosperitätswelten universelle Geltung beanspruchen kann.
Auch
in dieser Welt sind die verschiedenen Milieus nie ganz unter sich,
immer gibt es Bezüge zu anderen Lebenswelten – positiv wie negativ, je
nach Perspektive oder Urteil. Immer sind in der Vergangenheit andere
mit dabei einbezogen (auch Bettler, nicht nur Herrenpersonen, Kramer
2016), direkt oder symbolisch. Und die zugestandene Notwendigkeit einer
Rekonstitution des Allgemeinen (Reckwitz 2017) bleibt Aufgabe (freilich
eine von außerordentlicher Bedeutung).
3. Bildungsgraben und Milieubegegnungen
Reckwitz
versucht eine umfassende Interpretation der Gesellschaft. Eribon
begnügt sich mit einigen Hinweisen. Gern aufgegriffen wird auch in
Deutschland in Zeiten zunehmender Spaltung der Gesellschaft sein Bild
vom „Bildungsgraben“. Eribon spricht mit einer von Bourdieu
übernommenen, für Ethnologen ungewohnten Vokabel von der „legitimen
Kultur“. (Eribon 2017:112, 114, 117) Er meint damit „Hochkultur und
große Literatur“, wie sie an der Universität gepflegt werden und sich
von der „populären“ Kultur seiner Herkunft unterscheidet. „Der Zugang
zur ‚legitimen‘ Kultur“ „markiert den Anfang einer aufsteigenden Bahn
und somit auch des ‚Klassenverrats‘“ (ebd. 123). Mit einem
„Kulturgraben“ oder „Bildungsgraben“ sollen populäre Kultur und
„legitime Kultur“ der (akademischen) Eliten voneinander getrennt sein.
Dass diese „legitime Kultur“ immer ein Konglomerat verschiedenster
Einflüsse und Gestaltungsformen ist, wird dabei nicht thematisiert.
Die
Aufwertung der formalen Bildung schafft Gräben und fördert
Bildungsarroganz, wie sie bei manchen Anhängern der „Frankfurter
Schule“ auftaucht, die gern anderen „Halbbildung“ vorwerfen, selbst
aber kanonisierte Ausschnitte des kulturellen Erbes als ihre
„Vollbildung“ in Anspruch nehmen. Ähnlich affirmiert Manuel Stark in
einem Artikel in der „Zeit“, ausgehend von dem eigenen
Bildungsschicksal, 2019 die diese „Bildung der Anderen“ – in einer
Zeit, in der dies dank der unterschiedlichen „Singularitäten“ überall
aufgebrochen wird und weder die eigene Bildung noch die der anderen
auch nur andeutungsweise einheitlich sind. (Stark 2019: 61)
Wie
bei einer selfulfilling prophecy bestätigt sich der „Bildungsgraben“,
je mehr man davon redet. Ausgeblendet wird, dass dieser Graben kein
Naturprodukt ist, sondern historisch entstanden ist und sich verändert.
Die Unterschiede sollen weder geleugnet noch verharmlost werden, aber
sie sind nicht überall gleich intensiv ausgebildet, sie sind in
Bewegung und sie sind Teil von sehr komplexen Beziehungen der
historischen Milieus. Eine polarisierende Aufladung verleiht ihnen mehr
Gewicht als nötig. Zwischen den Milieus besteht ein dichtes Geflecht
von Beziehungen. Gute („klassische“) Phasen der Kulturentwicklung sind
gekennzeichnet durch relative Offenheit und Durchlässigkeit für
Menschen und Ideen (Burckhardt 1925: 335). Nur wenn „Zwei Kulturen“
stark abgeschottet voneinander existieren, wie im industriellen England
des 19. Jahrhunderts, ist der ein „Graben“ stark ausgebildet. Das
Programm „Kultur für alle“ von Hilmar Hoffmann in Frankfurt am Main ist
eine permanente Einrede gegen Milieudeterminismus: Es besteht darauf,
dass Milieus sich verändern können.
