KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
 Start  Reports  Themen  Texte  Zeitdokumente  Kritik  Veranstaltungen 
 Editorial  Impressum 


TextKulturation 1/2004
Lutz Haucke
ERINNERUNG AN DIE VERLORENEN ZEITEN
Europäische Rückblendendramaturgien in den 60er Jahren in Ost und West
Kann der Filmhistoriker überhaupt noch einen Anspruch auf Geschichtsbilder von Perioden der internationalen Filmgeschichte einlösen? Das TV-Switching vermehrt die Macht der Apparate gegenüber den Rezipienten und gegenüber den Produzenten, weil mit der wachsenden Quantität der Programme eine Geschichtslosigkeit der Medienereignisse einherzugehen scheint. Statt Konstruktion der Geschichte haben wir es mit Inszenierungen der Werke in verschiedenen Zensurmechanismen der Medienkommunikation zu tun. Hat angesichts dieser Situation der Filmhistoriker nur noch die Chance, in die Spezialisierung zu flüchten? Ist die Konstruktion von Geschichte als Ereignis und Prozess für Journalisten, Historiker und Dramaturgen nur noch punktual möglich oder sind Künste und Wissenschaft gegenseitig verpflichtet, an Ereignis- und Prozessanalysen zu arbeiten? So wie in der Spielfilmdramaturgie Zeitkonstruktionen Strukturen sind, die in einem kompositionellen und in einem kulturgeschichtlichen Funktionszusammenhang interpretierbar sind, so könnte auch der Filmhistoriker in der Untersuchung filmgeschichtlicher Epochen, Perioden Struktur- und Funktionsanalyse zum Ansatz einer Konstruktion durch Interpretation von Werken, Produkten machen.

Die Wahl des Themas entspringt dieser grundsätzlichen Überlegung. Neben der Geschichte der Institutionen der AV-Medien-Stichworte: Studiogeschichte, Geschichte nach Producern, der Kinogeschichte, der Programmgeschichte, Geschichte der Zensur hat die von Strukturen- als Stichworte seien genannt: Komposition der Stories, der Kameraeinstellungen, der Schnitte, der Montage im weitesten Sinne- in der Spielfilmgeschichte ihren Reiz.

Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist, dass in den 60er Jahren in Europa der zweite Schub des Übergangs von der Tradition zur Moderne- den ersten Schub würde ich in der europäischen Filmgeschichte zwischen 1900 und 1927/28 markieren- einsetzte. Im Widerspruch von politischen Versteinerungen und neuen Produktivkraftentwicklungen entfaltete sich ein Paradigmenwechsel, dem mit der Untersuchung von Struktur- und Funktionswandlungen der Spielfilmdramaturgie- das Strukturelement der Rückblende (englisch: flash back) in der Story-Komposition wäre ein möglicher Ausgangspunkt für den Filmhistoriker- nachgegangen werden kann. Dies auch deshalb, weil in den sechziger und frühen siebziger Jahren die Zeitstrukturen in den europäischen Spielfilmdramaturgien einen konkreten Bezugspunkt hatten: die Historie des 2. Weltkrieges, die des Faschismus und des Stalinismus war in Erinnerungen und im kollektiven Gedächtnis präsent. Ohne diese kulturelle Allmacht der Erinnerungen und der Erinnerungsarbeit wären die vielfältigen Rückblendendramaturgien als Kunstphänomen nicht zustande gekommen.


Die diskontinuierlichen 60er Jahre und die Diskontinuität als Kennzeichen des Strukturwandels der Story-Dramaturgie des Spielfilms

Aus der Perspektive von Versteinerung und Aufbruch, im Westen Establishment und Ausbruch der Kinder von Marx und Coca Cola, um Godard zu zitieren (VORNAME CARMEN, 1983), im Osten Versuche einer Demokratisierung im Zuge der Entstalinisierung und neuer nationaler Identitäten, wandelten sich in den 60er Jahren die kulturellen Denkfiguren in ihren zeitlichen Strukturen. Man dachte in Zeitsprüngen zwischen heute und morgen, gestern und heute. Begriffe wie Kontinuität und Diskontinuität hatten ihre soziokulturellen Entsprechungen: Kubakrise, Ende des Algerienkrieges, Mauerbau in Berlin, neue Wirtschaftsregulierungen, Verfassung der CSSR 1963. An der Macht waren die Großväter der 90er Jahrgänge des vergangnen Jahrhunderts: N. Chruschtschow (1894), de Gaulle (1890), Walter Ulbricht (1893), K. Adenauer (1876). Die Diskontinuitäten der Generationen brachen auf. Legitimationsansprüche der Systeme und Ideologien waren verbunden mit Begriffen wie Entfremdung, Demokratie, Gerechtigkeit im Osten, mit Utopie und "zornigen jungen Männern" (GB, BRD), mit Souvenir und Memoire (FR) im Westen.

In der Spielfilmdramaturgie entwickelt sich in diesen Jahren die diskontinuierliche Story-Erzählung, die mit Rückblenden eine Bündelung von Motiven, sozialen Kausalitäten, Verhaltens- und Denkweisen in scharfen Brüchen von Gegenwart und Vergangenheit erreicht. Binnen weniger Jahre entfaltete sich eine Vielfalt unterschiedlicher Möglichkeiten dieser dramaturgischen Zeitkonstruktion der Story.

Parallel hierzu ist- insbesondere in der italienischen Regieentwicklung- eine Dedramatisierung, eine Zurückdrängung der Handlungszeit, eine Aufwertung der erzählten Zeit durch die Bildzeit, die Erzählzeit, international wirksam geworden- verbunden mit Darstellung von Entfremdung und Stagnation, mit der "Krankheit der Gefühle", wie das um 1960 M. Antonioni benannt hat. /1/ Neben Antonionis Trilogie von 1960 bis 1962- insbesondere LA NOTTE (1961)- ist es Fellini, der in ACHTEINHALB (1963) einerseits die panoramatische Dramaturgie der Plansequenz für epische Vielfalt nutzt und andererseits die Diskontinuität zwischen realer Handlungslinie und Vorstellungswelten in machtvollen Bildern explodieren ließ (z. B. die Alptraumepisode als Exposition in ACHTEINHALB).

Neben A. Resnais' bekanntem HIROSHIMA MON AMOUR (1959) und anderen wäre auch vom Filmhistoriker zu berücksichtigen Wajdas erste Näherung an das Szenarium von DER MANN AUS MARMOR, das bereits 1963 vorlag (erst 1976/77 verfilmt)und in dem eine modifizierte CITIZEN-KANE-Dramaturgie für eine Arbeiterbiographie der 50er Jahre verfolgt wurde.

Und Tarkowskij, der eine Ästhetik der Zeit in der Kameraeinstellung favorisierte und keinesfalls in den Filmen der 60er Jahre die Rückblendentechnik für die Story-Dramaturgie verwandte, hat unmittelbar beim Übergang zu offenen und episodischen Fabelstrukturen im ANDREJ RUBLJOW (1966/69) in einem Hörspiel VOLLE KRAFT ZURÜCK!POLNYI POVOROT KRUGOM nach William Faulkners Erzählung TURN ABOUT (verfilmt bereits 1933 von Howard Hawks unter dem Titel TODAY WE LIVE) die Möglichkeiten der auditiven Montage in der RückblendenStory-Erzählung geprüft.

