Text | Kulturation 1/2004 | Lutz Haucke | ERINNERUNG AN DIE VERLORENEN ZEITEN
Europäische Rückblendendramaturgien in den 60er Jahren in Ost und West
| Kann
der Filmhistoriker überhaupt noch einen Anspruch auf Geschichtsbilder
von Perioden der internationalen Filmgeschichte einlösen? Das
TV-Switching vermehrt die Macht der Apparate gegenüber den Rezipienten
und gegenüber den Produzenten, weil mit der wachsenden Quantität der
Programme eine Geschichtslosigkeit der Medienereignisse einherzugehen
scheint. Statt Konstruktion der Geschichte haben wir es mit
Inszenierungen der Werke in verschiedenen Zensurmechanismen der
Medienkommunikation zu tun. Hat angesichts dieser Situation der
Filmhistoriker nur noch die Chance, in die Spezialisierung zu flüchten?
Ist die Konstruktion von Geschichte als Ereignis und Prozess für
Journalisten, Historiker und Dramaturgen nur noch punktual möglich oder
sind Künste und Wissenschaft gegenseitig verpflichtet, an Ereignis- und
Prozessanalysen zu arbeiten? So wie in der Spielfilmdramaturgie
Zeitkonstruktionen Strukturen sind, die in einem kompositionellen und
in einem kulturgeschichtlichen Funktionszusammenhang interpretierbar
sind, so könnte auch der Filmhistoriker in der Untersuchung
filmgeschichtlicher Epochen, Perioden Struktur- und Funktionsanalyse
zum Ansatz einer Konstruktion durch Interpretation von Werken,
Produkten machen.
Die Wahl des Themas entspringt dieser grundsätzlichen Überlegung.
Neben der Geschichte der Institutionen der AV-Medien-Stichworte:
Studiogeschichte, Geschichte nach Producern, der Kinogeschichte, der
Programmgeschichte, Geschichte der Zensur hat die von Strukturen- als
Stichworte seien genannt: Komposition der Stories, der
Kameraeinstellungen, der Schnitte, der Montage im weitesten Sinne- in
der Spielfilmgeschichte ihren Reiz.
Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist, dass in den 60er Jahren in
Europa der zweite Schub des Übergangs von der Tradition zur Moderne-
den ersten Schub würde ich in der europäischen Filmgeschichte zwischen
1900 und 1927/28 markieren- einsetzte. Im Widerspruch von politischen
Versteinerungen und neuen Produktivkraftentwicklungen entfaltete sich
ein Paradigmenwechsel, dem mit der Untersuchung von Struktur- und
Funktionswandlungen der Spielfilmdramaturgie- das Strukturelement der
Rückblende (englisch: flash back) in der Story-Komposition wäre ein
möglicher Ausgangspunkt für den Filmhistoriker- nachgegangen werden
kann. Dies auch deshalb, weil in den sechziger und frühen siebziger
Jahren die Zeitstrukturen in den europäischen Spielfilmdramaturgien
einen konkreten Bezugspunkt hatten: die Historie des 2. Weltkrieges,
die des Faschismus und des Stalinismus war in Erinnerungen und im
kollektiven Gedächtnis präsent. Ohne diese kulturelle Allmacht der
Erinnerungen und der Erinnerungsarbeit wären die vielfältigen
Rückblendendramaturgien als Kunstphänomen nicht zustande gekommen.
Die diskontinuierlichen 60er Jahre und die Diskontinuität als
Kennzeichen des Strukturwandels der Story-Dramaturgie des Spielfilms
Aus der Perspektive von Versteinerung und Aufbruch, im Westen
Establishment und Ausbruch der Kinder von Marx und Coca Cola, um Godard
zu zitieren (VORNAME CARMEN, 1983), im Osten Versuche einer
Demokratisierung im Zuge der Entstalinisierung und neuer nationaler
Identitäten, wandelten sich in den 60er Jahren die kulturellen
Denkfiguren in ihren zeitlichen Strukturen. Man dachte in Zeitsprüngen
zwischen heute und morgen, gestern und heute. Begriffe wie Kontinuität
und Diskontinuität hatten ihre soziokulturellen Entsprechungen:
Kubakrise, Ende des Algerienkrieges, Mauerbau in Berlin, neue
Wirtschaftsregulierungen, Verfassung der CSSR 1963. An der Macht waren
die Großväter der 90er Jahrgänge des vergangnen Jahrhunderts: N.
Chruschtschow (1894), de Gaulle (1890), Walter Ulbricht (1893), K.
Adenauer (1876). Die Diskontinuitäten der Generationen brachen auf.
Legitimationsansprüche der Systeme und Ideologien waren verbunden mit
Begriffen wie Entfremdung, Demokratie, Gerechtigkeit im Osten, mit
Utopie und "zornigen jungen Männern" (GB, BRD), mit Souvenir und
Memoire (FR) im Westen.
In der Spielfilmdramaturgie entwickelt sich in diesen Jahren die
diskontinuierliche Story-Erzählung, die mit Rückblenden eine Bündelung
von Motiven, sozialen Kausalitäten, Verhaltens- und Denkweisen in
scharfen Brüchen von Gegenwart und Vergangenheit erreicht. Binnen
weniger Jahre entfaltete sich eine Vielfalt unterschiedlicher
Möglichkeiten dieser dramaturgischen Zeitkonstruktion der Story.
Parallel hierzu ist- insbesondere in der italienischen
Regieentwicklung- eine Dedramatisierung, eine Zurückdrängung der
Handlungszeit, eine Aufwertung der erzählten Zeit durch die Bildzeit,
die Erzählzeit, international wirksam geworden- verbunden mit
Darstellung von Entfremdung und Stagnation, mit der "Krankheit der
Gefühle", wie das um 1960 M. Antonioni benannt hat. /1/ Neben
Antonionis Trilogie von 1960 bis 1962- insbesondere LA NOTTE (1961)-
ist es Fellini, der in ACHTEINHALB (1963) einerseits die panoramatische
Dramaturgie der Plansequenz für epische Vielfalt nutzt und andererseits
die Diskontinuität zwischen realer Handlungslinie und
Vorstellungswelten in machtvollen Bildern explodieren ließ (z. B. die
Alptraumepisode als Exposition in ACHTEINHALB).
Neben A. Resnais' bekanntem HIROSHIMA MON AMOUR (1959) und anderen
wäre auch vom Filmhistoriker zu berücksichtigen Wajdas erste Näherung
an das Szenarium von DER MANN AUS MARMOR, das bereits 1963 vorlag (erst
1976/77 verfilmt)und in dem eine modifizierte CITIZEN-KANE-Dramaturgie
für eine Arbeiterbiographie der 50er Jahre verfolgt wurde.
Und Tarkowskij, der eine Ästhetik der Zeit in der Kameraeinstellung
favorisierte und keinesfalls in den Filmen der 60er Jahre die
Rückblendentechnik für die Story-Dramaturgie verwandte, hat unmittelbar
beim Übergang zu offenen und episodischen Fabelstrukturen im ANDREJ
RUBLJOW (1966/69) in einem Hörspiel VOLLE KRAFT ZURÜCK!POLNYI POVOROT
KRUGOM nach William Faulkners Erzählung TURN ABOUT (verfilmt bereits
1933 von Howard Hawks unter dem Titel TODAY WE LIVE) die Möglichkeiten
der auditiven Montage in der RückblendenStory-Erzählung geprüft.
Diskontinuität ist aber im Wandel der Dramaturgien der 60er Jahre
noch auf einer anderen Ebene zu diskutieren. Nicht nur die
Neuentdeckung der Verfremdungsmöglichkeiten von gesprochener Sprache-
insbesondere in der BRD von Kluge und von Straub verfolgt- und der
Bruch der Duras mit traditionellen Redeformen der Dialogtextgestaltung
wäre zu nennen. Oder: Pasolini verfilmte 1968 die MEDEA nach Euripides
und verzichtete weitgehend auf die Dialoge der Tragödie. Die Duras
strebte in HIROSHIMA MON AMOUR eine Sprache an, die Gedanken im
Entstehen trägt, d. h. dass sie nicht von der Informationsfunktion her
wichtig wäre, sondern Klang, Melodie, Rhythmus bedingen jene an
ästhetischen Informationen reichen Satzfetzen mit ihren Wiederholungen.
/2/
Wichtig ist aber auch, dass in Genres wie dem Italowestern und im
Horrorfilm (Sergio Leone SPIEL MIR DAS LIED VOM TODE, 1968; R. Polanski
ROSEMARYS BABY, 1968) neue Entwicklungen begannen.
Als Genres der Mass Culture der totale Gegensatz zur Herkunft der
Nouvelle Vague von moderner Literatur, aber: Memory, Erinnerungszeit
konstituiert die Bauweise von Stories und geht einher mit neuen
kinematographischen Wahrnehmungsmodalitäten. Leone vollzieht den
Übergang vom illusionistischen, vom realen Western zum Spiel mit
Konventionen. Die Ritualisierung der Vorgänge und die Reduktion der
Dialoge auf das Aphoristische sind das eine. Neu sind vor allem
Wahrnehmungsmodalitäten. Das sind (1) die Sprünge von der Totalen in
die Nahaufnahmen; (2) die reduzierte Ausdrucksdarstellung der
Schauspieler und die Aufwertung der Bild-Koordinaten (Zeitdehnungen,
Kamerafahrten/vor allem ZOOM - Fahrten u. a. ). Damit einher geht die
Übernahme von Dialogfunktionen durch die Musik. /3/
Die besondere Umbruchssituation der 60er Jahre hat also eine
vielgestaltige Ausprägung neuer Techniken der Rückblendendramaturgien
hervorgebracht. In der internationalen Filmgeschichte könnte man darauf
verweisen, dass 1939/40 im Schnittpunkt stilistischer Neuansätze in den
USA und in Frankreich mit Rückblendentechniken gearbeitet wurde. Gregg
Toland erhielt für seine fotografische Leistung in der von William
Wyler inszenierten Verfilmung des mit Rückblenden erzählenden
englischen Romans STURMHÖHE (Emily Bronté, 1847, Filmtitel STÜRMISCHE
HÖHEN, USA 1939) einen Oscar. O. Welles realisierte mit Gregg Toland
CITIZEN KANE (1940), den "Schlüsselfilm" der neuen epischen
Story-Dramaturgie mit Rückblenden an der Schwelle der 40er Jahre. Carné
hatte mit LE JOUR SE LEVE (DER TAG BRICHT AN, 1939) im Rahmen des
französischen Vorkriegsrealismus eine traditionelle Rückblendentechnik
verwendet, um die dramatische Konkurrenz zweier Männer um eine Frau,
also eine melodramatische Protagonistenfabel, motivieren zu können. Mit
Salvatore Dali gestaltete Alfred Hitchcock in SPELLBOND (ICH KÄMPFE UM
DICH, USA 1945) eine Traumblende- also die Blende in das Imaginäre als
Grenzfall der Rückblendendramaturgie. Bereits die Zusammenarbeit mit
Salvatore Dali verweist auf die Ursprünge: die Einflüsse bildender
Kunst- ob Surealismus oder Expressionismus seit den 20er Jahren.
Bedenkenswert ist, ob die Dynamik der 40er Jahre die Direktheit der
sozialen Widersprüchlichkeit der Kriegs- und Nachkriegszeit in den
Mittelpunkt stellte und statt Rückblendendramaturgien die
Genredramaturgien und "Realismus"-Dramaturgien notwendigerweise
favorisierte.
Typen der Dramaturgie der Rückblenden in Spielfilmen der 60er Jahre
Hypothetisch können 5 verschiedene Bauweisen der Story-Komposition mit Rückblenden unterschieden werden:
TYP I
Kausale Verknüpfung von Gegenwart und Vergangenheit in der
realistischen und in der imaginativen Begegnungs-Story (A. Resnais, M.
Duras, A. Robbe-Grillet, M. Forman, J. Jires, J. Nèmec, V. Chytilová)
Ausgangspunkt ist die Begegnung zweier Menschen und/oder ihr
Dialogisieren in der Gegenwartsebene, das in der Story-Konstruktion von
einem einmaligen oder mehrfachen Hinundherschalten zwischen
Gegenwartsebene und Vergangenheit der Figuren bestimmt wird. Durch den
Zeitenwechsel wird es möglich Motive, Konflikte, Verhaltens- und
Denkweisen der Figuren zu erzählen, ohne die lineare Erzählweise einer
Protagonistenfabel anzuwenden.