Man kann in einer
romantisierenden Interpretation die populären ästhetischen Produktionen
ausspielen gegen diejenigen der Eliten. Die „Entdeckung“ der
Volkskultur in der Romantik, wie sie Johann Gottfried Herder anregte,
war ja auch eine Gegenbewegung zu der von Ludwig XIV. und der
Französischen Revolution angestrebten Durchsetzung der
Vorbildhaftigkeit der französischen Kultur. Auch wenn, wie zeitweise in
Russland nach 1917, mit dem „Proletkult“ die „Arbeiterkultur“ von
„wirklichen Arbeitern“ bevorzugt wird, entsteht ein ähnlicher Graben.
In
der aktuellen gesellschaftspolitischen Situation der europäischen
Staaten werden die wachsenden Unterschiede zwischen den
sozialkulturellen Milieus (nicht zuletzt verstärkt durch Arbeits-und
Fluchtmigration) intensiv als politisches Problem diskutiert. So ist es
für Eribon angeblich „statistisches Schicksal“, wenn ohne Bildung
aufwachsende Personen rechte Parteien wählen. In einem Interview spitzt
Eribon zu: „Je weniger Schulbildung du hast, desto wahrscheinlicher ist
es, dass du für den Front National stimmst.“ (Rehberg 2017: 17). Das
verkennt, dass es Bedingungen gibt, unter denen auch besser Gebildete
AfD oder Front National wählen, und umgekehrt: Dort, wo traditionell
religiöse Bindungen bestehen oder solche an linke Parteien, sinkt die
Zahl der „rechten“ Wähler.
Die Mutter von Eribon bekennt,
sie habe „nur diesmal“ Le Pen gewählt. Ähnlich ist es mit
„Protestwählern“ anderswo: Es handelt sich nicht um „Lager“, wie bei
den traditionellen „linken“ und „rechten“ Parteien, sondern um (oft
genug „intelligente“) Wechselwähler. Wenn, wie in der Linken
diskutiert, (Peter 2018) die Klassenverhältnisse sich deutlich
verändern, aber die traditionellen Parteien ungenügend darauf
reagieren, zerbrechen alte Bindungen. Der Verfassungsauftrag der
Parteien besteht darin, mitzuwirken an der politischen Willensbildung
der Bevölkerung – das geschieht nicht automatisch, kann auch nicht
voluntaristisch korrigiert werden. Ähnlich sind Medien und Wissenschaft
zu positionieren. Wenn sie alle dieser Aufgabe nicht nachkommen, fehlt
in den selbstgenügsamen „Echokammern“ ein Korrektiv.
4. Verflechtungen als Voraussetzung der Demokratie: Honneth, Münkler
Eribon
meint: Der „Wunsch, die soziale Welt zu verändern“ findet „erste Mittel
zu seiner Realisierung“, wenn die Bedeutung des Milieus erkannt ist.
(2017: 11) Aber offen bleibt, wie eine Veränderung stattfinden soll,
wenn, wie bei Eribon, durch die Begriffe bereits eine in der Tendenz
unentrinnbare festgefügte Ordnung ohne Spielräume konstruiert wird.
Dann wird die Suche nach Kontingenz interessant. Wir finden sie in den
Prozessen des Alltags, in denen Menschen als Individuen zusammen mit
anderen tätig werden und ihren eigenen Motiven Geltung verschaffen. Es
treten dabei weder Milieus noch Kulturen in Dialog, sondern es reden
immer nur Individuen mit unterschiedlichen Prägungen und
Lebensgeschichten miteinander. So entwickeln sich Vorstellungen vom
guten und richtigen Leben für die Individuen und die Gemeinschaft. Und
es entstehen jene Strukturen, in denen sich die Menschen zuhause fühlen
und in denen mit (milieuspezifischer) sozialer Kontrolle auf die mehr
oder weniger verlässliche Einhaltung der guten Sitten gerechnet werden
kann (eingeschlossen die Anerkennung der Würde des Menschen nicht nur
durch die staatlichen Institutionen, sondern auch im Umgang
untereinander). Wenn diese Strukturen, wie derzeit nicht nur im
Internet zerfallen, kann Gegensteuerung angesagt sein.
Die
mannigfaltigen Verflechtungen stellen den Zusammenhang her, ohne den
Gesellschaft nicht existieren kann. Sie entscheiden über Qualität und
Dauerhaftigkeit des Zusammenlebens. Dazu gehören materielle Beziehungen
im Naturstoffwechsel, soziale Beziehungen in Korporationen und
Verbänden zur Sicherung dieses materiellen Rahmens, und symbolische
Kommunikation, mit der die Beziehungen stabilisiert werden.