Diskontinuität ist aber im Wandel der Dramaturgien der 60er Jahre noch auf einer anderen Ebene zu diskutieren. Nicht nur die Neuentdeckung der Verfremdungsmöglichkeiten von gesprochener Sprache- insbesondere in der BRD von Kluge und von Straub verfolgt- und der Bruch der Duras mit traditionellen Redeformen der Dialogtextgestaltung wäre zu nennen. Oder: Pasolini verfilmte 1968 die MEDEA nach Euripides und verzichtete weitgehend auf die Dialoge der Tragödie. Die Duras strebte in HIROSHIMA MON AMOUR eine Sprache an, die Gedanken im Entstehen trägt, d. h. dass sie nicht von der Informationsfunktion her wichtig wäre, sondern Klang, Melodie, Rhythmus bedingen jene an ästhetischen Informationen reichen Satzfetzen mit ihren Wiederholungen. /2/

Wichtig ist aber auch, dass in Genres wie dem Italowestern und im Horrorfilm (Sergio Leone SPIEL MIR DAS LIED VOM TODE, 1968; R. Polanski ROSEMARYS BABY, 1968) neue Entwicklungen begannen.

Als Genres der Mass Culture der totale Gegensatz zur Herkunft der Nouvelle Vague von moderner Literatur, aber: Memory, Erinnerungszeit konstituiert die Bauweise von Stories und geht einher mit neuen kinematographischen Wahrnehmungsmodalitäten. Leone vollzieht den Übergang vom illusionistischen, vom realen Western zum Spiel mit Konventionen. Die Ritualisierung der Vorgänge und die Reduktion der Dialoge auf das Aphoristische sind das eine. Neu sind vor allem Wahrnehmungsmodalitäten. Das sind (1) die Sprünge von der Totalen in die Nahaufnahmen; (2) die reduzierte Ausdrucksdarstellung der Schauspieler und die Aufwertung der Bild-Koordinaten (Zeitdehnungen, Kamerafahrten/vor allem ZOOM - Fahrten u. a. ). Damit einher geht die Übernahme von Dialogfunktionen durch die Musik. /3/

Die besondere Umbruchssituation der 60er Jahre hat also eine vielgestaltige Ausprägung neuer Techniken der Rückblendendramaturgien hervorgebracht. In der internationalen Filmgeschichte könnte man darauf verweisen, dass 1939/40 im Schnittpunkt stilistischer Neuansätze in den USA und in Frankreich mit Rückblendentechniken gearbeitet wurde. Gregg Toland erhielt für seine fotografische Leistung in der von William Wyler inszenierten Verfilmung des mit Rückblenden erzählenden englischen Romans STURMHÖHE (Emily Bronté, 1847, Filmtitel STÜRMISCHE HÖHEN, USA 1939) einen Oscar. O. Welles realisierte mit Gregg Toland CITIZEN KANE (1940), den "Schlüsselfilm" der neuen epischen Story-Dramaturgie mit Rückblenden an der Schwelle der 40er Jahre. Carné hatte mit LE JOUR SE LEVE (DER TAG BRICHT AN, 1939) im Rahmen des französischen Vorkriegsrealismus eine traditionelle Rückblendentechnik verwendet, um die dramatische Konkurrenz zweier Männer um eine Frau, also eine melodramatische Protagonistenfabel, motivieren zu können. Mit Salvatore Dali gestaltete Alfred Hitchcock in SPELLBOND (ICH KÄMPFE UM DICH, USA 1945) eine Traumblende- also die Blende in das Imaginäre als Grenzfall der Rückblendendramaturgie. Bereits die Zusammenarbeit mit Salvatore Dali verweist auf die Ursprünge: die Einflüsse bildender Kunst- ob Surealismus oder Expressionismus seit den 20er Jahren. Bedenkenswert ist, ob die Dynamik der 40er Jahre die Direktheit der sozialen Widersprüchlichkeit der Kriegs- und Nachkriegszeit in den Mittelpunkt stellte und statt Rückblendendramaturgien die Genredramaturgien und "Realismus"-Dramaturgien notwendigerweise favorisierte.


Typen der Dramaturgie der Rückblenden in Spielfilmen der 60er Jahre

Hypothetisch können 5 verschiedene Bauweisen der Story-Komposition mit Rückblenden unterschieden werden:

TYP I
Kausale Verknüpfung von Gegenwart und Vergangenheit in der realistischen und in der imaginativen Begegnungs-Story (A. Resnais, M. Duras, A. Robbe-Grillet, M. Forman, J. Jires, J. Nèmec, V. Chytilová)

Ausgangspunkt ist die Begegnung zweier Menschen und/oder ihr Dialogisieren in der Gegenwartsebene, das in der Story-Konstruktion von einem einmaligen oder mehrfachen Hinundherschalten zwischen Gegenwartsebene und Vergangenheit der Figuren bestimmt wird. Durch den Zeitenwechsel wird es möglich Motive, Konflikte, Verhaltens- und Denkweisen der Figuren zu erzählen, ohne die lineare Erzählweise einer Protagonistenfabel anzuwenden.

Die Rückblenden können eine diskontinuierliche episodische Story-Komposition auf der Gegenwarts- und auf der Vergangenheitsebene bilden. Die kausalen Verknüpfungen können von der "Erinnerungsarbeit" bestimmt sein (A. Resnais HIROSHIMA MON AMOUR, 1959; J. Jires DER SCHERZ, 1968; als Sonderfall LETZTES JAHR IN MARIENBAD, 1960; J. Nèmec' DIAMANTEN DER NACHT, 1964, ist eine interessante Erweiterung, weil die Story, Ausbruch zweier jüdischer Jungs aus einem KZ-Eisenbahntransport und ihr Irren durch einen labyrinthischen Wald, durch eine Konstruktion von Fotografien, Sequenzen der Erinnerung und der Hoffnung die Ausschließlichkeit der vergangenen Zeit und die Ausschließlichkeit der gegenwärtigen Zeit umbricht in Wahrnehmungszeiten; Nèmec löst Aktionsszenen auf durch die Erzählkonstruktion, arbeitet mit Wiederholungen und neuen Verknüpfungen von Bildern und erreicht so eine philosophische Dimension in der Analyse von Verhaltenszuständen; auch bedenkenswert: der innere Monolog und eine Erzählerstimme in K. Wolfs DER GETEILTE HIMMEL, 1964).