Die Rückblenden können eine diskontinuierliche episodische
Story-Komposition auf der Gegenwarts- und auf der Vergangenheitsebene
bilden. Die kausalen Verknüpfungen können von der "Erinnerungsarbeit"
bestimmt sein (A. Resnais HIROSHIMA MON AMOUR, 1959; J. Jires DER
SCHERZ, 1968; als Sonderfall LETZTES JAHR IN MARIENBAD, 1960; J. Nèmec'
DIAMANTEN DER NACHT, 1964, ist eine interessante Erweiterung, weil die
Story, Ausbruch zweier jüdischer Jungs aus einem KZ-Eisenbahntransport
und ihr Irren durch einen labyrinthischen Wald, durch eine Konstruktion
von Fotografien, Sequenzen der Erinnerung und der Hoffnung die
Ausschließlichkeit der vergangenen Zeit und die Ausschließlichkeit der
gegenwärtigen Zeit umbricht in Wahrnehmungszeiten; Nèmec löst
Aktionsszenen auf durch die Erzählkonstruktion, arbeitet mit
Wiederholungen und neuen Verknüpfungen von Bildern und erreicht so eine
philosophische Dimension in der Analyse von Verhaltenszuständen; auch
bedenkenswert: der innere Monolog und eine Erzählerstimme in K. Wolfs
DER GETEILTE HIMMEL, 1964).
V. Chytilová modifiziert in der Story ihres Episodenfilmes AUTOMAT
SVET / IMBIßSTUBE "DIE WELT" nach einer Erzählung von Bohumil Hrabal,
1965, die Rückblendentechnik, um eine Metapher für die
spontan-humanistische Vitalität eines Malers gewinnen zu können. Sie
relativiert die historisch-biographische Dimension durch das
Erzählpotential von Kameraeinstellungen. Eine zeitlich lange
Nahaufnahme vom Arbeitsprozess des Künstlers: Formen, Strukturen werden
in Metall getrieben, verwandeln stumpfes Blech in Lichter. Die
Rückblende relativiert die Vorgänge, die Notwendigkeit der
Inszenierung. Die Kameraeinstellung wird entscheidend als Kommentar zur
Figur, zur humanisierenden Lebenskraft, über die der Maler verfügt -
wie sich in der Schlusspointe endgültig bestätigt.
Aber es sind auch Story-Typen unterscheidbar, die entweder mit
einer Episode in der Gegenwart und dem einmaligen Umschalten in die
Vergangenheit operieren (M. Forman LIEBE EINER BLONDINE, 1965) oder die
mit einer geschlossenen Rückblende als kontinuierlicher Story-Erzählung
eine diskontinuierliche Story der Gegenwartsebene kausal dem Zuschauer
erschließen (T. Richardson MADEMOISELLE, 1965). Eine dramatische
Fabelstruktur- z. B. die Protagonistenfabel - wird dadurch zugunsten
der Analysierbarkeit der Gedanken, Wertvorstellungen, Verhaltensweisen
der Figuren vermieden bzw. relativiert. Die episierende Rückblende kann
zwar mit dem Dokumentarprinzip operieren, aber im Spielfilm gilt in
diesen Fällen (so bei M. Forman, bei J. Jires, J. Nemec, V. Chytilová),
dass nicht nur die gewonnene Authentizität wichtig ist, sondern der
ständige Perspektivenwechsel ermöglicht eine Kommentierung des
Dokumentaren durch die Anordnung in der Montage. Das war das Prinzip
des Cinemá Verité und es hat auf die europäische Spielfilmdramaturgie
der 60er Jahre nachhaltig gewirkt. Hierzu hat die tschechoslowakische
Neue Welle zwischen 1963 und 1968 in der europäischen Filmgeschichte
die künstlerisch weiterführenden Neuerungen - neben den Entwicklungen
in Frankreich von J. - L. Godard, A. Resnais, A. Robbe-Grillet u. a. -
eingebracht.
BEISPIELE:
A. Resnais HIROSHIMA MON AMOUR, 1959 und LETZTES JAHR IN MARIENBAD
(1960)- beide Filme beruhen auf der Überredung zum Wagnis einer
gemeinsamen Vergangenheit, d. h. die Rückblendendramaturgie nutzt zwar
politische Fakten, sie nimmt an Filmarbeiten anlässlich der
Friedensgedenkdemonstration in Hiroshima teil, auch das für Frankreichs
Öffentlichkeit heikle Thema, die Liebe einer Französin zu einem
Okkupanten und ihre Bestrafung durch die eigenen Landsleute war
wichtig, aber die dramaturgische Struktur setzt auf die Fähigkeit zu
Kommunikation und Wahrheit zwischen Menschen. „Zwischen zwei
Menschenwesen, die nach Herkunft, Weltanschauung, Geschichte,
Wirtschaft, Rasse einander so fern stehen wie nur irgend möglich, wird
nun Hiroshima den gemeinsamen Boden ... bilden, auf dem die ...
Begebenheiten der Lust und des Leides in unerbittlichem Licht
erscheinen. "/4/ Die Liebe zu einem Japaner in Hiroshima wird Anlass,
das traumatische Erlebnis, als Französin für eine Liebe zu einem
deutschen Soldaten 1944 von den eigenen Landsleuten bestraft worden zu
sein, zu reflektieren.
Diskutierenswert ist, wie A. Resnais und der Drehbuchautor Jean
Cayrol in MURIEL (1963) das thematische Motiv von Vergessen und
Erinnern im Unterschied zu den Filmen von 1959 und 1960 entwickelten.
Hélène, die Antiquitätenhändlerin, lädt nach 20 Jahren ihren Freund zu
einem Besuch ein. Er reist mit seiner angeblichen Nichte an. Bernard,
Hélènes Stiefsohn, ist aus dem Algerienkrieg zurückgekehrt. Innerhalb
von 14 Tagen treffen Franzosen der jüngeren Generation (Bernard,
Robert, Maria-Dominique, Francoise) und der älteren Generation (Hélène,
Alphonse, de Smoke, Claudie und ihr Mann, Antoine und seine Frau und
die Außenseiter, der alte Jean und der Einsiedler aus dem Bunker am
Meer) aufeinander. Eine Kollision der Generationen? Resnais und Cayrol
erzählen unmittelbar nach dem Algerienkrieg eine Begegnungs-Story. Es
ist keine Protagonistenfabel im Sinne der Konzentration auf zwei
Antipoden, sondern es sind Gruppen verschiedener Generationen, die ihre
Kollisionen austragen. Die Story hat ihre Peripetien, ihre Wendepunkte,
aber durch die Erzählweise Resnais (er rafft, indem er Details im
raschen Schnitt hervorhebt, um prinzipiellere Themen anstimmen zu
können) wird eine Sensibilität in den Tempi und Zäsuren der Handlung
geltend gemacht. Er arbeitet mit simultanen Handlungssträngen.
Deshalb ist die These nicht unberechtigt, dass der Schnitt von
Resnais in diesem Film ganz der dramatischen Funktion untergeordnet
wird. Zeit wird zu einer ungeheuerlichen, mit Spannungen der Figuren
angefüllte dramatischen Dimension der Handlung - im Gegensatz zu
LETZTES JAHR IN MARIENBAD, wo die Figuren statuarisch verharren und die
Kamerafahrten und die ausgeklügelten Kompositionen der Einstellungen
alle Bewegungen übernahmen. Die Katastrophen spitzen sich im 5. Akt zu
(gewählt wurde der Aufbau nach dem 5-Akte-Schema des bürgerlichen
Trauerspiels) und finden sowohl in der Schlägerei zwischen Alphonse und
Ernest als auch in Bernards Zusammenbruch und in seiner Erschießung des
ehemaligen Kameraden und jetzigen aggressiven OAS-Streiters im
Wahlkampf Robert sowie der Sprengung seines Ateliers ihre Auflösungen-
in der Katastrophe. Kein Happyend für Hélène, aber : ihr Besuch bei
Antoine und seiner Frau, dem so friedfertigen Kleinbürgerglück,
signalisiert, verweist auf gegenpolige Geruhsamkeit in dieser
Umbruchssituation. Resnais konzentrierte sich auf die dramatische
Entfaltung der Konflikte in der Jetzt-Zeit. Er kehrte zurück zu einer
aristotelischen Fabel. Die Wiederkehr der Vergangenheit - das sind
Straßenschilder als Zeichen der vergangenen Zeit von 1939, 1940 und dem
Jahr der Befreiung. De Smoke, der Neureiche, wird erzählt, habe die
Stadt aus den Trümmern aufgebaut, aber auch gekauft. Und wie ist die
Frage des alten Jean an Bernard zu beurteilen, die Frage nach den
Verbrechern, die Muriel, das Algeriermädchen ermordeten. Die Kollision
zwischen Robert und Bernard, den Soldaten des Algerienkrieges, hat in
dieser Frage ihren Grund. Aber Resnais entwickelt kein
Hinundherschalten zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Die
Vergangenheit erscheint in den Verhaltensweisen der gegenwärtigen
Personen und als Hinweiszeichen (Straßenschilder, Stadtbilder). Eine
Folge von Amateurfilmaufnahmen aus der Zeit des Algerienkrieges wird
zum Schlüssel der Konflikte von Bernard, aber auch seines Handelns.
Resnais hatte 1963 die Begegnungs-Story-Dramaturgie auf Gruppen
erweitert, aber er verzichtete auf die bereits entwickelten
Erzähltechniken. Rückkehr zu einer traditionellen Dramaturgie? Zwischen
1963 und 1968 sind es Regisseure der tschechoslowakischen Neuen Welle,
die in originärer Weise die Rückblendendramaturgie weiterentwickeln.
DER SCHERZ von JIRES (1969) erzählt von einem Wiedersehen zweier,
die sich in der Studentenzeit liebten. Er wurde um 1950 wegen einer
Postkarte mit Trotzki-Nonsens relegiert und durchlief verschiedene
Lager. Sie ist Reporterin und mit dem Mann verheiratet, der einst sein
Freund war und der ihn als Vertreter des Jugendverbandes relegierte.
Als Funktionen der Rückblende sind auszumachen:
(1) Die Rückblende organisiert Lebensgeschichte. Sie legt frei
Zerstörungen, d. h. nicht die Reflexion, nicht Subjektivierung von
Erinnerungen bestimmen den Stil, sondern Zeit der Gegenwart und Zeit
der Vergangenheit stehen sich schroff gegenüber. Die Erzählzeit bedarf
nicht der Übergänge, der sublimen psychischen Vorgänge. Die
Vereinfachung und die Zuspitzung in den Episoden sind bestimmend für
die Story.
(2) Die Gegenwartsebene erscheint als Handlungsebene von zerstörten
Beziehungen und Zerstörungen. D. h. Gegenwarts- und Vergangenheitsebene
sind in dieser Rückblendendramaturgie einer Ideologie und Psychologie
der Entfremdung verpflichtet. Jener Anspruch der neuen Welle in der
CSSR, Mythen des Sozialismus anzugehen, wird in dieser Sicht zu
überdenken sein. /5/
(3) Dem Zerstörungs-Motiv entspricht die Zerstörung der
Zeitstruktur von Gegenwartshandlung. Die Rückblenden fragmentarisieren,
schaffen Sprünge, Kontraste, gehen gegen das Finale über in einen nun
gemäßigten Rhythmus, der von Wiederholungsinserts getragen wird und
damit weniger Informationsfunktionen als Ausdrucksfunktionen für den
dramatischen Schluss liefert. D. h. die Rückblenden-Inserts zum
Schluss, die Bilder vom Anfang der Gegenwartsebene wiederholen, haben
ein Aufforderungspotential für den Rezipienten, er hat die moralische
Bestandsaufnahme zu vollenden.
Die Böllverfilmung von Straub (1961) wählt - im Unterschied zu
Bölls Komposition, die Perspektive des Dr. Fehmel, d. h. sie beginnt
mit dem 2. Kapitel und damit bei der 2. Generation der 3 Generationen
einer deutschen Architektenfamilie. Es wird eine Reihungstechnik der
Rückblenden verwendet. Die historisch unterschiedlichen Zeitebenen
werden durch die verfremdete Sprechweise erzählt. Eine Nähe der
Vergangenheit zur Gegenwart ist stilistisches Prinzip von Straub. Die
Nähe von Geschichte und Gegenwart soll auf unbewältigte Historie
verweisen. Mit dieser Absicht treffen sich von Straub und Jires bei der
Verwendung der unvermittelten, der harten Schnitte zwischen Gegenwart
und Historie.