Die
Kategorie „Anerkennung“ der Anderen, Voraussetzung für das Überleben
der Gemeinschaft, wird in der Debatte um soziale Gerechtigkeit meist
vernachlässigt. (Honneth 2011: 37-45)Aber in zeitgenössischen
Gesellschaften (und nicht nur dort) ist der „Prozess der
Ausdifferenzierung von verschiedenen Sphären der wechselseitigen
Anerkennung“ wichtig. „Mit Hilfe des Begriffs der Anerkennung soll
Aufschluss darüber gewonnen werden, welche Antriebe es sind, die die
Gesellschaftsmitglieder zur Übernahme sozialer Verpflichtungen bewegen:
Jeder Mensch ist, wie Parsons sagt, primär an der Wahrung einer Form
der ‚Selbstachtung‘ interessiert, die auf die Anerkennung durch
ihrerseits anerkannte Interaktionspartner angewiesen ist.“ (ebd. 37)
Das ist eine Dimension der Werte, also eine kulturelle Ebene. „Diese
Sicht auf die Architektur moderner Gesellschaften erzwingt folgenreiche
Akzentverschiebungen gegenüber dem Gros soziologischer und
politikwissenschaftlicher Ansätze: Zum einen wandelt sich die
Vorstellung über die Eigenart gesellschaftlicher Subsysteme und
Institutionen – diese müssen als ausdifferenzierte, um Normen der
reziproken Achtung kristallisierte Handlungssphären begriffen werden,
weil die ihnen innewohnenden Pflichten und Verantwortlichkeiten vor
allem aus dem Streben nach sozialer Anerkennung heraus erfüllt werden.
Die Normen und Werte, die als moralische Integrationsquellen in diesen
Sphären dienen, müssen zugleich Standards liefern, in deren Licht sich
die Teilnehmer wechselseitig anerkennen können. Zum anderen erhält die
Beschreibung sozialer Konflikte eine neue Gestalt: Diese können, in
Anlehnung an eine Denkfigur Hegels, als ein ‚Kampf um Anerkennung‘
begriffen werden, als das Ringen um eine Neubewertung,
Neuinterpretation oder Neuformulierung der in den jeweiligen Sphären
geltenden Normen der Anerkennung.“ (ebd. 37) Das ist nicht möglich ohne
das wechselseitige Zugeständnis des Anspruchs auf soziale Sicherheit –
auf das, was früher „Hausnotdurft“ (Blickle 2008: 26) genannt wurde.
In
der Zeit der DDR hat der aus der US-Emigration zurückgekehrte
Schriftsteller Stefan Heym gemeint: Es wird zu viel administriert, zu
wenig überzeugt (Dietrich 2018: 496). Die Menschen wollen gehört
werden. (ebd. 497) Noch im September 1989 stoßen Inge und Stefan Heym
auf dieses Motiv, als sie im Aufnahmelager Gießen ausgewanderte
DDR-Bürger interviewen: „Wissen sie, ich akzeptiere jeden Menschen und
auch jede Meinung, aber ich möchte auch akzeptiert werden mit meiner
Meinung.“ (zit. Dietrich 2018: 2205/2206)
Für die
Zivilgesellschaft ist die wechselseitige Anerkennung aller derjenigen,
die sich grundsätzlich zu den gemeinsamen Werten bekennen, eine
Voraussetzung (wer dies nicht tut, verliert seinen Anspruch darauf). Bürgerschaftliches Engagement ist motiviert durch die Komponenten Gemeinwohl-, Geselligkeits- und Interessenorientierung
(Schlussbericht 2008: 262). H.G. Wells hat in dem utopischen Roman „Die
Zeitmaschine“ von 1895 durchgespielt, was geschieht, wenn die Welten
der Subalternen so vernachlässigt werden, dass sie nur noch unter der
Erde (heute etwa in verlassenen Untergrundbahnschächten) leben können.
Dann sind auf Dauer auch „die da oben“ ständig gefährdet, denn es gehen
Humanität und Bodenhaftung verloren – wie bei der Abschottung des
prosperierenden Nordens von jenen Regionen des Südens, zu denen die
„imperialen Lebenswelten“ (Brand, Wissen) ihre Probleme externalisieren
und aus denen sie in Gestalt von Flüchtlingen und Migranten
zurückkehren - mit allen damit verbundenen unbewältigten Problemen.