V. Chytilová modifiziert in der Story ihres Episodenfilmes AUTOMAT SVET / IMBIßSTUBE "DIE WELT" nach einer Erzählung von Bohumil Hrabal, 1965, die Rückblendentechnik, um eine Metapher für die spontan-humanistische Vitalität eines Malers gewinnen zu können. Sie relativiert die historisch-biographische Dimension durch das Erzählpotential von Kameraeinstellungen. Eine zeitlich lange Nahaufnahme vom Arbeitsprozess des Künstlers: Formen, Strukturen werden in Metall getrieben, verwandeln stumpfes Blech in Lichter. Die Rückblende relativiert die Vorgänge, die Notwendigkeit der Inszenierung. Die Kameraeinstellung wird entscheidend als Kommentar zur Figur, zur humanisierenden Lebenskraft, über die der Maler verfügt - wie sich in der Schlusspointe endgültig bestätigt.

Aber es sind auch Story-Typen unterscheidbar, die entweder mit einer Episode in der Gegenwart und dem einmaligen Umschalten in die Vergangenheit operieren (M. Forman LIEBE EINER BLONDINE, 1965) oder die mit einer geschlossenen Rückblende als kontinuierlicher Story-Erzählung eine diskontinuierliche Story der Gegenwartsebene kausal dem Zuschauer erschließen (T. Richardson MADEMOISELLE, 1965). Eine dramatische Fabelstruktur- z. B. die Protagonistenfabel - wird dadurch zugunsten der Analysierbarkeit der Gedanken, Wertvorstellungen, Verhaltensweisen der Figuren vermieden bzw. relativiert. Die episierende Rückblende kann zwar mit dem Dokumentarprinzip operieren, aber im Spielfilm gilt in diesen Fällen (so bei M. Forman, bei J. Jires, J. Nemec, V. Chytilová), dass nicht nur die gewonnene Authentizität wichtig ist, sondern der ständige Perspektivenwechsel ermöglicht eine Kommentierung des Dokumentaren durch die Anordnung in der Montage. Das war das Prinzip des Cinemá Verité und es hat auf die europäische Spielfilmdramaturgie der 60er Jahre nachhaltig gewirkt. Hierzu hat die tschechoslowakische Neue Welle zwischen 1963 und 1968 in der europäischen Filmgeschichte die künstlerisch weiterführenden Neuerungen - neben den Entwicklungen in Frankreich von J. - L. Godard, A. Resnais, A. Robbe-Grillet u. a. - eingebracht.

BEISPIELE:
A. Resnais HIROSHIMA MON AMOUR, 1959 und LETZTES JAHR IN MARIENBAD (1960)- beide Filme beruhen auf der Überredung zum Wagnis einer gemeinsamen Vergangenheit, d. h. die Rückblendendramaturgie nutzt zwar politische Fakten, sie nimmt an Filmarbeiten anlässlich der Friedensgedenkdemonstration in Hiroshima teil, auch das für Frankreichs Öffentlichkeit heikle Thema, die Liebe einer Französin zu einem Okkupanten und ihre Bestrafung durch die eigenen Landsleute war wichtig, aber die dramaturgische Struktur setzt auf die Fähigkeit zu Kommunikation und Wahrheit zwischen Menschen. „Zwischen zwei Menschenwesen, die nach Herkunft, Weltanschauung, Geschichte, Wirtschaft, Rasse einander so fern stehen wie nur irgend möglich, wird nun Hiroshima den gemeinsamen Boden ... bilden, auf dem die ... Begebenheiten der Lust und des Leides in unerbittlichem Licht erscheinen. "/4/ Die Liebe zu einem Japaner in Hiroshima wird Anlass, das traumatische Erlebnis, als Französin für eine Liebe zu einem deutschen Soldaten 1944 von den eigenen Landsleuten bestraft worden zu sein, zu reflektieren.

Diskutierenswert ist, wie A. Resnais und der Drehbuchautor Jean Cayrol in MURIEL (1963) das thematische Motiv von Vergessen und Erinnern im Unterschied zu den Filmen von 1959 und 1960 entwickelten. Hélène, die Antiquitätenhändlerin, lädt nach 20 Jahren ihren Freund zu einem Besuch ein. Er reist mit seiner angeblichen Nichte an. Bernard, Hélènes Stiefsohn, ist aus dem Algerienkrieg zurückgekehrt. Innerhalb von 14 Tagen treffen Franzosen der jüngeren Generation (Bernard, Robert, Maria-Dominique, Francoise) und der älteren Generation (Hélène, Alphonse, de Smoke, Claudie und ihr Mann, Antoine und seine Frau und die Außenseiter, der alte Jean und der Einsiedler aus dem Bunker am Meer) aufeinander. Eine Kollision der Generationen? Resnais und Cayrol erzählen unmittelbar nach dem Algerienkrieg eine Begegnungs-Story. Es ist keine Protagonistenfabel im Sinne der Konzentration auf zwei Antipoden, sondern es sind Gruppen verschiedener Generationen, die ihre Kollisionen austragen. Die Story hat ihre Peripetien, ihre Wendepunkte, aber durch die Erzählweise Resnais (er rafft, indem er Details im raschen Schnitt hervorhebt, um prinzipiellere Themen anstimmen zu können) wird eine Sensibilität in den Tempi und Zäsuren der Handlung geltend gemacht. Er arbeitet mit simultanen Handlungssträngen.

Deshalb ist die These nicht unberechtigt, dass der Schnitt von Resnais in diesem Film ganz der dramatischen Funktion untergeordnet wird. Zeit wird zu einer ungeheuerlichen, mit Spannungen der Figuren angefüllte dramatischen Dimension der Handlung - im Gegensatz zu LETZTES JAHR IN MARIENBAD, wo die Figuren statuarisch verharren und die Kamerafahrten und die ausgeklügelten Kompositionen der Einstellungen alle Bewegungen übernahmen. Die Katastrophen spitzen sich im 5. Akt zu (gewählt wurde der Aufbau nach dem 5-Akte-Schema des bürgerlichen Trauerspiels) und finden sowohl in der Schlägerei zwischen Alphonse und Ernest als auch in Bernards Zusammenbruch und in seiner Erschießung des ehemaligen Kameraden und jetzigen aggressiven OAS-Streiters im Wahlkampf Robert sowie der Sprengung seines Ateliers ihre Auflösungen- in der Katastrophe. Kein Happyend für Hélène, aber : ihr Besuch bei Antoine und seiner Frau, dem so friedfertigen Kleinbürgerglück, signalisiert, verweist auf gegenpolige Geruhsamkeit in dieser Umbruchssituation. Resnais konzentrierte sich auf die dramatische Entfaltung der Konflikte in der Jetzt-Zeit. Er kehrte zurück zu einer aristotelischen Fabel. Die Wiederkehr der Vergangenheit - das sind Straßenschilder als Zeichen der vergangenen Zeit von 1939, 1940 und dem Jahr der Befreiung. De Smoke, der Neureiche, wird erzählt, habe die Stadt aus den Trümmern aufgebaut, aber auch gekauft. Und wie ist die Frage des alten Jean an Bernard zu beurteilen, die Frage nach den Verbrechern, die Muriel, das Algeriermädchen ermordeten. Die Kollision zwischen Robert und Bernard, den Soldaten des Algerienkrieges, hat in dieser Frage ihren Grund. Aber Resnais entwickelt kein Hinundherschalten zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Die Vergangenheit erscheint in den Verhaltensweisen der gegenwärtigen Personen und als Hinweiszeichen (Straßenschilder, Stadtbilder). Eine Folge von Amateurfilmaufnahmen aus der Zeit des Algerienkrieges wird zum Schlüssel der Konflikte von Bernard, aber auch seines Handelns. Resnais hatte 1963 die Begegnungs-Story-Dramaturgie auf Gruppen erweitert, aber er verzichtete auf die bereits entwickelten Erzähltechniken. Rückkehr zu einer traditionellen Dramaturgie? Zwischen 1963 und 1968 sind es Regisseure der tschechoslowakischen Neuen Welle, die in originärer Weise die Rückblendendramaturgie weiterentwickeln.