In Milos Formans DIE LIEBE EINER BLONDINE (1965) ist die
Komposition chronologisch linear insofern als die Geschichte vom Ende
her erzählt wird. Sie erzählt ihrer Freundin die Story ihrer Liebe zu
einem Pianistenjungen aus Prag, aber die Rückblendenerzählung der
tatsächlichen Geschichte dieser Liebe offenbart dem Zuschauer einen
misslungenen Ausbruchsversuch aus der eintönigen Provinzwelt zwischen
Fabrikarbeit und Kollektivbeschlüssen im Wohnheim unter der Anleitung
der Erzieherin. D. h. Gegenwarts- und Vergangenheitsebene werden so
verknüpft, dass die Flucht in Lebenslügen als Symptom der Entfremdung
beurteilbar wird.
TYP II
Dramatische Protagonistenfabel in der Gegenwart und Vergangenheit
mit episierten Handlungslinien in der Vergangenheit (L. Anderson, T.
Richardson).
Die Story wird in der Gegenwartsebene durch ein dramatisches
Ereignis exponiert, das eine erste Bündelung von Konflikten der
Zentralfigur bedingt. Sie weist eine dramatische Fabelstruktur auf, die
- so bei den Regisseuren des Free Cinema das angloamerikanische
Mentalitätsmuster des sportlichen Wettkampfes- in einer sich
zuspitzenden Kollisionsdramatik zwischen Protagonisten entfaltet wird.
Die Rückblenden erzählen die Handlungslinien aus der Vergangenheit der
Zentralfigur heraus. Sie sind wichtige Mittel, um die Kausalität der
Motive des Handelns, der Entscheidungen der Zentralfigur in der
Gegenwartsebene zu begründen.
BEISPIELE:
In Richardsons EINSAMKEIT DES LANGSTRECKENLÄUFERS (GB, 1962) ist es
der Kampf um einen Sieg: wird Colin Smith seine Fähigkeiten als
begabter Läufer für einen sozialen Aufstieg nutzen, und damit die
ehrgeizigen Pläne des Direktors der Erziehungsanstalt durchsetzen
helfen oder wird er sich für eine Täuschung, für die Verweigerung
entscheiden, weil er sich über die sozialen Unterschiede zwischen der
Upper Class und seiner sozialen Schicht bewusst ist. Die Rückblenden
dienen hier dazu, in epischer Weite die Motivationen des Colin Smith in
ihrer sozialen Kausalität für die überraschende Entscheidung
aufzuzeigen. Durch die Rückblendentechnik wird die Konfrontation und
mögliche Dressur durch den Anstaltsdirektor nicht zum Zentrum. Es wird
gewissermaßen eine Auseinandersetzung des Smith' mit seiner Herkunft,
mit dem Geprägtsein durch das proletarische Milieu. Während also bei
Richardson die Rückblenden eine dramatische Entscheidungssituation
durch das Freilegen der Motive der Hauptfigur in vielen Episoden, die
in der Vergangenheit angesiedelt sind, episierend baut (übrigens auch
in der Verfilmung von Genets MADEMOISELLE, 1965, in der er eine einzige
lange Rückblende als Schlüssel zur Story und zu der Figur gestaltete),
entdecken wir in Lindsay Andersons LOCKENDER LORBEER (GB, 1963) die
klassische andere Möglichkeit der Spielfilmdramaturgie dieses Typs.
Der Unfall eines Rugby-Profistars während eines Wettkampfes
unmittelbar vor Weihnachten spitzt seine komplizierten Beziehungen zu
einer Witwe mit zwei Kindern, bei der er wohnt, zu. In wenigen Tagen
kommt es zu einem endgültigen Bruch in den Beziehungen zu dieser Frau.
Er zieht aus der Wohnung aus und erfährt kurze Zeit darauf, dass sie
wegen einer Gehirnblutung in ein Krankenhaus eingeliefert wurde. Er
erlebt, wie sie stirbt. Diese Gegenwartsebene klingt melodramatisch
genug, aber Anderson schafft es, eine bittere, eine quälerische
Beziehung zweier Menschen in einer Welt zu zeigen, die es ihnen nicht
möglich macht, ihre kleinbürgerlichen Stereotypen von Wohlstand und
eigenem Heim mit der brutalen Welt des Sports als Verkauf und
Auslieferung des Talents an die Bosse und die Menge in Einklang zu
bringen. Hier werden die Rückblenden das kompositorische Element, das
die dramatische Story-Entwicklung auf der Ebene der Vergangenheit
verbindet mit der kathartischen Wende des Frank Marchim, mit dem
Umbruch vom siegessicheren Aufsteiger zum Mann der Krise.
TYP III
Gerichts- und Tribunal-Storyfilme mit Rückblenden- zwischen
berichtend-informativen Inserts und vielschichtiger epischer
Konstruktion von mehreren Handlungslinien in einem Figurenensemble.
In der Gegenwart wird eine Gerichtsverhandlung, eine Untersuchung
oder ein Tribunal auf Dialogebenen ausgetragen. Der Bau der Story zielt
nicht auf eine individuelle Entscheidung, sondern auf Urteilsfindung.
Diese kann Bestandteil der Story sei. Sie kann aber auch die Lösung an
den Zuschauer verweisen.
Der Gerichtsfilm thematisiert die Gerichtsverhandlung, den Prozess
und muss folglich auf Verhör und Argumentation setzen. Der Rahmen für
die Inszenierung ist notwendigerweise durch die Formalien der
Interaktion und Dialogkommunikation bestimmt. Für eine
psychologisierende Analyse gibt es wenige Möglichkeiten, denn
verhandelt werden Entscheidungsfragen, die objektiv zu beurteilen sind.
Für Osteuropa dürfte DER ANGEKLAGTE von E. Klos / J. Kadar (CSSR, 1964)
ein Schlüsselfilm bei der Neubestimmung von Öffentlichkeitsfunktionen
in den frühen 60er Jahren gewesen sein.
Vom Standard des Gerichtsfilms unterscheidet sich eine Subgruppe,
in der zwar das Tribunal oder die Gerichtsverhandlung die Exposition
bedingt oder/und der Gang der Untersuchungen vor der Verhandlung die
eigentliche Story bilden. Als Beispiele können genannt werden: F. Beyer
SPUR DER STEINE (DEFA, 1966) und als Modifikation dieses
dramaturgischen Modells G. Stahnkes DER FRÜHLING BRAUCHT ZEIT (DFF-DDR,
1965); ein Sonderfall wäre A. Kovács mit KALTE TAGE (Ungarn, 1967).
BEISPIELE
E. Klos / J. Kadar DER ANGEKLAGTE (CSSR, 1964): ein Kraftwerk
musste termingemäß gebaut werden, die Arbeiter waren nur zu gewinnen,
wenn sie dabei auch gut verdienen konnten, man hat also mit Zielprämien
gearbeitet und die verschiedenen Leitungsebenen nahmen dazu
verschiedene Standpunkte ein: die Buchhalter der
Investitutionsabteilung wirtschafteten in ihre Tasche, der
Gewerkschafts- und der Parteifunktionär unterstützten die Linie des
Werkleiters Kudera und sie begründeten diese Linie mit der erreichten
wirtschaftlichen Effektivität und das Ministerium wollte Fehler in der
Durchführung gesetzlicher Vorschriften übersehen im Interesse des
baldigen Abschlusses des Baus.
Nur wenige kleine Szenen ermöglichen menschliche Dimensionen: wenn
ein Kameraschwenk vom Gang im Gericht zum Fenster der vergitterten
Zelle die Verbundenheit, die Solidarität der Ehefrau des Angeklagten
erzählt; wenn der vom Typ her negativ besetzte Verteidiger plötzlich
für den Mandanten eintritt. Es würde nahe liegen, dass die Rückblenden,
die Arbeiter auf der Baustelle zeigen, die Rekonstruktion der
Geschehnisse, die in der Dialogkommunikation der Verhöre benannt
werden, erzählen. Aber diese Funktion wird für die Story-Erzählung
nicht erkennbar. Die Rückblenden deuten mehr Geschehnisse an, vermeiden
jegliche Dramatisierung, Auseinandersetzung, vermitteln aber dem
Zuschauer auch keine neuen Fakten - eher vermitteln sie Bilder einer
Baustelle, sperrig-herb, den Reportagecharakter insgesamt
unterstreichend. Die Rückblende hat keine Erzählfunktion, sie ist ein
Insert zur Illustration oder als Verweis zur Gegenwartsebene.
Offensichtlich- und man muss davon ausgehen, dass es Klos/Kadar
nicht nur um Füllsel, um Anhängsel ging- haben diese Rückblende andere
dramaturgische Funktionen als sonst gebräuchliche Flash Backs.
Erstens: Diese knappen Inserts motivieren die Gegenwärtigkeit des
Gerichtsgeschehens. Die Dramaturgie will nicht die Vergangenheit als
Zitat, sie will nicht die Dramatik vergangener Ereignisse, sie will
also nicht die epische Fülle der Handlungslinien und Geschehnisse, wie
wir sie dann bei F. Beyer SPUR DER STEINE entdecken (und Beyer
stilisiert außerdem mit Western-Genre-Möglichkeiten die Darstellung der
Zimmermanns-Brigade).
Zweitens: Rückblenden in diesem Film betonen die Flüchtigkeit des
Augenblicks, das Momentane, sie deuten die Leichtigkeit des Berichts,
der Reportage an. Also nicht Tiefe der Zusammenhänge, der
Argumentationen, sondern Oberfläche. Wenn dies nicht Langeweile
erzeugen soll, dann müssen wahrnehmungspsychologische Sachverhalte für
die Komposition bedacht werden. Die Rückblenden dieser Art sind
Gegensätze: Baustelle gegen Gerichtssaal, Bildhintergründe und Personen
im Vordergrund - meist halbnah bis total, aber im Saal spannungsreiche
Anschnitte mit Köpfen im Vordergrund - also Bildspannungen und -statik
werden wirksam. Rückblenden erfordern den markanten Bildschnitt und der
Schnitt verändert das Tempo, verändert möglicherweise die Intensität
von Bewegungsmotiven im Bild. D. h. so wie bei den tschechischen
Kameraleuten ein sensibler Umgang mit Bildausschnitt, mit
Kamerafahrten, mit der Komposition der Einstellung Aufmerksamkeit
gefordert hatte ( Jan Curík, Jaroslav Kucera, Miroslav Ondrícek), so
wäre auch die Insert-Rückblende auf ihre Ausdrucksfunktion in der
Montage hin zu bedenken.
Einen Ausnahmefall dürfte András Kovács' KALTE TAGE (Ungarn, 1967)
sein. Der Film beginnt in der Gegenwart: 1945, eine Gruppe von
ungarischen Offizieren, die der Massaker an der serbischen
Zivilbevölkerung angeklagt sind, warten auf ihren Prozess. Unter ihnen
der Befehlshaber des Massakers, der nicht weiß, dass durch eben dieses
Massaker seine eigene Familie, die sich seinerzeit in der Stadt befand,
an der eisigen Donau auch erschossen wurde. Diese Story dramatischer
Ereignisse wird dann geschlossen in einer Rückblende erzählt. In
gewisser Hinsicht hat die Gegenwartsebene von 1945 in der Exposition
und im Finale mehr die Funktion, die Schuldfrage zuzuspitzen. Das
Urteil hat der Zuschauer zu fällen. Die Gerichtsverhandlung wird
ausgespart.
In der Geschichte der DEFA dürfte für diesen Typ der
Rückblendendramaturgie -ausgehend vom Tribunal bzw. von der
Gerichtsverhandlung- Frank Beyers SPUR DER STEINE (1966) eine über
diese Zeit hinausweisende Gültigkeit haben.
Feststellung 1:
Im Unterschied zu den Rückblendendramaturgien der Tschechen, die
gegen Mythologisierung und Entfremdung durch die sozialistische
Staatsmacht vorgingen, sind die DEFA-Rückblendendramaturgien letztlich
immer auf die Legitimation des "ersten deutschen Arbeiter- und
Bauernstaates" ausgerichtet worden. Die Ursache hierfür dürfte in dem
Legitimationszwang gegenüber der BRD gesucht werden. Sie verweist auf
die Besonderheiten der in zwei Staaten gespaltenen Nation, die in den
Medien ihre Selbst- und Fremdbilder produzierten. In SPUR DER STEINE
hatte dies die Deus-ex-machina-Lösung durch Jansen, den
Bezirkssekretär, zur Folge. Im GETEILTEN HIMMEL die
Argumentationsmontagen.