Konsequent
ist es, wenn Herfried Münkler in einem Beitrag zur Enquete-Kommission
„Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ (2003) vorschlägt, der
Reproduktion soziomoralischer Ressourcen mehr Aufmerksamkeit zu
schenken. Ohne die Reproduktion soziomoralischer Ressourcen, so seine
These, „würden auf Dauer auch die staatlich organisierten Formen
kollektiver Risikoabsicherung und die Grundversorgung mit kollektiven
Gütern erodieren und schließlich zerfallen.“ (ebd. 17; s. auch Münkler
2018). Er bezieht sich auf die Unterscheidung von Gemeinschaft (als
Beheimatung ermöglichende und die Individuen prägende Gesellungsform)
und Gesellschaft (Freiräume und Freiheiten bietende soziale
Vergemeinschaftung). Ferdinand Tönnies betont diese Unterscheidung
(Zimmermann 1992, Kramer 2013:115). Sie wird von der Frankfurter Schule
der Soziologie kritisiert, Gemeinschaft wird als spekulative Kategorie
abgewertet. Münkler meint, Gesellschaft biete „Resilienz“ als Chance
der Anpassung an veränderte Bedingungen, während Gemeinschaft „Inseln
der Geborgenheit“ ermögliche, wie sie von den Kritikern der
Gesellschaft und den Anhängern populistischer Bewegungen gefordert
werden. Aber solche „können durchaus auch moderne Gesellschaften
bieten. Der Ort dafür ist die Zivilgesellschaft mit ihren auf
Gemeinsinnbildung hin orientierten Vernetzungsmöglichkeiten, etwa in
Vereinen und Verbänden. Sie bietet so Möglichkeiten der Entschleunigung
und Vergemeinschaftung. Wenn solche Formen der Bildung von Gemeinsinn
funktionieren, zeigen auch Umverteilungsmaßnahmen Wirkungen und tragen
zum gesellschaftlichen Zusammenhalt bei. Wo das nicht der Fall ist,
werden wohlfahrtsstaatliche Umverteilungen notorisch mit dem Vorwurf
konfrontiert, zu wenig und zu selten zu sein oder den falschen Gruppen
zu dienen.“ (ebd.) Die Ständegesellschaft hatte diese Gefahr
relativiert, indem sie jedem „Stand“, auch den Armen, das Leben in je
eigener Würde und Anerkennung zu sichern versuchte. Die Furcht vor
sozialer Kontrolle hindert manche daran, vormoderne Organisationsformen
wie Gemeinnutzen in Erwägung zu ziehen. Aber man möge daran denken, wie
rigide in „linken“ und anderen Milieus die Einhaltung von Standards
geachtet wird.
5. Ebenen kultureller Verflechtungen
Gemeinschaften
sind selten binär oder polar organisiert, auch wenn zwischen Phasen von
mehr und weniger sozialer Durchlässigkeit unterschieden werden kann.
Eine Fülle von Begegnungen und Verflechtungen gibt es in den
alltäglichen Lebenswelten von Gegenwart und Vergangenheit. Auch Fremde
gehören immer dazu. (Kramer 2016) Geknüpft wird ein Netz der Vielfalt,
das zum lebendigen Milieu gehört. Mit ihm können neue Herausforderungen
bewältigt werden und dank seiner sind Gemeinschaften Wandlungen nicht
hilflos ausgesetzt. Eine festgezurrte Leitkultur wird dem nicht
gerecht. Deswegen heißt es in den 2017 von einem Bündnis aus
Zivilgesellschaft, Kirchen und Religionsgemeinschaften, Sozialpartnern,
Medien, Bund, Ländern und kommunalen Spitzenverbänden (moderiert durch
Olaf Zimmermann vom Deutschen Kulturrat) entwickelten 15 Thesen zur
Zuwanderung und kulturellen Integration:
„1. Das Grundgesetz als Grundlage für das Zusammenleben der Menschen in Deutschland muss gelebt werden. …
2.
Das alltägliche Zusammenleben basiert auf kulturellen Gepflogenheiten.