DER SCHERZ von JIRES (1969) erzählt von einem Wiedersehen zweier, die sich in der Studentenzeit liebten. Er wurde um 1950 wegen einer Postkarte mit Trotzki-Nonsens relegiert und durchlief verschiedene Lager. Sie ist Reporterin und mit dem Mann verheiratet, der einst sein Freund war und der ihn als Vertreter des Jugendverbandes relegierte. Als Funktionen der Rückblende sind auszumachen:

(1) Die Rückblende organisiert Lebensgeschichte. Sie legt frei Zerstörungen, d. h. nicht die Reflexion, nicht Subjektivierung von Erinnerungen bestimmen den Stil, sondern Zeit der Gegenwart und Zeit der Vergangenheit stehen sich schroff gegenüber. Die Erzählzeit bedarf nicht der Übergänge, der sublimen psychischen Vorgänge. Die Vereinfachung und die Zuspitzung in den Episoden sind bestimmend für die Story.

(2) Die Gegenwartsebene erscheint als Handlungsebene von zerstörten Beziehungen und Zerstörungen. D. h. Gegenwarts- und Vergangenheitsebene sind in dieser Rückblendendramaturgie einer Ideologie und Psychologie der Entfremdung verpflichtet. Jener Anspruch der neuen Welle in der CSSR, Mythen des Sozialismus anzugehen, wird in dieser Sicht zu überdenken sein. /5/

(3) Dem Zerstörungs-Motiv entspricht die Zerstörung der Zeitstruktur von Gegenwartshandlung. Die Rückblenden fragmentarisieren, schaffen Sprünge, Kontraste, gehen gegen das Finale über in einen nun gemäßigten Rhythmus, der von Wiederholungsinserts getragen wird und damit weniger Informationsfunktionen als Ausdrucksfunktionen für den dramatischen Schluss liefert. D. h. die Rückblenden-Inserts zum Schluss, die Bilder vom Anfang der Gegenwartsebene wiederholen, haben ein Aufforderungspotential für den Rezipienten, er hat die moralische Bestandsaufnahme zu vollenden.

Die Böllverfilmung von Straub (1961) wählt - im Unterschied zu Bölls Komposition, die Perspektive des Dr. Fehmel, d. h. sie beginnt mit dem 2. Kapitel und damit bei der 2. Generation der 3 Generationen einer deutschen Architektenfamilie. Es wird eine Reihungstechnik der Rückblenden verwendet. Die historisch unterschiedlichen Zeitebenen werden durch die verfremdete Sprechweise erzählt. Eine Nähe der Vergangenheit zur Gegenwart ist stilistisches Prinzip von Straub. Die Nähe von Geschichte und Gegenwart soll auf unbewältigte Historie verweisen. Mit dieser Absicht treffen sich von Straub und Jires bei der Verwendung der unvermittelten, der harten Schnitte zwischen Gegenwart und Historie.

In Milos Formans DIE LIEBE EINER BLONDINE (1965) ist die Komposition chronologisch linear insofern als die Geschichte vom Ende her erzählt wird. Sie erzählt ihrer Freundin die Story ihrer Liebe zu einem Pianistenjungen aus Prag, aber die Rückblendenerzählung der tatsächlichen Geschichte dieser Liebe offenbart dem Zuschauer einen misslungenen Ausbruchsversuch aus der eintönigen Provinzwelt zwischen Fabrikarbeit und Kollektivbeschlüssen im Wohnheim unter der Anleitung der Erzieherin. D. h. Gegenwarts- und Vergangenheitsebene werden so verknüpft, dass die Flucht in Lebenslügen als Symptom der Entfremdung beurteilbar wird.

TYP II
Dramatische Protagonistenfabel in der Gegenwart und Vergangenheit mit episierten Handlungslinien in der Vergangenheit (L. Anderson, T. Richardson).

Die Story wird in der Gegenwartsebene durch ein dramatisches Ereignis exponiert, das eine erste Bündelung von Konflikten der Zentralfigur bedingt. Sie weist eine dramatische Fabelstruktur auf, die - so bei den Regisseuren des Free Cinema das angloamerikanische Mentalitätsmuster des sportlichen Wettkampfes- in einer sich zuspitzenden Kollisionsdramatik zwischen Protagonisten entfaltet wird. Die Rückblenden erzählen die Handlungslinien aus der Vergangenheit der Zentralfigur heraus. Sie sind wichtige Mittel, um die Kausalität der Motive des Handelns, der Entscheidungen der Zentralfigur in der Gegenwartsebene zu begründen.

BEISPIELE:
In Richardsons EINSAMKEIT DES LANGSTRECKENLÄUFERS (GB, 1962) ist es der Kampf um einen Sieg: wird Colin Smith seine Fähigkeiten als begabter Läufer für einen sozialen Aufstieg nutzen, und damit die ehrgeizigen Pläne des Direktors der Erziehungsanstalt durchsetzen helfen oder wird er sich für eine Täuschung, für die Verweigerung entscheiden, weil er sich über die sozialen Unterschiede zwischen der Upper Class und seiner sozialen Schicht bewusst ist. Die Rückblenden dienen hier dazu, in epischer Weite die Motivationen des Colin Smith in ihrer sozialen Kausalität für die überraschende Entscheidung aufzuzeigen. Durch die Rückblendentechnik wird die Konfrontation und mögliche Dressur durch den Anstaltsdirektor nicht zum Zentrum. Es wird gewissermaßen eine Auseinandersetzung des Smith' mit seiner Herkunft, mit dem Geprägtsein durch das proletarische Milieu. Während also bei Richardson die Rückblenden eine dramatische Entscheidungssituation durch das Freilegen der Motive der Hauptfigur in vielen Episoden, die in der Vergangenheit angesiedelt sind, episierend baut (übrigens auch in der Verfilmung von Genets MADEMOISELLE, 1965, in der er eine einzige lange Rückblende als Schlüssel zur Story und zu der Figur gestaltete), entdecken wir in Lindsay Andersons LOCKENDER LORBEER (GB, 1963) die klassische andere Möglichkeit der Spielfilmdramaturgie dieses Typs.