Feststellung 2:
SPUR DER STEINE repräsentiert das Industriesujet des
DEFA-Spielfilms in der Einheit von Männergesellschaft und Wandel der
Wirtschaft. Während im GETEILTEN HIMMEL innerer Monolog und
Autorenerzählerin und vielfältige Montagelösungen der Argumentation
(Argumentationsmontage von Werkleiter, Ingenieur, Brigadier im
Ballsaal) mit einem weitgefächerten Figurenensemble verknüpft werden,
aber immer die Rita-Perspektive Zentrum ist, könnte bei SPUR DER STEINE
davon gesprochen werden, dass in den Zwängen der Männergesellschaft die
Frau zum Opfer wird. Auffallend ist, dass in der de facto
Gerichtsversammlung Kathi zwar ebenso wie Horrath und Balla geladen
ist, aber letztendlich flüchtet. Auffallend ist, dass in diesem
Spielfilm der sozialistischen Industrialisierung eine Frau gezeigt
wird, die unverheiratet ein Kind austrägt, aber nie wird ihre Bindung
zu diesem Kind in einer Szene verhandelt. Die Rivalitäten der
Männergesellschaft bilden das Kraftzentrum der Handlungslinien, nicht
die Emanzipation der Frau. Die Männer halten Gericht über ihr Versagen.
Dabei gilt: Balla, der Anarchist erweist sich als der einzig menschlich
offene, auf andere zugehende Charakter. Er kümmerte sich um Kathi, er
befragt Horrath nach seinen Motiven als Genosse und als verheirateter
Mann. Er grenzt sich vom 2. Sekretär Bleibtreu ab, er fordert
Autoritäten heraus. Aber: je mehr Balla sich Horraths Bestrebungen
verpflichtet, desto mehr geht seine Autorität in der Brigade zu Bruch
bzw. zerbricht die "Gemeinschaft" der Ballas. Ein staatsideologisches
Phänomen der sozialistischen Massenkultur der DDR wird erkennbar: von
der Kollision mit Horrath und dem Wettkampfritual zu Beginn, von der
anarchischen Behauptung der Gemeinschaft der Ballas zu einer abstrakten
Menschengemeinschaft im Namen der Pflicht zur wirtschaftlichen
Effektivität. Das Pflichtphänomen, die Pflichtmoral der sozialistischen
Industriegesellschaft hat notwendigerweise die Disziplin als
grundlegende Sozialisationsanforderung sanktioniert. Deshalb auch nicht
die Tragödie, die Zerstörung, sondern die Deus-ex-machina-Lösung durch
Jansen, den Sekretär der oberen Ebene, der sowohl Horrath Gerechtigkeit
widerfahren lässt als auch versucht, Kathi Klee zu helfen (immerhin
endet die Story, indem er zur Wohnung der Klee fährt, um sich um sie zu
kümmern, aber sie ist bereits abgereist).
Die Rückblendenerzählung arbeitet sich von der Ermittlung der
objektiven Anforderungen auf der Baustelle (Einführung effektiver
Methoden, Dreischichtsystem und im Gefolge Ablösung des Bauleiters) vor
zum Versagen der Männer gegenüber der Frau. Zwei für die dramaturgische
Bauweise des Industriesujets der DEFA-Filme charakteristische
Besonderheiten fallen auf:
(1) Die Gegenwartsebene der Story-Erzählung hat zwei Linien:
- die Gerichtsverhandlung über die Entwicklung der Baustelle und die
Anhörung bzw. Befragung von Balla, Truthmann, Horrath durch Hesselbarth, Jansen, Bleibtreu u. a.
- Ballas Aufforderung an Kathi Klee zu sprechen (1.'14'' und
130.'-131.' im Freien, dazwischen 40.' sie trifft im Vorraum der
Beratung ein, 76.' sie ist weggegangen, 131/32.' sie hat die Wohnung
verlassen).
Warum hat Beyer eine solche Differenzierung getroffen? Wollte er
die Beziehung Ballas zu Kathi nochmals betonen, denn Horrath hatte sie
im Stich gelassen? Man könnte - ausgehend von dem Frauenbild des
sozialistischen Industriefilms - an dieser Bauweise der Gegenwartsebene
auch geltend machen, dass nicht die Zeitebene Gegenwart wichtig ist in
der Erzählung, sondern die Konstruktion eines Gleichgewichts, das sich
als Ungleichgewicht erweist: die Männer-Werk-Ebene. Gerade weil in den
Rückblenden und in der Gegenwartsebene nicht die Stärken der Frau,
gerade weil auch nicht ihre Beziehung zu dem Kind als Argument bedacht
wird, bleibt nur die Rollenebene der Niederlage der Frau in der
Männergesellschaft.
Konsequent wird diese Problematik erst in den 70er Jahren in den E.
Günther- Filmen DER DRITTE (1972) und DIE SCHLÜSSEL (1974) in einem von
der beruflichen Rolle der Frau sich abgrenzenden
Emanzipationsverständnis artikuliert- aber wichtig ist, dass das
Szenarium von G. Rücker zum DRITTEN bereits 1968 beim
DEFA-Spielfilmstudio vorlag. Das Szenarium folgte der DEFA-Tradition
der Dramaturgie der charakteristischen Biographie und nutzte dazu die
Rückblendentechnik.
Die Rückblendentechnik in SPUR DER STEINE erzählt also nicht nur
die Auseinandersetzung zwischen Balla und Horrath, und auch nicht nur
die Schwierigkeiten der Planwirtschaft, sondern einmalig dürfte sein -
auch im Vergleich zu Entwicklungen in anderen osteuropäischen
Kinematographien - dass mit der Rückblendentechnik in SPUR DER STEINE
ein Dreieckskonflikt im Industriesujet gestaltet wurde, der das
Versagen patriachalischer Strukturen im Sozialismus zu thematisieren
gestattete.
Alle Rückblenden sind Bögen von Episoden des weitgefächerten
Figurenensembles, d. h. es handelt ich immer um Ereignisbündel. Die
Bindung aller privaten Bezüge an das Gravitationsfeld des Werks hat
dramaturgisch zur Folge, dass immer die Werkebene und die
Dreiecksbeziehung Kathi-Balla-Horrath zum Repertoire der
Rückblendenepisoden gehört. In den 70er Jahren erfolgte in der DEFA,
ohne dass von den Rückblendendramaturgien die Neuerungen ausgingen,
eine striktere Besinnung auf die individuellen Lebensbereiche und die
individuellen Entscheidungen- auch im Industriesujet- (z. B. BANKETT
FÜR ACHILLES, R. Gräf, 1986).
TYP IV
Reporter- und Rechercheurstory mit Rückblenden - episierende
Lösungen des Dokumentaren (Z. Fabri / F. Santa; A. Scibor-Rylski /A.
Wajda; ein Gegenpol: F. Fellini ROMA, 1972)
Ausgangspunkt sind die Entdeckungen eines recherchierenden
Reporters oder einer Reporterin. Die tragischen Konstellationen der
Geschichte werden durch die Rückblenden in besonderer Weise episiert:
es wird mit dem Widerspruch von Berichten und Erzählen stilistisch
operiert. D. h. das interessante Lösungen im Umgang mit dem
Dokumentarfilm in der Spielfilm-Story realisiert wurden- in der
Spannung von Tragischem, Grotesken, Allegorischem.
Das seit Ende der 50er Jahre in Italien verfolgbare Reportermotiv
(M. Antonioni, F. Fellini) trägt die Widersprüche von Erzählen und
Berichten polemisch aus- ohne dass Rückblendenkonstruktionen für die
episodische Story-Komposition entwickelt bzw. benötigt werden (vgl.
auch die distanzierende Sicht auf den sozialistischen Reporter durch
Evald Schorm in MUT FÜR DEN ALLTAG, CSSR 1964, einem Story-Film über
einen jungen Arbeiter).
EXKURSE zum Reportermotiv in Wajda-Filmen
Für die Entstehungsgeschichte von DER MANN AUS MARMOR von A. Wajda
ist bezeichnend, dass im Juni 1976 die Unruhen in Radom (und in den
URSUS-Werken) stattgefunden hatten, und er auf ein Szenarium von 1963
von Aleksander Scibor-Rylski zurückgriff. Bereits im Februar 1977 fand
in Warschau die Premiere statt - mit dem Ergebnis, dass innerhalb von 6
Wochen 2 Millionen Besucher gezählt werden konnten. In dem Szenarium
von 1963 endete der Film mit dem Besuch einer Abendschule durch den
Aktivisten Birkut. Wajda plante für 1977 mit der Erinnerung an die
Ereignisse vom Dezember 1970, der Erschießung von Arbeitern und
Bevölkerung in Gdansk, dass Agnieszka, die Dokumentarfilmregisseurin,
und Maciek, der Sohn Birkuts, das Grab suchen. 1981 in DER MANN AUS
EISEN wird diese Episode Bestandteil einer Biografie des Macieks
zwischen 1968/70 und den Streikkämpfen auf der Leninwerft 1980 in
Gdansk. In der vom DFF am 12. 4. 91 ausgestrahlten Sendung des MANN AUS
MARMOR fährt die Diplomandin - nachdem ihr verwitweter Vater sie
bestärkt hat, Tadeusz Birkut aufzusuchen, um mit ihm gemeinsam das
Projekt beim TV durchzusetzen - nach Gdansk und trifft den Sohn. Er
teilt ihr nur mit, dass der Vater gestorben ist. In den letzten
Kameraeinstellungen gehen beide den endlosen Gang in der TV-Anstalt zum
verantwortlichen Redakteur.
PROBLEM 1
Was ist ein positiver Held? Oder: die Kritik der Moral und der Ästhetik des Erfolgsmenschen
Die Story-Erzählung von DER MANN AUS MARMOR gleicht der von Orson
Welles CITIZEN KANE. Der amerikanische Erfolgsmensch und sein Scheitern
an der Hybris- das war die Kritik einer Moral, von der der American
Dream des Erfolgs geprägt und Amerika gefährdet wurde. Die
Ähnlichkeiten sind auffallend: - Reporter/Dokumentaristin recherchieren das Leben eines
Erfolgsmenschen. In dem einen Falle ist der Tod des Kane und die
psychoanalytische Enträtselung der Kindheit- Stichwort "rosebud"-
verbunden mit Befragungen seiner Kollegen und seiner Frau für die
Rückblenden-Episoden bestimmend. In dem anderen Falle ist es eine
Diplomandin, die ihren Film "Helden für eine Saison" produzieren will.
Die Frage nach dem Erfolg ist nicht ausschließlich die einer
Erfolgs-Story der frühen Jahre des sozialistischen Aufbaus - also des
Geburtsjahres 1952 dieser Diplomandin. - Wajda verfolgt eine sozial gestische Darstellung von
Situationen, Vorgängen, Umständen von Menschen, die von der
Notwendigkeit ihres Einsatzes für ein besseres Polen überzeugt waren-
und er legt frei, mit welchen Rollenzuweisungen und -verinnerlichungen
die institutionalisierte Herrschaft (Propaganda, Parteiorganisation,
Staatssicherheit) die Individuen der Show, der Theatralität
verpflichtete. Zugleich konfrontiert er diese Handlungsstrategien des
Erfolges in der Geschichte des Sozialismus mit der moralischen, nicht
ideologischen Befragung der älteren Generation durch die neue
Generation. Deren Werte - so Agniescka - bestehen aus: Bereitschaft zur
Auseinandersetzung über Fehler, Stagnation, Risikolosigkeit,
Begeisterung und Engagement für den Öffentlichkeitsauftrag des
Künstlers, statt Privateigentum, statt Besitz, statt
Konsummöglichkeiten Suche nach Menschen, nach Solidarität, nach
Kommunikation, nach Identitäten, die Handlungsfähigkeit in politischen
Prozessen ermöglichen.
Ein entscheidender Unterschied zu O. Welles' Kritik dürfte darin
bestehen, dass der Pole Wajda 1976 nicht dem amerikanischen
Individualismus, sondern einem polnischen Neuansatz von Solidarität
folgt - indem er falsche Solidarisierungen in der Vergangenheit
vorführt. Er stellt aus als positiven Wert, dass alternative
Generationskontinuitäten des Widerstands sich entwickeln (Agniescka und
ihr Vater; die Birkuts).