… Umgangsformen, kulturelle Gepflogenheiten und traditionelle Gebräuche
sind jedoch nicht starr, sondern unterliegen dem Wandel. Sie müssen
sich im gesellschaftlichen Diskurs bewähren oder weiterentwickeln, um
ihre Berechtigung zu behalten.“
Dem entspricht, was Reckwitz
meint: „Der kulturelle Wandel der dominanten Subjektkulturen in der
Moderne stellt sich dann als immer neuer, konflikthafter Prozess der
Öffnung, Schließung und erneuten Öffnung von Kontingenz dar.“ (Reckwitz
2010: 73). Dass außerhalb der „Moderne“ Europas sich ganz andere
Prozesse abspielen, deren Bedeutung durch die nachlassende Prägekraft
des „westlichen“ Bildes von „Fortschritt“ wächst, wird selten
diskutiert. Die monumentale sechsbändige „Geschichte der Welt“ (Iriye
2017) regt dazu an, ebenso andere (Mulsow 2015; Osterhammel 2015).
Wie
der auf ganz andere Kulturen erinnert der Blick auf frühere Phasen der
Geschichte daran, welche Unterschiede es gibt. Eindrucksvoll ist, wie
Bernd Roeck die Beziehungen zwischen der „Horizontalen“ und der
„Vertikalen“ in der frühen Neuzeit hervorhebt: Die Horizontale, „Volk“
und die Mittelschicht, sind im 18. und 19. Jahrhundert Akteure in
Aufständen in Frankreich, Deutschland, Italien: „‘Volk‘, das waren
allerdings nicht nur ‚les miserables‘, die Elenden und Ärmsten. Eine
gehobene Mittelschicht von Kaufleuten, Rittern, Honoratioren, die der
Kämpfe stadtrömischer Adelsclans überdrüssig waren, hatte in Rom Rienzo
zur Macht getragen, wohlhabende Bauern und städtische Handwerker,
selbst Amtsträger der Krone waren in der Jacquerie anzutreffen. Nicht
einfach ‚schlechte Verhältnisse‘ pflegen die Menschen auf die
Barrikaden zu treiben – die halbe Welt wäre sonst auch heute in
Aufruhr. Anderes muss hinzukommen, etwa die Überzeugung,
Ungerechtigkeit zu erleiden, oder die Angst, alles zu verlieren, und
umgekehrt die Aussicht auf Aufstieg und Macht, gepaart mit Schwäche und
Kontrollverlust der Herrscher.“ (Roeck: 387/388, 390; vgl. Burckhardt
1925: 335) Ähnlich argumentiert Edward P. Thompson 1982; er wird von
Reckwitz nur im Zusammenhang mit Zeitdisziplin erwähnt. Reckwitz 2010:
668).
Auch damit wird erkennbar, dass nicht nur Harmonie,
sondern auch (Klassen-)Konflikt Teil der als Einheit sich verstehenden
Gemeinschaft ist. Menschen, die in einem Territorium zusammen leben,
müssen miteinander verbal und nonverbal kommunizieren und dafür Regeln
entwickeln, besonders wenn es um die gemeinschaftliche Nutzung von
Ressourcen und Infrastruktur geht. Wegen der von Allen genutzten und
verwalteten Gemeinnutzen gibt es notwendigerweise Begegnungen und
wechselseitige Beeinflussungen der Milieus. Überall dort, wo Menschen
gemeinsam Verantwortung für die ihnen wichtigen Ressourcen tragen, sind
demokratische Strukturen ausgebildet, daher liegt Demokratie durchaus
in der „Natur“ der Menschen. Nur wenn man die Beteiligten von der
Verantwortung ausschließt, verlernen sie dies. „Gemeinsamer Besitz und
kollektiv genutzte Ressourcen haben das Land zusammengehalten“, kann
man von der Schweizer Demokratie sagen. Dadurch behielt sie ihre
Lebenskraft und dadurch wurde über Jahrhunderte hinweg trotz aller
Konflikte der demokratische (gemeinschaftliche) Umgang miteinander
eingeübt, und zwar in einem flächendeckenden Organisationsmodell
(Schläppi 2017: 96) Dieter Hoffmann-Axthelm hat vorgeschlagen, solche