Der Unfall eines Rugby-Profistars während eines Wettkampfes unmittelbar vor Weihnachten spitzt seine komplizierten Beziehungen zu einer Witwe mit zwei Kindern, bei der er wohnt, zu. In wenigen Tagen kommt es zu einem endgültigen Bruch in den Beziehungen zu dieser Frau. Er zieht aus der Wohnung aus und erfährt kurze Zeit darauf, dass sie wegen einer Gehirnblutung in ein Krankenhaus eingeliefert wurde. Er erlebt, wie sie stirbt. Diese Gegenwartsebene klingt melodramatisch genug, aber Anderson schafft es, eine bittere, eine quälerische Beziehung zweier Menschen in einer Welt zu zeigen, die es ihnen nicht möglich macht, ihre kleinbürgerlichen Stereotypen von Wohlstand und eigenem Heim mit der brutalen Welt des Sports als Verkauf und Auslieferung des Talents an die Bosse und die Menge in Einklang zu bringen. Hier werden die Rückblenden das kompositorische Element, das die dramatische Story-Entwicklung auf der Ebene der Vergangenheit verbindet mit der kathartischen Wende des Frank Marchim, mit dem Umbruch vom siegessicheren Aufsteiger zum Mann der Krise.

TYP III
Gerichts- und Tribunal-Storyfilme mit Rückblenden- zwischen berichtend-informativen Inserts und vielschichtiger epischer Konstruktion von mehreren Handlungslinien in einem Figurenensemble.

In der Gegenwart wird eine Gerichtsverhandlung, eine Untersuchung oder ein Tribunal auf Dialogebenen ausgetragen. Der Bau der Story zielt nicht auf eine individuelle Entscheidung, sondern auf Urteilsfindung. Diese kann Bestandteil der Story sei. Sie kann aber auch die Lösung an den Zuschauer verweisen.

Der Gerichtsfilm thematisiert die Gerichtsverhandlung, den Prozess und muss folglich auf Verhör und Argumentation setzen. Der Rahmen für die Inszenierung ist notwendigerweise durch die Formalien der Interaktion und Dialogkommunikation bestimmt. Für eine psychologisierende Analyse gibt es wenige Möglichkeiten, denn verhandelt werden Entscheidungsfragen, die objektiv zu beurteilen sind. Für Osteuropa dürfte DER ANGEKLAGTE von E. Klos / J. Kadar (CSSR, 1964) ein Schlüsselfilm bei der Neubestimmung von Öffentlichkeitsfunktionen in den frühen 60er Jahren gewesen sein.

Vom Standard des Gerichtsfilms unterscheidet sich eine Subgruppe, in der zwar das Tribunal oder die Gerichtsverhandlung die Exposition bedingt oder/und der Gang der Untersuchungen vor der Verhandlung die eigentliche Story bilden. Als Beispiele können genannt werden: F. Beyer SPUR DER STEINE (DEFA, 1966) und als Modifikation dieses dramaturgischen Modells G. Stahnkes DER FRÜHLING BRAUCHT ZEIT (DFF-DDR, 1965); ein Sonderfall wäre A. Kovács mit KALTE TAGE (Ungarn, 1967).

BEISPIELE
E. Klos / J. Kadar DER ANGEKLAGTE (CSSR, 1964): ein Kraftwerk musste termingemäß gebaut werden, die Arbeiter waren nur zu gewinnen, wenn sie dabei auch gut verdienen konnten, man hat also mit Zielprämien gearbeitet und die verschiedenen Leitungsebenen nahmen dazu verschiedene Standpunkte ein: die Buchhalter der Investitutionsabteilung wirtschafteten in ihre Tasche, der Gewerkschafts- und der Parteifunktionär unterstützten die Linie des Werkleiters Kudera und sie begründeten diese Linie mit der erreichten wirtschaftlichen Effektivität und das Ministerium wollte Fehler in der Durchführung gesetzlicher Vorschriften übersehen im Interesse des baldigen Abschlusses des Baus.

Nur wenige kleine Szenen ermöglichen menschliche Dimensionen: wenn ein Kameraschwenk vom Gang im Gericht zum Fenster der vergitterten Zelle die Verbundenheit, die Solidarität der Ehefrau des Angeklagten erzählt; wenn der vom Typ her negativ besetzte Verteidiger plötzlich für den Mandanten eintritt. Es würde nahe liegen, dass die Rückblenden, die Arbeiter auf der Baustelle zeigen, die Rekonstruktion der Geschehnisse, die in der Dialogkommunikation der Verhöre benannt werden, erzählen. Aber diese Funktion wird für die Story-Erzählung nicht erkennbar. Die Rückblenden deuten mehr Geschehnisse an, vermeiden jegliche Dramatisierung, Auseinandersetzung, vermitteln aber dem Zuschauer auch keine neuen Fakten - eher vermitteln sie Bilder einer Baustelle, sperrig-herb, den Reportagecharakter insgesamt unterstreichend. Die Rückblende hat keine Erzählfunktion, sie ist ein Insert zur Illustration oder als Verweis zur Gegenwartsebene.

Offensichtlich- und man muss davon ausgehen, dass es Klos/Kadar nicht nur um Füllsel, um Anhängsel ging- haben diese Rückblende andere dramaturgische Funktionen als sonst gebräuchliche Flash Backs.
Erstens: Diese knappen Inserts motivieren die Gegenwärtigkeit des Gerichtsgeschehens. Die Dramaturgie will nicht die Vergangenheit als Zitat, sie will nicht die Dramatik vergangener Ereignisse, sie will also nicht die epische Fülle der Handlungslinien und Geschehnisse, wie wir sie dann bei F. Beyer SPUR DER STEINE entdecken (und Beyer stilisiert außerdem mit Western-Genre-Möglichkeiten die Darstellung der Zimmermanns-Brigade).

Zweitens: Rückblenden in diesem Film betonen die Flüchtigkeit des Augenblicks, das Momentane, sie deuten die Leichtigkeit des Berichts, der Reportage an. Also nicht Tiefe der Zusammenhänge, der Argumentationen, sondern Oberfläche. Wenn dies nicht Langeweile erzeugen soll, dann müssen wahrnehmungspsychologische Sachverhalte für die Komposition bedacht werden. Die Rückblenden dieser Art sind Gegensätze: Baustelle gegen Gerichtssaal, Bildhintergründe und Personen im Vordergrund - meist halbnah bis total, aber im Saal spannungsreiche Anschnitte mit Köpfen im Vordergrund - also Bildspannungen und -statik werden wirksam. Rückblenden erfordern den markanten Bildschnitt und der Schnitt verändert das Tempo, verändert möglicherweise die Intensität von Bewegungsmotiven im Bild. D. h. so wie bei den tschechischen Kameraleuten ein sensibler Umgang mit Bildausschnitt, mit Kamerafahrten, mit der Komposition der Einstellung Aufmerksamkeit gefordert hatte ( Jan Curík, Jaroslav Kucera, Miroslav Ondrícek), so wäre auch die Insert-Rückblende auf ihre Ausdrucksfunktion in der Montage hin zu bedenken.