PROBLEM 2
Polnische Traditionen: der Gegensatz von Poet und Journalist in St. Wyspianskis WESSELE - Gegensätze der Geschichtsschreibung.
Exkurs I:
Reportermotiv in den 60er Jahren in der europäischen Filmkunst
In den 60er und 70er Jahren lässt sich in der europäischen
Filmkunst ein Wandel des Reportermotivs verfolgen. Bei Fellini ist der
Reporter Repräsentant der Entfremdung, des Luxus, der konsumierenden
Gesellschaft (Marcello, der Klatschkolumnist in DOLCE VITA, 1959).
Andererseits ist in den 70er Jahren der Anwalt öffentlicher
Angelegenheiten der Erzähler, der Geschichtsschreiber ein Reporter
(SCHIFF DER TRÄUME, 1983). In den sozialistischen Ländern konstatieren
wir in den 50er/60er Jahren Reporterfiguren, die die Anwaltschaft der
öffentlichen Meinung, der Wahrheitssuche vertreten (Z. Fabri 20
STUNDEN, 1964; S. Gerassimow DER JOURNALIST, 1967). Bezeichnenderweise
hat Wajda in OHNE BETÄUBUNG (1979) die Krise der Öffentlichkeit
verhandelt: Der Journalist als Modell der Analyse von Lebenslügen- aber
seine Konfrontationen des erfolgreichen Dokumentaristen Borski und der
Diplomandin Agniescka, des TV-Chefs und der Dokumentarfilmregisseurin
und in DER MANN AUS EISEN (1981) des von der Geheimpolizei erpressten
TV-Journalisten, der als Provokateur auf das Streikkomitee und auf den
jungen Birkut angesetzt wird (sich aber zum Schluss zu den
Solidarnocse-Leuten bekennt- inzwischen ist aber auch im TV die
Ablösung erfolgt).
Beachtenswert für die polnische Entwicklung ist auch, dass auf dem
nationalen Festival in Gdansk 1979 das Reporter-Motiv verfolgbar war
in: K. Kieslowski DER AMATEUR (Goldener Löwe von Gdansk, 1979/Großer
Preis von Moskau, 1979) und Barbara Sass LIEBLOS, 1979)
Exkurs II:
Poet und Journalist in Wajdas HOCHZEIT (1973) nach St. Wyspianski.
In der Verfilmung von Wyspianskis WESSELE durch Wajda (1973) wird
auch die aus dem 19. Jahrhundert und der polnischen Neoromantik
verpflichtete Unterscheidung zwischen dem Journalisten und dem Poeten
übernommen. Poet und Journalist waren einst einer gemeinsamen
literarisch-öffentlichen Produktion verpflichtet, aber beide werden aus
der Perspektive einer typisch polnischen Realitäts- und Geschichtssicht
unterschiedlich bewertet: in den Auseinandersetzungen um die Erhebung
im Länderdreieck von Russland, Österreich, Preußen (1864)wird die
vergangene Adelsrepublik und der Bauer als Träger der Aktion
beschworen. In diesen geschichtlichen Situationen ist es der Poet, der
Hoffnungen artikuliert und der Journalist, der die Hoffnungen
aufgegeben hat.
So beschwört der Poet den Helden:
"Mir schwebt ein Drama vor,
rauschhaft, bedrohlich und gleitend
wie eine Polonaise; Stöhnen aus den Kasematten-
Kettenklirren, Sturmgebraus. . . "/6/
Dagegen klagt der Journalist im Gespräch mit Stanczyk, einem Hofnarren:
"Der guten Narren Schar hat sich gelichtet, wir legen graue Farben an;
Das Zukunftsbild verblasst. . . furchtbare Dinge geschehen.
Den Lauf der Dinge mitansehen,
die vom Erträumten so fern,
so unendlich fern von allem,
was groß war in diesem Land;
was groß war alles verfallen
und unwiderruflich verblaßt. "/7/
Das heißt zum einen: In den Personen des Poeten und des
Journalisten wird die Erzählung von Historie als literarische Aufgabe
bestimmt, dies verbindet Poesie und Publizistik. Zum anderen aber ist
es der Gegensatz von Hoffnungen, von Emphase, von
handlungsmobilisierendem Öffentlichkeitsauftrag und von Aufgabe der
Zukunft, von resignativer Akzeptanz der Balancen der Geschichte im
Niedergang. Es wäre ein totales Missverständnis der polnischen Sicht,
wollte man bei Wajda eine Moralisierung von Kunst und Journalismus im
Sinne von utopischem Sendungsbewusstsein einerseits und sarkastischer
Selbstzerstörung andererseits vermuten. Eher geht es um das Paradox, um
die Dialektik der Widersprüche in historischen Situationen. Wajda, der
in ASCHE UND DIAMANT (1958) die aristotelische Tragödie wählte,
episiert die tragische Grundkonstellation der Birkut-Biografie - das
wäre nicht nur in der episodischen Recherche-Story mit ihren
verschiedenen vergleichbaren Ebenen als da sind Archivmaterialien,
Monumentaldokumentarfilm, Wochenschauberichte und die als Rückblenden
erzählten stories der Befragten begründet. Die tragische Konstellation
des Birkut wird über Elemente der aristophanischen Komödientradition
entwickelt (z. B. die Inszenierung der Sonderschicht durch den jungen
Dokumentaristen und den Parteisekretär, die komisch-makabre Dimension
der Figur des Michaleks, des Sicherheitsmannes und späteren Striptease
- Klubmanagers)- wobei die Staatsaktionen durch die komödiantischen
Vergröberungen in ihrer Bedeutung "verkleinert" werden (ein Mittel, das
Büchner in LEONCE UND LENA, in der Puppenkomödie, anzuwenden wusste).
PROBLEM 3
DER MANN AUS MARMOR (1977) und DER MANN AUS EISEN (1981) - von der Leitbildkritik zum Aufbau neuer Leitbilder
DER MANN AUS MARMOR lag bereits 1963 als 1. Szenarienentwurf vor
(Aleksander Scibor-Rylski). Als historisches Vorbild soll ein Michael
Krajewski existiert haben (so in einem Interview im italienischen TV
RAI von Wajda erzählt). Pläne zu einer Fortsetzungsgeschichte bestanden
1977, aber der Kriegszustand, der 1980 auf das Nationale Festival in
Gdansk unmittelbar gewirkt hat, dürfte Wajdas Parteinahme für den
Wandlungsprozess in Polen unmittelbar beeinflusst haben.
Beide Filme sind im Werk Wajdas markante Schnittpunkte. Mit ihnen
vollzieht sich die Wende von den Literaturverfilmungen (Iwaskiewicz, W.
Reymont, St. Wyspianski) der ersten Hälfte der 70er Jahre zur
biografischen Geschichtserzählung der jüngsten polnischen Historie -
genauer: 1950 bis 1970/1968-1980. (Seine TV-Produktionen in dieser Zeit
vernachlässigen wir z. B. DIE TOTE KLASSE, 1977, auch die
Literaturverfilmung DIE MÄDCHEN VOM WILKOHOF, 1979, aber auch OHNE
BETÄUBUNG, 1978 und DER DIRIGENT, 1980.) Es geht - am Beispiel des
Bestarbeiters und der Dokumentarfilmregisseurin - um Wajdas Kritik der
institutionellen Beherrschung des Individuums. Er entwickelt in beiden
Filmen seine Kritik an Macht- und Ideologiemechanismen des polnischen
Staatssozialismus. Wajda funktionalisiert Montagen, lässt den Zuschauer
die Falschheit von Dokumentarfilmen der frühen 50er Jahre ausmachen.
Seine Montagen des Dokumentarmaterials sind Rückblenden besonderer Art:
mit ihnen wird die Historie aufgerufen und in der Montage wird die
Nicht-Identität von Bilderwelten und Realität thematisiert. Eine Kritik
der Ästhetik der Massenkultur des Sozialismus und ihrer Träume wird mit
den Montagen möglich. Das Verfahren macht deutlich, dass
Herrschaftskritik nicht nur an Figurenrepräsentanzen verfolgt werden
kann, sondern gleichermaßen an den Bildern, den Sehweisen, mit denen
Herrschaft kommunikativ vermittelt wird.
Exkurs I:
Erneuerung des Dokumentarprinzips in der Rückblendendramaturgie
Bei Wajda werden unterschiedliche, entgegengesetzte Moralnormen ausgetragen in den Protagonistenmodellen und es erfolgt eine Besinnung auf eine Technik des dokumentaren Erzählens.
Wajda hatte in DER MANN AUS MARMOR eine Kontrapunktik von mehreren
Ebenen des dokumentaren Materials oder der Nachinszenierung mit der
Rückblendendramaturgie verbunden. Er machte daraus eine Frage des
Materialwertes von Dokumentarfilmaufnahmen in der
Rückblendendramaturgie:
(1) er unterscheidet das Ausschuss-Material, d. h. es zeigt Realitätsausschnitte, die der Zensur anheim fielen,
(2) die Monumentalästhetik des Dokumentarfilms, der die sozialistischen Erfolge demonstriert,
(3) die dokumentar-inszenierten Erzählungen der Befragten.
Wajda arbeitete fast immer mit Protagonistenfabeln. Deshalb sind in
MANN AUS MARMOR die von Wider-Sprüchen getragenen Dialoge so wichtig
(und deshalb ist auch die Gegenlösung so interessant: die dialoglose
Episode im Komitee für Staatssicherheit, wenn er solidarisch mit Witek,
der vorgeladen wurde, auf die Vernehmung wartet). Godard hatte 1968 die
These von der Nicht-Identität von Bilderwelt des Imperialismus und
Erfahrungswelt der Massen zugunsten der Reduktion der Bilder und der
Aufwertung der Sprache, der Worte in der Spielfilmdramaturgie
proklamiert. In den politischen und moralischen Auseinandersetzungen im
Polen der siebziger Jahre- insbesondere um 1980 -wurde die Reflexion
des Dokumentarprinzips, der dokumentaren Erzählmaterialien und
-techniken von diesem Grundansatz bestimmt - aber die nationalen
Bezugspunkte waren von denen der "Linken" in Westeuropa grundsätzlich
unterschieden.
Exkurs II:
Die Episierung der Protagonisten - Auflösung der Tragödienstruktur durch Wajda? Biografien und Geschichte im Gegenwartsfilm
Generell vorweg diese Feststellungen:
- das Paradox von Poet und Journalist, also die neoromantische
Diskussion der Geschichtsschreibung in der paradoxen nationalen
Situation führt in MANN AUS MARMOR zur grotesken Sicht auf die
tragische Konfliktdimension des Tadeusz Birkut; hinzukommt Wajdas Sicht
auf die Generationsfrage und das Ausmachen einer neuen Generation der
solidarischen Verantwortung gegen die Vereinnahmung durch die
Institutionen der Herrschaft;
- die verschiedenen Ebenen des Dokumentarischen werden auch
kontrapunktisch in einer Weise gesetzt, dass eine Ästhetik- und
Ideologiekritik der Bilder und der Verhältnisse zustandekommt (beachte
außerdem, dass der Dokumentarfilm mit dem Ball 1950 und der Herkunft
des "Märchenprinzen" vom Dorfe beginnt und so einem Klischee des
bürgerlichen Unterhaltungsfilms entspricht, d. h. die "Traumfabrik" und
die Träume der Massenkultur werden analysierbar in der
kontrapunktischen Montage des Dokumentaren);
- In DER MANN AUS MARMOR (1977) und DER MANN AUS EISEN (1981)
erzählt Wajda die Recherchen und die Biografien aus unterschiedlichen
Perspektiven: A.
1977 (1963) ist es die Perspektive der jungen Diplomandin, die die
Rahmenhandlung und die Recherchen bestimmt; 1981 ist es die Perspektive
eines TV-Redakteurs, der von der Geheimpolizei erpresst wird, aber zum
Schluss sich für das Streikkomitee entscheidet. Agnieszka ist
inzwischen arbeitslos und Frau des Maciek Borski. B.