Elemente in die aktuelle Politik wieder aufzunehmen (Hoffmann-Axthelm
2016)
6. Gemeinnutzen und Stein´sche Reformen im frühen 19. Jahrhundert
Die
angeblichen ständestaatlichen „Hindernisse“ für die freie Entfaltung
der bürgerlichen Marktgesellschaft in Deutschland abzuschaffen war Teil
der Reformen des frühen 19. Jahrhunderts. Die Stein´schen Reformen in
Deutschland sind immer verbunden mit der Vorstellung, dass beim
„zeitgemäßen Umbilden des Alten“ (Fenske 2012: 93) die in
Selbstverantwortung versetzten Akteure „gemeinnützige und nicht nur
eigennützige Ziele verfolgen“, so schreibt Freiherr vom Stein in seiner
Nassauer Denkschrift. (ebd: 40/41) Als er für die Abschaffung der
Zunftprivilegien eintrat, schwebte ihm nicht die von allen Bindung
befreite Marktgesellschaft vor, sondern eine dem Gemeinwohl
verpflichtete. Jürgen Kuczynski unterscheidet zwei Tendenzen der
preußischen Reformzeit: Den von Stein vertretenen „gemäßigten, mit dem
Humanismus der Feudalzeit gemischten“ „feudalen Humanismus“ und einen
„rein kapitalistischen“ (Bock 1982: 26). Der Zeitgenosse Alexander von
Humboldt, aufgewachsen in Tegel ähnlich den beschaulichen Nassauer
Verhältnissen, geprägt von (vor allem protestantischer) Religiosität
und dem Leben in überschaubaren, auf die Gemeinschaft angewiesenen
Lebensverhältnissen, lernt schon auf seiner ersten Reise nach
Südamerika ganz andere Verhältnisse kennen: Auf dem Sklavenmarkt
herrscht ein gemeiner Eigennutz, wie ihn Stein sich gar nicht
vorstellen kann. Zu dessen Entfesselung aber tragen seine Reformen bei.
Hätte Humboldt bei seinen Besuchen in Nassau ihn doch darauf aufmerksam
gemacht!
Die neue Beachtung, die durch die
Wirtschafts-Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom (1999; Kramer 2012b) den
„Allmende-Ressourcen“ geschenkt wird, bestätigt die Bedeutung der
Verflechtungen. Die im „wirklichen Leben“ geltenden Standards und Werte
und die Praktiken des Naturstoffwechsels zusammen ergeben erst das
überlebensfähige Geflecht der Gemeinsamkeit. Die kosmopolitischen
Intellektuellen vergessen bei ihrem Denken gern die mit dem
Naturstoffwechsel verbundenen Dimensionen der Erfahrungen in
unterschiedlichen kulturellen Milieus. Sie wird erkennbar, wenn es um
„lokales Wissen“ geht. Darüber wird intensiv in der
Entwicklungszusammenarbeit und der Ethnologie diskutiert. (Antweiler
1995)
7. Kultur für alle als Grundrecht und Gemeingut in der sozialen Demokratie
Auf
existierenden Verflechtungen bauen die Verfassungen von Staaten und
Ländern auf. Sie sind programmatische Formulierungen für die
Bestätigung und Regulierung des Zusammengehörens. Im Grundgesetz der
Bundesrepublik Deutschland werden Grundwerte formuliert. Sie
umschreiben keine „Leitkultur“, sondern eine immer wieder neu zu
interpretierende „ideelle Lebensgrundlage“. Kultur in Deutschland,
nicht Deutsche Kultur nannte sich eine Enquete-Kommission des Deutschen
Bundestages (Schlussbericht 2008). Die Grundwerte des heutigen sozialen
und demokratischen Rechtsstaates fußen auf den Traditionen christlicher
und anderer Religionen, auf der Philosophie und Literatur der Antike
und der Klassik, vor allem aber auch auf den demokratischen und
sozialen Bewegungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.
Die
„Allgemeine Erklärung zur kulturellen Vielfalt“ der 31.