Einen Ausnahmefall dürfte András Kovács' KALTE TAGE (Ungarn, 1967) sein. Der Film beginnt in der Gegenwart: 1945, eine Gruppe von ungarischen Offizieren, die der Massaker an der serbischen Zivilbevölkerung angeklagt sind, warten auf ihren Prozess. Unter ihnen der Befehlshaber des Massakers, der nicht weiß, dass durch eben dieses Massaker seine eigene Familie, die sich seinerzeit in der Stadt befand, an der eisigen Donau auch erschossen wurde. Diese Story dramatischer Ereignisse wird dann geschlossen in einer Rückblende erzählt. In gewisser Hinsicht hat die Gegenwartsebene von 1945 in der Exposition und im Finale mehr die Funktion, die Schuldfrage zuzuspitzen. Das Urteil hat der Zuschauer zu fällen. Die Gerichtsverhandlung wird ausgespart.

In der Geschichte der DEFA dürfte für diesen Typ der Rückblendendramaturgie -ausgehend vom Tribunal bzw. von der Gerichtsverhandlung- Frank Beyers SPUR DER STEINE (1966) eine über diese Zeit hinausweisende Gültigkeit haben.

Feststellung 1:
Im Unterschied zu den Rückblendendramaturgien der Tschechen, die gegen Mythologisierung und Entfremdung durch die sozialistische Staatsmacht vorgingen, sind die DEFA-Rückblendendramaturgien letztlich immer auf die Legitimation des "ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaates" ausgerichtet worden. Die Ursache hierfür dürfte in dem Legitimationszwang gegenüber der BRD gesucht werden. Sie verweist auf die Besonderheiten der in zwei Staaten gespaltenen Nation, die in den Medien ihre Selbst- und Fremdbilder produzierten. In SPUR DER STEINE hatte dies die Deus-ex-machina-Lösung durch Jansen, den Bezirkssekretär, zur Folge. Im GETEILTEN HIMMEL die Argumentationsmontagen.

Feststellung 2:
SPUR DER STEINE repräsentiert das Industriesujet des DEFA-Spielfilms in der Einheit von Männergesellschaft und Wandel der Wirtschaft. Während im GETEILTEN HIMMEL innerer Monolog und Autorenerzählerin und vielfältige Montagelösungen der Argumentation (Argumentationsmontage von Werkleiter, Ingenieur, Brigadier im Ballsaal) mit einem weitgefächerten Figurenensemble verknüpft werden, aber immer die Rita-Perspektive Zentrum ist, könnte bei SPUR DER STEINE davon gesprochen werden, dass in den Zwängen der Männergesellschaft die Frau zum Opfer wird. Auffallend ist, dass in der de facto Gerichtsversammlung Kathi zwar ebenso wie Horrath und Balla geladen ist, aber letztendlich flüchtet. Auffallend ist, dass in diesem Spielfilm der sozialistischen Industrialisierung eine Frau gezeigt wird, die unverheiratet ein Kind austrägt, aber nie wird ihre Bindung zu diesem Kind in einer Szene verhandelt. Die Rivalitäten der Männergesellschaft bilden das Kraftzentrum der Handlungslinien, nicht die Emanzipation der Frau. Die Männer halten Gericht über ihr Versagen. Dabei gilt: Balla, der Anarchist erweist sich als der einzig menschlich offene, auf andere zugehende Charakter. Er kümmerte sich um Kathi, er befragt Horrath nach seinen Motiven als Genosse und als verheirateter Mann. Er grenzt sich vom 2. Sekretär Bleibtreu ab, er fordert Autoritäten heraus. Aber: je mehr Balla sich Horraths Bestrebungen verpflichtet, desto mehr geht seine Autorität in der Brigade zu Bruch bzw. zerbricht die "Gemeinschaft" der Ballas. Ein staatsideologisches Phänomen der sozialistischen Massenkultur der DDR wird erkennbar: von der Kollision mit Horrath und dem Wettkampfritual zu Beginn, von der anarchischen Behauptung der Gemeinschaft der Ballas zu einer abstrakten Menschengemeinschaft im Namen der Pflicht zur wirtschaftlichen Effektivität. Das Pflichtphänomen, die Pflichtmoral der sozialistischen Industriegesellschaft hat notwendigerweise die Disziplin als grundlegende Sozialisationsanforderung sanktioniert. Deshalb auch nicht die Tragödie, die Zerstörung, sondern die Deus-ex-machina-Lösung durch Jansen, den Sekretär der oberen Ebene, der sowohl Horrath Gerechtigkeit widerfahren lässt als auch versucht, Kathi Klee zu helfen (immerhin endet die Story, indem er zur Wohnung der Klee fährt, um sich um sie zu kümmern, aber sie ist bereits abgereist).

Die Rückblendenerzählung arbeitet sich von der Ermittlung der objektiven Anforderungen auf der Baustelle (Einführung effektiver Methoden, Dreischichtsystem und im Gefolge Ablösung des Bauleiters) vor zum Versagen der Männer gegenüber der Frau. Zwei für die dramaturgische Bauweise des Industriesujets der DEFA-Filme charakteristische Besonderheiten fallen auf:
(1) Die Gegenwartsebene der Story-Erzählung hat zwei Linien:

- die Gerichtsverhandlung über die Entwicklung der Baustelle und die Anhörung bzw. Befragung von Balla, Truthmann, Horrath durch Hesselbarth, Jansen, Bleibtreu u. a.
- Ballas Aufforderung an Kathi Klee zu sprechen (1.'14'' und 130.'-131.' im Freien, dazwischen 40.' sie trifft im Vorraum der Beratung ein, 76.' sie ist weggegangen, 131/32.' sie hat die Wohnung verlassen).

Warum hat Beyer eine solche Differenzierung getroffen? Wollte er die Beziehung Ballas zu Kathi nochmals betonen, denn Horrath hatte sie im Stich gelassen? Man könnte - ausgehend von dem Frauenbild des sozialistischen Industriefilms - an dieser Bauweise der Gegenwartsebene auch geltend machen, dass nicht die Zeitebene Gegenwart wichtig ist in der Erzählung, sondern die Konstruktion eines Gleichgewichts, das sich als Ungleichgewicht erweist: die Männer-Werk-Ebene. Gerade weil in den Rückblenden und in der Gegenwartsebene nicht die Stärken der Frau, gerade weil auch nicht ihre Beziehung zu dem Kind als Argument bedacht wird, bleibt nur die Rollenebene der Niederlage der Frau in der Männergesellschaft.

Konsequent wird diese Problematik erst in den 70er Jahren in den E. Günther- Filmen DER DRITTE (1972) und DIE SCHLÜSSEL (1974) in einem von der beruflichen Rolle der Frau sich abgrenzenden Emanzipationsverständnis artikuliert- aber wichtig ist, dass das Szenarium von G. Rücker zum DRITTEN bereits 1968 beim DEFA-Spielfilmstudio vorlag. Das Szenarium folgte der DEFA-Tradition der Dramaturgie der charakteristischen Biographie und nutzte dazu die Rückblendentechnik.