1977 (1963) ist eine konsequente Verwendung des dramaturgischen
Befragungsmodells von CITIZEN KANE konstatierbar. Ausgangspunkt ist die
Rahmenhandlung um die Diplomandin und ihr Projekt. Sie befragt -
ausgehend vom Archivmaterial des Studios -
1. den Dokumentarfilmregisseur Borski
2. den Sicherheitsoffizier Michalek, der in der Gegenwart einen Stripteaseclub managt
3. sie interviewt den rehabilitierten Witek, der die Story der Ehe Birkuts erzählt
4. sie fährt nach Zakopane und spricht mit Hanka, der Ehefrau
5. sie interviewt in Nowa Huta auf dem Dach eines Hauses einen
früheren Arbeitskollegen des Birkut, der auf die gebaute Stadt
verweist, aber nicht über die Vergangenheit sprechen will
6. sie verständigt sich mit ihrem Vater und fährt zu Birkuts Sohn
nach Gdansk, der mit ihr in das TV-Studio fährt, damit der Film gemacht
werden kann.
Dagegen ist der Film von 1981 von den dramatischen Ereignissen der
politischen Zuspitzung 1980 während der Streiks auf der Lenin-Werft
bestimmt. D. h. die Protagonisten der sozialen und politischen Ebene
haben nicht nur ihre Figuren in der Story: Direktor,
Geheimdienstoffizier, der TV-Redakteur und andererseits der junge
Birkut, das Streikomitee, Agnieska. Notwendig ist historisches
Belegmaterial zur Gegenwart: deshalb Walesa, deshalb die Verhandlungen
des Streikkomitees mit der Regierungsdelegation, deshalb der Sieg der
Streikenden. D. h. die Gegenwart hat eine andere Dramatik der
Ereignisse und folglich ist die historische Zeit durch den Auftrag des
TV-Redakteurs, an Birkut heranzukommen, an das Streikkomitee
heranzukommen (um Vorwand für Provokationen zu liefern), überlagert.
Nun sind es Berichte - vor allem des jungen Birkut, auch der
Vermieterin, bei der das junge Paar in den siebziger Jahren
Unterschlupf gefunden hatte, vor allem aber das Gespräch zwischen dem
TV-Redakteur und Agnieska in einem Kellerraum des Hotels (oder eines
Werftgebäudes?). Also 1981 erfolgt eine für Wajda neue und nur aus den
politischen Ereignissen von 1980 in Polen erklärbare Zuwendung zum
Genre der historischen Biografie, wobei die Gegenwartsebene über eine
Rahmenhandlung hinauswächst, weil der Sieg von Solidarnosce Höhepunkt
wird. Es ist einzig in Polen defacto an der Schwelle der 80er Jahre zu
einer neuen Sicht auf die Dramaturgie der politischen Biographie eines
Arbeiters der Nach-68-er Generation innerhalb des sozialistischen
Lagers gekommen, d. h. Wajda könnte auch mit diesen Filmen in einem
historischen Bogen von Kawalerowiczs ZELLULOSA, 1954, her zum neuen
Verständnis politischer Biographien in den 70er/80er Jahren beigetragen
haben.
PROBLEM 4
Fellinis Thematisierung der Dokumentarfilmregie in ROMA (1972) und die Rückblendentechnik
Auf welche filmgeschichtlichen Stilentwicklungen der 60er Jahre
reagiert Fellini mit ROMA? Gibt es Bezüge zur Nouvelle Vague, zum
cinema direct und zum cinéma verité? Welche neuen Akzente der Modelle
episierender Dramaturgie der 60er Jahre sind bedenkenswert?
FESTSTELLUNG 1:
Generell neu bei Fellini:
Erstmals verließ Fellini die Orientierung auf Figuren, ihren
Reifeprozess und favorisierte Situationen. Es ist eine
Grenzüberschreitung seines Konzeptes der episierenden Dramaturgie. In
Italien ist dies die Zeit, in der Pasolini DIE AFRIKANISCHE ORESTIE
(1968-73) versucht (u. a.: PAPIERBLUME, 1968/69, MEDEA, 1968,
SCHWEINESTALL, 1969; TEOREMA, 1968). Bei Pasolini ist auch das
Interesse an der Antike zu entdecken, aber er zielt auf Afrika, Syrien,
Orient, Griechenland, Palästina. Pasolini sucht mehr nach
Spiegelbildern neuer sozialer Umwälzungen in der Dritten Welt in diesen
alten Kulturen. Fellini sucht mehr die postmoderne Relativierung
historischer Normative in ROMA.
FESTSTELLUNG 2:
a) Ironisiert Fellini Argumente der Römer über die Geschichte ihrer
Stadt, über ihre Gegenwart und Zukunft, folgt er einer zentralen
dramaturgischen Frage des Dokumentarfilms in einer Zeit, da Cinema
direct und Cinéma verité nahezu ein Jahrzehnt alt sind? Also: es werden
in der einzelnen Episode nicht verschiedene Entwicklungen von Figuren
gezeigt sondern Verhaltensweisen in Vorgängen und Argumentationen (z.
B. die Vorstadtvariétes der Vorkriegs- und Kriegszeit als Synthese von
Circus maximus und Bordell, er stellt die brutale Art des Publikums
aus; die Autobahnepisode in ROMA summiert ein Bild der Zerstörungen -
ohne dass eigentlich konkrete Individuen als Verursacher ins Bild
genommen werden, was auf existentielle Cultural Patterns moderner
Zivilisation zielt; Fellini sagt: „Rom ist die Heimat des Pomps, des
Ornaments, der Schminke, des Barocks. “ /8/
b) Entdeckbar ist eine Rückblendendramaturgie, die die
Widersprüchlichkeit von individuellem und kollektivem Gedächtnis
objektiviert - auf der Argumentationsebene, aber: es geht Fellini um
Gesellschaftspanoramen (vgl. die kirchliche Parade, die Bordelle und
die Varietéaufführungen, das Durchwandern von Travestere - ein
Quartierquerschnitt).
Drei Perspektiven macht Fellini geltend in ROMA und sie sind bestimmend für die Fash Backs:
„Der Film weist drei Perspektiven auf: die erste, die sich auf
meine Vergangenheit, auf meine Kindheit bezieht, ist eine
humoristische, groteske Einleitung, eine Kollage aus den Klischees der
Epoche. Sie wissen ja, diese Werbeplakate für Hochzeitsreisen, diese
Deformierungen durch die Schule und all diese Phrasen, die ungestalten,
primitiven Dinge, die der Pabst gut heißt.
Die zweite ist die Perspektive der Erinnerung: ein Heranwachsender
geht nach Rom, entdeckt die Römer, die Kirche, die Frauen, das Music
Hall. Die Sequenz über das Music Hall ist die politischste: ich zeige
mit einem Gefühl von Mitleid und Scham, das Klima der Ignoranz, des
Aberglaubens, des Obskurantismus und der Sentimentalität, in welchem so
viele Römer während des Krieges lebten, unter dem Faschismus und
während der Bombardierung Roms.
Die dritte Perspektive ist die des Filmautors, der dem Publikum die
Freude macht, ihn betrachten und ihm beim Filmen zusehen zu dürfen. Und
dieser Filmautor äußert sich über den Verkehr, die Untergrundbahn, die
kirchliche Parade und das große symbolische nächtliche Finale mit den
Motorradfahrern, die durch die Stadt rasen. “/9/
c) Fellini, der von sich ironisch sagt, er sei ein Lügner, kehrt
das Dokumentarprinzip um, das er im italienischen Neorealismo selbst
vertreten hatte (PAISÁ: die Franziskanerepisode, 1947; DIE ERDE BEBT;
Visconti, 1948) und das für die Spielfilmregie der 60er Jahre viele
neue Impulse vermittelte, endgültig nach 1965 : alles wird im Studio
als Imitation der Realität nachgebaut und die Studiowirklichkeit
erscheint als der schöne Schein der Realität. Nicht das Abbild, sondern
die Konstruktion der Realität. Wichtiger scheint mir aber dies zu sein:
die Realität in ihrer tatsächlichen sozialen Irrationalität übersteigt
die Grenzen der Vorstellbarkeit (so äußerte er zu SCHIFF DER TRÄUME,
1983, dass die Möglichkeit des Krieges außerhalb der Vorstellungskraft
seiner Kunst liege, deshalb wählt er die Ironie und trägt mit ihr eine
Welt des Schönen aus: der Kreuzer ist bei aller Gefährlichkeit ein
Kunstwerk und diese Ebene des Modells wird nie verlassen). Nur auf der
Ebene der Modelle kann die Ironie noch als ästhetisches Potential einer
Gegenwelt zur irrationalen Realität gesellschaftlicher und
geschichtlicher Phänomene entfaltet werden. Dies hat Konsequenzen für
Fellinis Umgang mit Rückblenden und dem Dokumentarismus.
Generell ließe sich sagen:
a) Fellini will nicht Rom als historisch belegbares
Herrschaftszentrum eines Weltreiches ausstellen und versucht nicht, die
Authentizität der Stadt, ihrer Historie zu rekonstruieren. Er wählt
eine andere Sicht auf Rom und die Römer. Sein „Rom“ schäumt über von
unzähligen Gegenkräften zu Krieg und Kampf der Mächtigen um Herrschaft
. Er stellt den Lebensgenuss der Römer aus – so wenn er sie in
Travestere lukullisch ausstellt. Er mythologisiert das Colosseum im
unendlichen Autostrom der modernen Großstadt zum Koloss schlechthin.
b) die Thematisierung der Entdeckung der Stadt (ein Regisseur und
eine Reporterin machen einen Dokumentarfilm über Rom) und der
Erinnerung (der Regisseur erinnert sich an „sein“ Rom, das der
Vorkriegszeit, der Kriegszeit, der Nachkriegszeit) führt
notwendigerweise zu den Fellinischen Phantasieakten, die den Anspruch
des Dokumentaren unterlaufen. Fellini macht eine Ironie im Umgang mit
Realitätsvorstellungen überhaupt geltend. Alles wurde im Atelier
gebaut. Die Sequenz „Fahrt nach Rom“ ist eine geniale Parodie auf die
Ausschließlichkeitsansprüche der Authentisten der dokumentaren Methode.
Zum anderen ist es die Ironie im Ausspielen von Objektivität der
dokumentaren Methode und der Subjektivität des Erinnerns des
Individuums. Subjektivität als Kontermöglichkeit historischer Normative
im Umgange von Generationen mit dem Rombild (vgl. die Interviews/ die
Diskussion mit den jungen Leuten, die Fellinis Rom-Bild kritisieren).
Die Subjektivität als Einkreisen von Erfahrungen, individuellen
Beobachtungen - als Ablehnung von stereotypen Urteilen). Das motiviert
die Rückblendentechniken. Dieses Spiel mit der dokumentaren Methode
führt ihn nicht zu einer assoziativen und surrealen Rückblendentechnik.
Es ist eher die postmoderne Skepsis gegenüber der Unerschütterlichkeit
historischer Normative und eine zivilisationskritische Sicht, die seine
Aufgabe des Dokumentarismus prägt.
TYP V
Grenzfälle der Rückblendendramaturgien- Differenzierungen von
Autoren- und Figurenperspektiven in Montagelösungen des Imaginären (L.
Bunuel, V. Chytilová, J. Jires, A. Kluge, J. Nemec, I. Szabó;
Entwicklungen in den 70er Jahren: die travellings des Theo
Angelopoulos)
Obwohl man annehmen müsste, dass Rückblenden eine subjektive
Determination auszeichnet, d. h. dass es Umschnitte im Bewusstsein der
Figuren gibt, sind doch viele Rückblenden-Storyfilme- insbesondere in
den dramatisch orientierten Stories - von einer realistischen
Ereignisorientiertheit der Darstellung bestimmt und nicht von
surrealen, assoziativen Blendendramaturgien (als Extrem der zuletzt
genannten Blendendramaturgien könnte verwiesen werden auf: L. Bunuels
Konzept der Erzählung der Vorstellungswelten im ANDALUSISCHEN HUND,
1928, aber auch im DISKRETEN CHARME DER BOURGEOISIE, 1972, und im
OBSKUREN OBJEKT DER BEGIERDE, 1978 - ein Sonderfall wäre die
Konstruktion der Story von SCHÖNE DES TAGES, 1968).
D. h. die Welt der Erinnerungen bekommt im Diskurs ihre Koordinaten
durch Blende, Schnitt, durch die Bildkomposition und den Wechsel der
Bildspannungen, -harmonien. Es entsteht eine Erzählung von Vorgängen,
Figurensituationen, die den Ereignischarakter in der Erzählung betont
(m. E. z. B. klassisch in HIROSHIMA MON AMOUR, in DER GETEILTE HIMMEL
der DEFA wird noch als ordnendes Prinzip eine Erzählerstimme zusätzlich
eingesetzt). Deshalb kann man, muss man in der Rückblendendramaturgie
noch einen weiteren Typ der Komposition der Story und der Figuren
unterscheiden. Die Rückblende als dramaturgische Blende ins Imaginäre,
d. h. dass in der Stilisierung durch den Regisseur bewusst die
Vorstellungswelten erzählt werden- im Kontrast zur Realebene der
Handlung.