Generalkonferenz der UNESCO von 2001 (Übereinkommen 2005) zitiert die
Formulierung der Erklärung von Mexiko-City über Kulturpolitik1982, die
„bekräftigt, dass Kultur als Gesamtheit der unverwechselbaren
geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Eigenschaften
angesehen werden sollte, die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe
kennzeichnen, und dass sie über Kunst und Literatur hinaus auch
Lebensformen, Formen des Zusammenlebens, Wertesysteme, Traditionen und
Überzeugungen umfasst.“ (Röbke1993:55) Eingeschlossen ist darin die
„ganze Lebensweise“ ebenso wie Ethnizität. Dass die konkrete
Ausgestaltung dieser Kultur in ergebnisoffenen Prozessen ausgehandelt
wird, ist dabei mitzudenken. Andere Dokumente der UNESCO erinnern daran
(Our Creative Diversity 1995/1996). An diesen Prozessen sind im Prinzip
alle beteiligt, die ein Territorium bewohnen. Religion gehört dazu,
aber auch früher war sie nicht die einzige Komponente der Wertewelt.
Genauso wichtig war das in der gemeinschaftlichen Organisation in
Zünften, Korporationen und in der Praxis der Verwaltung von
Gemeinnutzen vermittelte Wissen um die verbindenden Werte.
Eingeschlossen ist so die ganze Lebensweise und das, was gern als
(dynamisch) Ethnizität verstanden wird.
Die allen mehr oder
weniger vertraute) gemeinsame, verbindende Symbol- und Wertewelt (im
Sinne des „unterscheidenden“ UNESCO-Kulturbegriffs) in Erinnerung zu
rufen ist eine Antwort auf die beklagte „Verrohung der Sitten“ und
Verwilderung des Umgangstones in den digitalen sozialen Netzen der
Gegenwart. Hier wie in anderen Fällen (so auch am Stammtisch) muss mit
geeigneten Mitteln immer Einspruch erhoben werden, wenn diese
Grundregeln erkennbar verletzt werden. Notfalls kann das geschehen mit
den Instrumenten eines durchsetzungsfähigen staatlichen Gewaltmonopols.
Auch die meisten linken Skeptiker haben begriffen, dass Polizei und
Gewaltmonopol des Staates wichtig sind für die Sicherung des
gemeinschaftlichen Lebens – freilich funktionieren sie nur dann in
diesem Sinne, wenn sie nicht selbst durchsetzt sind von
antidemokratischen Kräften.
Die Förderung lebendiger
kultureller Milieus für alle ist für den sozialen Rechtsstaat kein
„meritorisches Gut“, auf das man auch verzichten könnte, sondern Teil
des Sozialstaatsgebots und eine Bringschuld im Rahmen der sozialen
Demokratie. Eine gern verwendete Formel lautete in den 1980er Jahren:
„Kultur ist weder eine Ware noch Luxus. Sie ist keiner einzelnen
sozialen Gruppe vorbehalten und darf nicht nach
Rentabilitätsgesichtspunkten beurteilt werden.“ Das war Teil des
Gemeinsamen Regierungsprogrammes der Linken in Frankreich (Goldschmidt
1972; Kramer 2018: 252).
Die Kultur für alle ist im
sozialen und demokratischen Rechtsstaat Teil der öffentlich
finanzierten Infrastruktur. Auch die damit verbundenen
Genussmöglichkeiten müssen, weil öffentlich bereitgestellt, auch
prinzipiell für alle verfügbar sein. Es geht bei der Förderung des
kulturellen Lebens und der Pflege des kulturellen Erbes auch darum,
kreative und vielseitig qualifizierte Individuen („Produzenten“, wie
man früher gesagt hätte) heranzubilden. Solche werden gewiss für alle
am Markt orientierten wirtschaftlichen Aktivitäten gebraucht, aber erst
recht auch für jede Tätigkeit in der Zivilgesellschaft oder im
gemeinnützigen Sektor. Dennoch geht es nicht nur um die Nützlichkeit
der Fähigkeiten der Persönlichkeiten, auch nicht nur um deren
Zukunftsfähigkeit, sondern auch und vor allem um den Anspruch auf
Lebensqualität, eingeschlossen die Aneignung jener Symbolwelten, die im
Denken und in der Symbolarbeit der Künste entwickelt wurden. Darin
eingeschlossen ist die Auseinandersetzung mit der Frage: Was bedeutet
menschliches Leben für das Individuum und für das Leben in der eigenen
Würde zusammen mit anderen.