Die Rückblendentechnik in SPUR DER STEINE erzählt also nicht nur die Auseinandersetzung zwischen Balla und Horrath, und auch nicht nur die Schwierigkeiten der Planwirtschaft, sondern einmalig dürfte sein - auch im Vergleich zu Entwicklungen in anderen osteuropäischen Kinematographien - dass mit der Rückblendentechnik in SPUR DER STEINE ein Dreieckskonflikt im Industriesujet gestaltet wurde, der das Versagen patriachalischer Strukturen im Sozialismus zu thematisieren gestattete.

Alle Rückblenden sind Bögen von Episoden des weitgefächerten Figurenensembles, d. h. es handelt ich immer um Ereignisbündel. Die Bindung aller privaten Bezüge an das Gravitationsfeld des Werks hat dramaturgisch zur Folge, dass immer die Werkebene und die Dreiecksbeziehung Kathi-Balla-Horrath zum Repertoire der Rückblendenepisoden gehört. In den 70er Jahren erfolgte in der DEFA, ohne dass von den Rückblendendramaturgien die Neuerungen ausgingen, eine striktere Besinnung auf die individuellen Lebensbereiche und die individuellen Entscheidungen- auch im Industriesujet- (z. B. BANKETT FÜR ACHILLES, R. Gräf, 1986).

TYP IV
Reporter- und Rechercheurstory mit Rückblenden - episierende Lösungen des Dokumentaren (Z. Fabri / F. Santa; A. Scibor-Rylski /A. Wajda; ein Gegenpol: F. Fellini ROMA, 1972)

Ausgangspunkt sind die Entdeckungen eines recherchierenden Reporters oder einer Reporterin. Die tragischen Konstellationen der Geschichte werden durch die Rückblenden in besonderer Weise episiert: es wird mit dem Widerspruch von Berichten und Erzählen stilistisch operiert. D. h. das interessante Lösungen im Umgang mit dem Dokumentarfilm in der Spielfilm-Story realisiert wurden- in der Spannung von Tragischem, Grotesken, Allegorischem.

Das seit Ende der 50er Jahre in Italien verfolgbare Reportermotiv (M. Antonioni, F. Fellini) trägt die Widersprüche von Erzählen und Berichten polemisch aus- ohne dass Rückblendenkonstruktionen für die episodische Story-Komposition entwickelt bzw. benötigt werden (vgl. auch die distanzierende Sicht auf den sozialistischen Reporter durch Evald Schorm in MUT FÜR DEN ALLTAG, CSSR 1964, einem Story-Film über einen jungen Arbeiter).


EXKURSE zum Reportermotiv in Wajda-Filmen

Für die Entstehungsgeschichte von DER MANN AUS MARMOR von A. Wajda ist bezeichnend, dass im Juni 1976 die Unruhen in Radom (und in den URSUS-Werken) stattgefunden hatten, und er auf ein Szenarium von 1963 von Aleksander Scibor-Rylski zurückgriff. Bereits im Februar 1977 fand in Warschau die Premiere statt - mit dem Ergebnis, dass innerhalb von 6 Wochen 2 Millionen Besucher gezählt werden konnten. In dem Szenarium von 1963 endete der Film mit dem Besuch einer Abendschule durch den Aktivisten Birkut. Wajda plante für 1977 mit der Erinnerung an die Ereignisse vom Dezember 1970, der Erschießung von Arbeitern und Bevölkerung in Gdansk, dass Agnieszka, die Dokumentarfilmregisseurin, und Maciek, der Sohn Birkuts, das Grab suchen. 1981 in DER MANN AUS EISEN wird diese Episode Bestandteil einer Biografie des Macieks zwischen 1968/70 und den Streikkämpfen auf der Leninwerft 1980 in Gdansk. In der vom DFF am 12. 4. 91 ausgestrahlten Sendung des MANN AUS MARMOR fährt die Diplomandin - nachdem ihr verwitweter Vater sie bestärkt hat, Tadeusz Birkut aufzusuchen, um mit ihm gemeinsam das Projekt beim TV durchzusetzen - nach Gdansk und trifft den Sohn. Er teilt ihr nur mit, dass der Vater gestorben ist. In den letzten Kameraeinstellungen gehen beide den endlosen Gang in der TV-Anstalt zum verantwortlichen Redakteur.

PROBLEM 1
Was ist ein positiver Held? Oder: die Kritik der Moral und der Ästhetik des Erfolgsmenschen

Die Story-Erzählung von DER MANN AUS MARMOR gleicht der von Orson Welles CITIZEN KANE. Der amerikanische Erfolgsmensch und sein Scheitern an der Hybris- das war die Kritik einer Moral, von der der American Dream des Erfolgs geprägt und Amerika gefährdet wurde. Die Ähnlichkeiten sind auffallend:
- Reporter/Dokumentaristin recherchieren das Leben eines Erfolgsmenschen. In dem einen Falle ist der Tod des Kane und die psychoanalytische Enträtselung der Kindheit- Stichwort "rosebud"- verbunden mit Befragungen seiner Kollegen und seiner Frau für die Rückblenden-Episoden bestimmend. In dem anderen Falle ist es eine Diplomandin, die ihren Film "Helden für eine Saison" produzieren will. Die Frage nach dem Erfolg ist nicht ausschließlich die einer Erfolgs-Story der frühen Jahre des sozialistischen Aufbaus - also des Geburtsjahres 1952 dieser Diplomandin.
- Wajda verfolgt eine sozial gestische Darstellung von Situationen, Vorgängen, Umständen von Menschen, die von der Notwendigkeit ihres Einsatzes für ein besseres Polen überzeugt waren- und er legt frei, mit welchen Rollenzuweisungen und -verinnerlichungen die institutionalisierte Herrschaft (Propaganda, Parteiorganisation, Staatssicherheit) die Individuen der Show, der Theatralität verpflichtete. Zugleich konfrontiert er diese Handlungsstrategien des Erfolges in der Geschichte des Sozialismus mit der moralischen, nicht ideologischen Befragung der älteren Generation durch die neue Generation. Deren Werte - so Agniescka - bestehen aus: Bereitschaft zur Auseinandersetzung über Fehler, Stagnation, Risikolosigkeit, Begeisterung und Engagement für den Öffentlichkeitsauftrag des Künstlers, statt Privateigentum, statt Besitz, statt Konsummöglichkeiten Suche nach Menschen, nach Solidarität, nach Kommunikation, nach Identitäten, die Handlungsfähigkeit in politischen Prozessen ermöglichen.

Ein entscheidender Unterschied zu O. Welles' Kritik dürfte darin bestehen, dass der Pole Wajda 1976 nicht dem amerikanischen Individualismus, sondern einem polnischen Neuansatz von Solidarität folgt - indem er falsche Solidarisierungen in der Vergangenheit vorführt. Er stellt aus als positiven Wert, dass alternative Generationskontinuitäten des Widerstands sich entwickeln (Agniescka und ihr Vater; die Birkuts).

PROBLEM 2
Polnische Traditionen: der Gegensatz von Poet und Journalist in St. Wyspianskis WESSELE - Gegensätze der Geschichtsschreibung.