Der Debütfilm von Jan Némec' DIAMANTEN DER NACHT (CSSR, 1964) war
in der ersten Hälfte der 60er Jahre experimentell wirksam. Die Flucht
von zwei jüdischen Jungs aus einem Waggon eines KZ-Eisenbahntransports
in einen labyrinthischen Wald wird von einem Gebären von Bildern aus
Erinnerungsfetzen und Hoffnung begleitet. Nèmec splittert auf, setzt
stilistisch überhöhte, zu Fotografien erstarrte Straßen-, Haus- und
Treppenansichten des Prager Ghettos in einen Joycschen Duktus um. Der
Schnitt verbindet hier nicht, er trennt, fragmentarisiert, zeigt
Fremdheiten auf. Szenische Vorgänge sind oftmals nur dokumentare
Beobachtungen (so die Selbstdarstellungen einer Altmännergesellschaft
als Jagd- und Fängergemeinschaft; ein Bauer auf dem Feld, dem die Frau
Brot und Getränk bringt) und diese Dokumentarsequenzen werden zu
paradoxen Grotesken von provinzieller Friedfertigkeit, weil die
Verformungen der Emotionen und Wahrnehmungen der Flüchtenden durch ihre
Angst, Gier, Sehnsucht erzählt werden.
Als ein interessantes dramaturgisches Beispiel dürfte auch Istvan
Szabós APA/DER VATER (Ungarn, 1966) gelten. Interessant deshalb, weil
die Befreiung von falschen Leitbildern erzählt wird - eine Kindheit und
Jugend zwischen 1945 und 1958/60. Szabó erzählt die Geschichte eines
Jungen, dessen Vater im Krieg Arzt war. Er lernt, dass er Macht über
Menschen gewinnt, wenn er diesen seinen Vater als Partisan, als
bedeutende Staatspersönlichkeit der Stalinära ausgibt. Der Junge
beginnt in seiner Einbildungskraft mit den Mechanismen der Stalin-Ära
zu spielen. Am Schluss langt er bei der Wahrheit an und im Bild des
Durchschwimmens der Donau von vielen jungen Menschen entsteht das Bild
einer Generation, die sich befreit hat von falschen Mythen und zu neuen
Ufern aufbricht. Die Einbildungskraft des Kindes ermöglichte eine
Erzählweise, in der die jeweils gegenwärtige Welt des Kindes und des
Jugendlichen mit den filmisch erzählten Vorstellungswelten
kontrapunktisch verbunden wurde. So stehen sich stalinistische
Schulwelten und eine im Genre der Verfolgungsjagden von Gangsterfilmen
und Western erzählte Vorstellungswelt des Jungen gegenüber. Die
kindliche Welt belegt, wie sozialistische Ideologien in eine
Abenteuerwelt verwandelt wurden. Viel sagt dies aus über die
Bewältigung des Alltages, über widersprüchliche Bewusstseinslagen in
einer autoritären Gesellschaft. Der Autorenstandpunkt geht die
Figurenperspektive des Kindes kontrapunktisch an, verfremdet parodiert.
Es sind dies 1. die Verfremdungen auf der Ebene von O-Ton und Musik in
Relation zur Bildaussage, 2. die parodierende Darstellungsweise von
Miklos Gabór, der den Vater in der Vorstellungswelt des Kindes für den
Zuschauer verfremdend darstellt und 3. die Allegorisierung des
lapidar-alltäglichen Vorgangs, eine alte Straßenbahn wird nach dem
Krieg in Gang gesetzt, durch barocke Musik wird eine Überhöhung in
einer Parabel geschaffen. D. h. diese Blendendramaturgie verweist uns
auf die Möglichkeit, zwischen Autorenstandpunkt und Figurenperspektive
mittels der Musik, mittels parodierender Spielweisen der Schauspieler
die epischen kommentierenden Ebenen zu verstärken.
Es ist das Verdienst der tschechischen Neuen Welle, dass ihre
Regietalente auch die klassische Rückblendendramaturgie (z. B. in
Marcel Carné LE JOUR SE LEVE/DER TAG BRICHT AN, 1939) und die von der
französischen Nouvelle vague (M. Duras, A. Resnais, A. Robbe-Grillet)
entwickelten modernen Erzähltechniken der Rückblendendramaturgie
modifizierten.
In dem Debütfilm aus dem Jahre 1963 DER SCHREI (KRIK) arbeitete
Jires im Finale auch mit Wiederholungsinserts- ein Verfahren das
insbesondere auch J. Nemec verfolgt hat. Die Rückblendendramaturgie in
dieser Story, die in der Gegenwartsebene den Tag der Niederkunft einer
Frau verfolgt und simultane Ereignisse in Episoden erzählt: die Frau in
der Klinik und ihr Mann, ein TV-Mechaniker, der seiner Arbeit nachgeht
und verschiedene Begegnungen hat (auf Straßen, in Wohnungen,
Alleinstehende und Ehepaare, ins Kino geht, ein Kinderbett kauft von
einem Maler, zu Hause in Fotoalben blättert), ist notwendig, um zu
einer Vielzahl von Zusammenhängen, zu geistigem und emotionalem
Reichtum zu gelangen. Diese Story - Konstruktion durch Rückblenden
weist tschechische Besonderheiten auf:
(1) Wenn auch DER SCHREI eine Fabel aufweist, so ist aber die
Aufsplitterung in Episoden, in Ansichten und Gegenansichten, in
schauspielerische Szenen und Wochenschaumaterial, in Atelier- und
Außenaufnahmen bestimmend. Jires arbeitete zeitweise in der Laterna
magica und hat deren "Spot"-Technik, die Montagen von Ansichten und
Gegenansichten dort erprobt. 1960 erschien Ludvík Askenazys Montageband
CERNÁ BEDÝNKA/DIE SCHWARZE SCHATULLE, eine Montage von Fotografien,
Songs, Balladen, Gedichten, die für die Konstruktionen von Welt- und
Lebensansichten, wie sie in den Filmen von Jires, aber auch von Jan
Nèmec, auch der Vèra Chytilová verfolgbar ist, von grundsätzlicher
Bedeutung war. Der Fortschritt dieser Technik bestand nicht nur in der
Komposition verschiedener Materialien und Genreelemente. Er baute auf
einer Entdeckung der kleinen Welten des Alltagslebens auf: einerseits
Bruchstücke, Splitter der Realität und andererseits menschlicher
Kosmos.
(2) Die Rückblendendramaturgie hat eine veränderte Funktion, weil
nicht die Beschwörung der Vergangenheit- z. B. verdrängte
Verhaltensweisen aus der Zeit der deutschen Okkupation in Frankreich in
Resnais ´HIROSHIMA MON AMOUR, 1959, oder Motivationen gegenwärtigen
Handelns- so im englischen Free Cinema- für diese humanistischen
Anliegen wichtig wäre. Es geht um eine intensiv reflektierte
gegenwärtige Alltäglichkeit junger Leute, in der der Krieg als
Bedrohung der Liebe, der Kinder, allen Lebens ebenso mitgedacht wird
wie die Analyse des Alltagsleben im Sozialismus. Zu Recht ist deshalb
von drei Handlungslinien in diesem Film gesprochen worden: „eine junge
Frau steht vor der Entbindung von ihrem ersten Kind; ihr Mann, ein
Fernsehmechaniker läuft in der Stadt umher, wie seine Arbeit es
erfordert und kommt abwechselnd in die verschiedensten Milieus; und die
dritte Linie schließlich bilden Fragmente aus Wochenschauen- das Bild
einer chaotischen, unsicheren, halbirren Welt, in die das Kind geboren
werden soll. "/10/ Das heißt aber auch, dass die Erzählfunktion der
Montagekomposition in der Art des Cinéma verité gegenüber der
Rückblendendramaturgie Vorrang gewonnen hat. Die Rückblenden sind zu
einer, wenn auch wichtige Technik, unter anderen geworden. Auffallend
bei Jires und in Jan Nèmec' Debütfilm DIAMANTEN DER NACHT (1964)ist,
dass je mehr Aufmerksamkeit der subjektiven Welt der Figuren, ihren
Wahrnehmungen und Vorstellungen gewidmet wird, die historische Zeit für
die Story-Ebenen aufgegeben wird. Es werden Verwandlungen,
Identitätsfindungen im Sinne des Joycschen Bewusstseinsstrom wichtig,
weil die existentielle Situation der Individuen mit all ihren
emotionalen Traumen danach drängt. Eine Entwicklung, die in den 70er
Jahren in Tarkowskijs SPIEGEL (1974) stilistisch weiter zu verfolgen
wäre - allerdings mit einem prinzipiellen Unterschied: Tarkowskij geht
mit diesen Techniken ein biografisch-epochales Erinnerungsprinzip an
während in der Neuen Welle des Prager Frühlings der Mikrokosmos im
Alltagsleben oder- so bei Nèmec- die paradoxen Verhaltens- und
Denkweisen in existentiellen Bedrohungssituationen stilistisch überhöht
ausgestellt werden.
Im Unterschied zu diesen Neuerungen der Rückblendendramaturgien ist
von A. Kluge eine essayistische Montage in der Spielfilmdramaturgie der
60er Jahre im Zuge der Neuen Wellen Westeuropas entwickelt worden.
Für Kluge wird die traditionelle Rückblende unwichtig. Er verfolgt
ein Konzept von "memory" des Zuschauers. Er will assoziative Reihungen
bewirken und setzt deshalb auf Perspektivenwechsel, auf das
Nebeneinander von imaginären Blenden, schriftsprachlichen Titel,
Zitate- so die Sequenz "Imaginär". /11/Die dramaturgische Blende in DAS
IMAGINÄRE bei Kluge ist mit Fakten -Bildern, Zitaten als Kommentare,
historische Exkurse- gespickt und er fordert Argumentation- seitens des
Zuschauers. Ein ordnendes Bewusstsein bietet die Montage nicht. Die
Auflösung der Story-Erzählung durch die Montage in das Essayistische
deutet sich an. Der Übergang zur Essay-Methode in der
Spielfilmdramaturgie (Kluges Filme der 80er Jahre vollenden konsequent
eine Variante postmoderne Dramaturgie der westeuropäischen
Hochkunstentwicklung, die allerdings in ihrer extremen Ausprägung am
unwilligen Publikum zu scheitern droht) löst die zeitliche Gebundenheit
der Figuren an ihre Gegenwart und Vergangenheit auf in ein
ikonographisches Spiel mit simultanen Ereignissen, Erfindungen des
Regisseurs. Kluges Filme zeigen dramaturgische Grenzen der Postmoderne
auf, indem sie Grenzen überschritten- auch der Rückblendendramaturgien.
Fellini hat in ACHTEINHALB (1963) mit dramaturgischen Techniken des
Blendens ins Imaginäre gearbeitet. Die Rückblende als Umschaltung
zwischen Vorgängen auf der Gegenwartsebene in Vorgänge der
Vergangenheit der Figuren ist bei ihm nicht zu entdecken. Sie wird
ersetzt durch Ikonographien, durch Sinnbilder, die Zustände der
Zentralfigur bezeichnen. Fellini operierte hierbei mit der
erzählerischen Kraft panoramatischer Arrangements in Plansequenzen (so
im Finaleaufmarsch und in der Konfrontation des Regisseurs mit dem
Kind)) oder mit Comic-Ikonographien (in der Exposition der Flug aus dem
Auto).
Bunuel erzählt in der MILCHSTRASSE (1969) die Wanderschaft der
Bettler auf dem Jacobusweg, aber er blendet in den Begegnungsepisoden
ständig von der Gegenwart in andere Jahrhunderte und operiert nicht mit
der klassischen Rückblende des individuellen Sachverhalts des „memoir“.
Er trägt Argumentationen aus (die er aus der Geschichte der Häresie
übernommen hat). D. h. er wählt jeweils entgegengesetzte
Argumentationen von divergierenden Dogmen aus und versucht sie- oftmals
mit den naiv-leiborientierten Fragen der Bettler zu konfrontieren.
Dabei springt er zwischen Gegenwart und verschiedenen historischen
Zeitebenen.