Kultur wird gern
instrumentalisiert: Im September 2019 meint die designierte EU-
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen: „Kultur schafft
Möglichkeiten, speziell für junge Menschen, und ist eine treibende
Kraft für unsere Wirtschaft … Kreativwirtschaft muss als Katalysator
für Innovation, Jobs und Wachstum voran gebracht und das Potenzial des
Programms ›Kreatives Europa‹ maximiert werden.“ (zitiert in einer
Stellungnahme der Kulturpolitischen Gesellschaft im September 2019).
Aber in der Krise der Wachstumsgesellschaft braucht es keine Impulse
für mehr und mehr Wachstum (denn auch Grünes Wachstum hilft nicht gegen
diese globale Krise), sondern sozialkulturelle Innovationen, mit denen
Pfade aus Wachstumszwängen eingeleitet werden können. Der Präsident der
Kulturpolitischen Gesellschaft betont in einer Stellungnahme zu dem
zitierten Text: Kultur ist „ein wichtiges vereinendes Element in Europa
– gerade in Zeiten gesellschaftlicher Pluralitäten und
demokratiefeindlicher Strömungen. Deutschland und alle
EU-Mitgliedstaaten sollen aktiv daran mitwirken, dass der Kultursektor
in Europa in seinem aktiven Einsatz für Kooperation und Zusammenhalt in
Europa gestärkt wird und nicht hinter ökonomischen Kennzahlen
zurückschrauben muss.“ Das ist noch sehr zurückhaltend ausgedrückt;
eigentlich müsste man die Unterwerfung des Kulturellen unter
wirtschaftliche Ziele viel deutlicher zurückweisen. Statt über Wachstum
zu jubeln ist es angebracht, sich zu freuen, wenn neue Pfade für eine
sozialverträgliche Verminderung von Wachstum begangen werden: Die Krise
ist eine Chance, über neue Arbeitszeitverkürzungen nachzudenken. andere
Bildungschancen aller Art zu eröffnen, nicht nur für Berufe,
sondern auch für Lebensqualität und Teilnahme an der Zivilgesellschaft,
ist Teil der sozialen Grundrechte (in vielen Bundesländern gehörte vor
Jahrzehnten der Anspruch auf Bildungsurlaub auch jenseits beruflicher
Fortbildung zu den Selbstverständlichkeiten). Es geht auch um die
Sicherung der Arbeit der lebendigen Künste, von denen wie von der
Wissenschaft Begriffs- und Symbolarbeit geleistet wird. Diese ist
unverzichtbar, damit Welt und Menschsein produktiv immer wieder neu
interpretiert werden können. Würde man sich einmal darauf festlegen,
was Menschsein bedeutet, gäbe es keine Vielfalt mehr.
Das
„nationale“ (lokale, regionale, sprach- und traditionsgebundene)
Kulturerbe und das Weltkulturerbe sind nicht nur Teil von
Lebensqualität, sondern kulturelle Vielfalt ist angesichts der
„Unwägbarkeiten der Zukunft“ (WCCD) eine „unverzichtbare Ressource“ und
für alle Bereiche wichtig, nicht nur für das wirtschaftliche Geschehen.
Der Bericht der Weltkommission für Kultur und Entwicklung (WCCD; Pérez
de Cuéllar Bericht) relativiert die gewohnte Vorstellung von
Entwicklung und wertet die Vielfalt der Kulturen nicht nur als
dekoratives Element auf, sondern als unverzichtbare Zukunftsressource.
„Entwicklung ... konnte nicht länger als ein einziger, überall gleicher
und linearer Weg gelten, denn ein solches Modell müßte unvermeidlich
die Faktoren kulturelle Vielfalt und kulturelles Experiment ausschalten
und so das kreative Potential der Menschheit mit Blick auf das Erbe der
Vergangenheit und die Unwägbarkeiten der Zukunft auf gefährliche Weise
begrenzen.“ (ebd.) Nord und Süd können verschiedene Wege der
„Modernisierung“ gehen. Damit werden auch jene „vormodernen“ Formen der
Organisation des materiellen und sozialen Lebens neu gewichtet, wie sie
von Ethnologie, Europäischer Ethnologie und cultural studies analysiert
werden. An sie zu erinnern bedeutet keine Rückwärtswendung und ist auch
kein Einspruch gegen die Prinzipien der Aufklärung, sondern erinnert an
die Kontinuität eines ergebnisoffenen Geschichtsprozesses.
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