Den Wechsel der historischen Zeitebenen hat der Grieche Theo
Angelopoulos in WANDERSCHAUSPIELER (1974) und JÄGER (1977) durch seine
Inszenierungstechnik mit Plansequenzen stilistisch in neuen
künstlerischen Dimensionen angegangen. In dem Regieporträt THEO
ANGELOPOULOS (Christa Maerker, SWF 1990) formulierte er sein Anliegen
so: „Für viele hat der Raum keine Bedeutung. Für mich hat er riesige.
Für mich liegt zwischen dem Raum und den Personen eine kontinuierliche
Dialektik, eine erforderliche Dialektik, die den Raum zu Zeit macht und
die Zeit zu Raum. “
Der Begriff Zeit steht hier für historischen Zeitenwechsel
„Ich wollte die Ereignisse verdichten und keine Vergangenheit
herstellen ...“ Vergangenheit solle wie Gegenwart sein, d. h. es komme
darauf an „Szenen her (zu)stellen, in denen Vergangenheit und die
Gegenwart sich in derselben Szene durchdringen.“ (Ebd.) Bei
Angelopoulos entdecken wir die extremste Modifikationen der
Rückblendendramaturgie in den 70er Jahren. Dies sind keine Rückblenden,
die durch Schnittmontage zustande kommen, d. h. z. B. : durch die
raumgreifende Kamerafahrt werden zeitlich getrennte Ereignisse zu einem
Kontinuum verbunden oder aber in der Szene tauschen (oder haben erst
einmal nicht kenntlich gemacht) die Figuren die Funktionsrollen (z. B.
in JÄGER: ein Politiker nimmt die Rolle eines Protokollführers an oder
der ehemals Inhaftierte hat die Rolle des Staatsanwaltes angenommen).
Die an die lange Kamerasequenz gebundene Erzählung der Historie führt
zu Tableaus, d. h. Gruppenarrangements dominieren ebenso wie Tanz und
Lieder. Es werden nicht individuelle Biografien zu Handlungslinien
gebündelt sondern in Gruppenbildern (und in der klassischen vom Theater
übernommen Diskursform des Berichtes über historische Ereignisse) wird
die politische Geschichte Griechenlands zwischen 1939 und 1952 erzählt
(in den JÄGERN wird zurückgeblendet vom Sylvester 1977 in die Zeit der
politischen Entwicklungen nach der Beendigung des Bürgerkrieges im
August 1949 mit Zäsuren 1958, 1961, 1964/65, 1967). Obwohl die
Rückblenden an die politische Geschichte strikt gebunden sind, sind die
Tableaus eine intertextuelle Kommentierung von Geschichten aus der
Antike (Orestie in den WANDERSCHAUSPIELERN), eines populären
Volksstückes (GOLFO, DIE SCHÄFERIN von Spiridion Peresiades, 1892) und
der Wanderschaft einer Gruppe von Schauspielern durch die
meereseinsamen und gebirgigen, kargen archaischen Landschaften
Griechenlands zwischen 1939 und 1952, also eine Wanderschaft, die
Krieg, Okkupation, Bürgerkrieg durchquert. So entsteht ein historisches
Bild vom nationalen kollektiven Schicksal Griechenlands, das zwischen
der realistischen Gegenwärtigkeit, der Tragödie (der Antike) und dem
romantizistisch - melodramatischen Bühnengeschehen in einem Volksstück
Brechungen hat.
SCHLUSSBEMERKUNGEN:
Folgende Unterscheidungen der Rückblendendramaturgie konnten an
künstlerisch bedeutsamen Werken der 60er und frühen 70er Jahre
diskutiert werden: TYP 1
Realistische oder imaginative Begegnungs-Story - kausale
Verknüpfungen von Gegenwart und Vergangenheit (A. Resnais / M. Duras;
M. Forman; M. Jires/M. Kundera; J. Nemec; V. Chytilova)
TYP 2
Dramatische Protagonistenfabeln in der Gegenwartsebene und
Erzählung der Motive der Figuren mit episierten Handlungslinien in der
Vergangenheit (L. Anderson; T. Richardson)
TYP 3
Gerichts-und Tribunalstories mit Rückblenden- zwischen informativen
Inserttechniken und epischer Vielfalt von Handlungslinien (E. Klos; J.
Kadar; F. Beyer; A. Kovacs)
TYP 4
Reporter- und Rechercheurstories mit Rückblenden - episierende
Lösungen mittels Dokumentarmaterial (Z. Fabri / A. Santa; A.
Scibor-Rylski / A. Wajda; Sonderfall: F. Fellini ROMA, 1972)
TYP 5
Grenzfälle der Rückblendendramaturgie - Differenzierungen zwischen
Autoren- und Figurenperspektiven in Montagelösungen (V. Chytilova; A.
Kluge; J. Nemec; I. Szabo; Sonderfall: Kamerasequenzen des Th.
Angelopoulos)
In dieser Studie wurde versucht, von einer Typologie
dramaturgischer Techniken - den Rückblenden - ausgehend weiterreichende
Wandlungen der Funktionen der Zeiten in den Diskursen der 60er und 70er
Jahren zu verdeutlichen. Und dabei eine gesamteuropäische Sicht walten
zu lassen.
Der Modernisierungsschub der Industriegesellschaften in
Mitteleuropa in den 60er Jahren führte zu dem für die
Filmgeschichtsschreibung interessanten Trend, dass eine verstärkte
Auseinandersetzung mit der Historie im Autorenfilm zu einer reichen
Differenzierung von Dramaturgien der Rückblenden geführt hat. In diesen
Prozess haben die osteuropäische sozialistische und die westeuropäische
bürgerliche Filmkunst je eigenständige und ideologisch durchaus
verschiedene Leistungen eingebracht. Es scheint so, als hätten die
Auseinandersetzungen ein stilistisches Potential des Erinnerns
freigesetzt, das einherging mit interessanten Wechselwirkungen mit der
Literatur (und mit dem Wandel der Romankompositionen in den 60er
Jahren), mit dem unabdingbaren Anspruch auf die Verifizierbarkeit und
die Grenzen der Verifizierbarkeit des Autobiografischen in erzählten
Geschichten und - mit dem Anspruch auf Öffentlichkeitsfunktionen des
Kinos in Schnitt- und Wendepunkten nationalstaatlicher Entwicklungen.
Anmerkungen
1 M. Antonioni: Die Krankheit der Gefühle, in: Th. Kotulla (Hrsg. ): DER FILM. Manifeste, Bd. 2, München 1964, S. 83-110.
Vgl. zur Methode: „Ich hielt es nämlich in der Tat für richtig, die
Personen, in den Augenblicken nicht zu verlassen, in denen sie- nachdem
die Prüfung des Dramas, oder wenigstens dessen, was vom Drama
auszudrücken interessant war: seine dramatischsten Punkte,
abgeschlossen war- allein mit sich selbst blieben, mit den Wirkungen
jener Szenen, jener Traumata, jener so heftigen psychologischen
Momente, die ohne Zweifel einen bestimmten psychologischen Einfluss auf
sie ausgeübt hatten und sie psychologisch zu einem nächsten Schritt
geführt hatten. Es schien mir angebracht, ihnen auch in diesen
scheinbar zweitrangigen Augenblicken zu folgen, in denen es scheinbar
keinerlei Grund gab, zu sehen, was für Gesichter sie machten oder
welche ihre Gesten und Haltungen waren. " Ebd. , S. 86/87.
2 Vgl. hierzu die Ausdrucksfunktion der Sprache : „ER: Nichts hast du in Hiroshima gesehen. Gar nichts.
Sie: Alles habe ich gesehen. Alles.
Sie: Viermal im Museum in Hiroshima. Ich habe die Leute da
herumgehen sehen. Nachdenklich gehen die Leute da herum, zwischen den
Fotografien, den Nachbildungen, da ja nichts anderes da ist, zwischen
den Fotografien, den Fotografien, den Nachbildungen, da ja nichts
anderes da ist, den Erklärungen, da ja nichts anderes da ist. Viermal im Museum in Hiroshima.
Ich habe die Leute betrachtet. Ich habe selbst, nachdenklich, das
Eisen betrachtet, das Verwundbar geworden ist wie Fleisch. Ich habe
Kapseln gesehen, zu Sträußen gebündelt: wer wäre darauf gekommen?
Fetzen menschlicher Haut, wehend, überlebend, noch frisch von ihren
Leiden. Steine. Verbrannte Steine. Zerbrochene Steine. Ganze namenlose
Haarschöpfe, am Morgen vom Himmel gefallen, die Hiroshimas Frauen beim
Erwachen fanden. . " zit. nach: Spectaculum. Texte moderner Filme, Ffm
1961, S. 66.
3 Sergio Leone: „Für mich ist die Musik wesentlich, besonders für
einen Western, wo der Dialog nur einen aphoristischen Sinn besitzt; die
Filme könnten sehr gut auch stumm sein, man würde trotzdem verstehen.
Die Musik dient dazu, Gemütszustände, Fakten und Situationen zu
unterstreichen, viel mehr als der Dialog. Kurz und gut, für mich
erfüllt die Musik eine Art Dialogfunktion. " Zitiert nach: Oeste de
Fornari: Sergio Leone, München 1984, S. 21. Die Abgrenzung von den
Totalen und Massenarrangements des Antikfilms mittels des Zooms im
Italowestern verweist auf Aspekte des Wandels der Sehweisen, die nicht
von der Hochkunstentwicklung kamen. „Man kann festhalten, dass die Wahrnehmungsstruktur des
Italowestern aus der Relation: Totale (Tiefenschärfe)-Teleobjektiv
(Hintergrund fällt weg, die Person befindet sich in einem abstrakten,
nicht mehr erkennbaren Raum, meist in Gross- oder Detaileinstellung)
beruht. Durch diese Opposition entsteht eine Art Aufhebung des Raumes,
metaphorisch ausgedrückt: er explodiert. Der Zoom leistet das gleiche:
er überwindet den Raum abstrakt: die Perspektive als Erlebnisqualität.
Im Zoom werden die Gegensätze Weitwinkel-Tele zu einem einzigen Vorgang
zusammengefasst. Während der Antikfilm große Sorgfalt auf die
Ausarbeitung der Wahrnehmungsverhältnisse verwandte, reduziert der
Italowestern die Wahrnehmungsverhältnisse auf ein Minimum und verlässt
sich auf die Betonung einiger auffallender Erkennungsschemata. Er
verkürzt den Prozess der Wahrnehmung und lehrt so etwas wie ein -
abstraktes Sehen, d.h. er zwingt den Zuschauer, die Dinge zu erkennen,
bevor er sie richtig wahrgenommen hat. " Michael Held/Wolfgang
Längsfeld: Materialien zu einer Propädeutik der Medienerziehung, III.
Zur Analyse des Films, in: medien+erziehung, 1/73, S. 25.
4 Spectaculum. Texte 1, Frankfurt/Main 1964, S. 60.
5 Die tschechoslowakische Neue Welle war bestimmt von einem
ideologiekritischen Verständnis der Intellektuellen im sozialistischen
Staat. Ihre Identität könnte mit S. Kracauer bekräftigt werden: „Die an
den Intellekt der Intellektuellen gerichtete Forderung, den Abbau des
Mythologischen zu betreiben, zielt auf ein destruktives Verhalten. Es
hat stetig Ideologien zu entlarven und dadurch alle hingenommenen
Intentionen auf die Probe zu stellen. " S. Kracauer: Minimalforderungn
an die Intellektuellen (1931), in: Siegfried Kracauer: Der verbotene
Blick. Beobachtungen, Analysen, Kritiken, Reclam Leipzig 1992, S. 250.
6 Stanislaw Wyspianski: DIE HOCHZEIT, Reclam Leipzig 1977, S. 36/37.
7 Ebd. , S. 68/69.
8 F. Fellini: ROMA, Zürich 1972, S. 220.
9 Ebd. , S. 221.
10 Vgl. Jan Zalman, in: Filmprofile der tschechoslowakischen
Gegenwart, Prag 1968, S. 75 bzw. Die Filme des Prager Frühlings
1963-69, KINEMATHEK 79, 29. Jg. , September 1992, S. 62.
11 Vgl. Montageepisoden IMAGINÄR in: Alexander Kluge ABSCHIED VON
GESTERN. Protokoll. Cinemathek Bd. 17: Ausgewählte Filmtexte, Ffm o. J.
a. , S. 58.
|
| |