Exkurs I:
Reportermotiv in den 60er Jahren in der europäischen Filmkunst

In den 60er und 70er Jahren lässt sich in der europäischen Filmkunst ein Wandel des Reportermotivs verfolgen. Bei Fellini ist der Reporter Repräsentant der Entfremdung, des Luxus, der konsumierenden Gesellschaft (Marcello, der Klatschkolumnist in DOLCE VITA, 1959). Andererseits ist in den 70er Jahren der Anwalt öffentlicher Angelegenheiten der Erzähler, der Geschichtsschreiber ein Reporter (SCHIFF DER TRÄUME, 1983). In den sozialistischen Ländern konstatieren wir in den 50er/60er Jahren Reporterfiguren, die die Anwaltschaft der öffentlichen Meinung, der Wahrheitssuche vertreten (Z. Fabri 20 STUNDEN, 1964; S. Gerassimow DER JOURNALIST, 1967). Bezeichnenderweise hat Wajda in OHNE BETÄUBUNG (1979) die Krise der Öffentlichkeit verhandelt: Der Journalist als Modell der Analyse von Lebenslügen- aber seine Konfrontationen des erfolgreichen Dokumentaristen Borski und der Diplomandin Agniescka, des TV-Chefs und der Dokumentarfilmregisseurin und in DER MANN AUS EISEN (1981) des von der Geheimpolizei erpressten TV-Journalisten, der als Provokateur auf das Streikkomitee und auf den jungen Birkut angesetzt wird (sich aber zum Schluss zu den Solidarnocse-Leuten bekennt- inzwischen ist aber auch im TV die Ablösung erfolgt).

Beachtenswert für die polnische Entwicklung ist auch, dass auf dem nationalen Festival in Gdansk 1979 das Reporter-Motiv verfolgbar war in: K. Kieslowski DER AMATEUR (Goldener Löwe von Gdansk, 1979/Großer Preis von Moskau, 1979) und Barbara Sass LIEBLOS, 1979)

Exkurs II:
Poet und Journalist in Wajdas HOCHZEIT (1973) nach St. Wyspianski.

In der Verfilmung von Wyspianskis WESSELE durch Wajda (1973) wird auch die aus dem 19. Jahrhundert und der polnischen Neoromantik verpflichtete Unterscheidung zwischen dem Journalisten und dem Poeten übernommen. Poet und Journalist waren einst einer gemeinsamen literarisch-öffentlichen Produktion verpflichtet, aber beide werden aus der Perspektive einer typisch polnischen Realitäts- und Geschichtssicht unterschiedlich bewertet: in den Auseinandersetzungen um die Erhebung im Länderdreieck von Russland, Österreich, Preußen (1864)wird die vergangene Adelsrepublik und der Bauer als Träger der Aktion beschworen. In diesen geschichtlichen Situationen ist es der Poet, der Hoffnungen artikuliert und der Journalist, der die Hoffnungen aufgegeben hat.

So beschwört der Poet den Helden:
"Mir schwebt ein Drama vor,
rauschhaft, bedrohlich und gleitend
wie eine Polonaise; Stöhnen aus den Kasematten-
Kettenklirren, Sturmgebraus. . . "/6/

Dagegen klagt der Journalist im Gespräch mit Stanczyk, einem Hofnarren:
"Der guten Narren Schar hat sich gelichtet, wir legen graue Farben an;
Das Zukunftsbild verblasst. . . furchtbare Dinge geschehen.
Den Lauf der Dinge mitansehen,
die vom Erträumten so fern,
so unendlich fern von allem,
was groß war in diesem Land;
was groß war alles verfallen
und unwiderruflich verblaßt. "/7/

Das heißt zum einen: In den Personen des Poeten und des Journalisten wird die Erzählung von Historie als literarische Aufgabe bestimmt, dies verbindet Poesie und Publizistik. Zum anderen aber ist es der Gegensatz von Hoffnungen, von Emphase, von handlungsmobilisierendem Öffentlichkeitsauftrag und von Aufgabe der Zukunft, von resignativer Akzeptanz der Balancen der Geschichte im Niedergang. Es wäre ein totales Missverständnis der polnischen Sicht, wollte man bei Wajda eine Moralisierung von Kunst und Journalismus im Sinne von utopischem Sendungsbewusstsein einerseits und sarkastischer Selbstzerstörung andererseits vermuten. Eher geht es um das Paradox, um die Dialektik der Widersprüche in historischen Situationen. Wajda, der in ASCHE UND DIAMANT (1958) die aristotelische Tragödie wählte, episiert die tragische Grundkonstellation der Birkut-Biografie - das wäre nicht nur in der episodischen Recherche-Story mit ihren verschiedenen vergleichbaren Ebenen als da sind Archivmaterialien, Monumentaldokumentarfilm, Wochenschauberichte und die als Rückblenden erzählten stories der Befragten begründet. Die tragische Konstellation des Birkut wird über Elemente der aristophanischen Komödientradition entwickelt (z. B. die Inszenierung der Sonderschicht durch den jungen Dokumentaristen und den Parteisekretär, die komisch-makabre Dimension der Figur des Michaleks, des Sicherheitsmannes und späteren Striptease - Klubmanagers)- wobei die Staatsaktionen durch die komödiantischen Vergröberungen in ihrer Bedeutung "verkleinert" werden (ein Mittel, das Büchner in LEONCE UND LENA, in der Puppenkomödie, anzuwenden wusste).

PROBLEM 3
DER MANN AUS MARMOR (1977) und DER MANN AUS EISEN (1981) - von der Leitbildkritik zum Aufbau neuer Leitbilder

DER MANN AUS MARMOR lag bereits 1963 als 1. Szenarienentwurf vor (Aleksander Scibor-Rylski). Als historisches Vorbild soll ein Michael Krajewski existiert haben (so in einem Interview im italienischen TV RAI von Wajda erzählt). Pläne zu einer Fortsetzungsgeschichte bestanden 1977, aber der Kriegszustand, der 1980 auf das Nationale Festival in Gdansk unmittelbar gewirkt hat, dürfte Wajdas Parteinahme für den Wandlungsprozess in Polen unmittelbar beeinflusst haben.

Beide Filme sind im Werk Wajdas markante Schnittpunkte. Mit ihnen vollzieht sich die Wende von den Literaturverfilmungen (Iwaskiewicz, W. Reymont, St. Wyspianski) der ersten Hälfte der 70er Jahre zur biografischen Geschichtserzählung der jüngsten polnischen Historie - genauer: 1950 bis 1970/1968-1980. (Seine TV-Produktionen in dieser Zeit vernachlässigen wir z. B. DIE TOTE KLASSE, 1977, auch die Literaturverfilmung DIE MÄDCHEN VOM WILKOHOF, 1979, aber auch OHNE BETÄUBUNG, 1978 und DER DIRIGENT, 1980.) Es geht - am Beispiel des Bestarbeiters und der Dokumentarfilmregisseurin - um Wajdas Kritik der institutionellen Beherrschung des Individuums. Er entwickelt in beiden Filmen seine Kritik an Macht- und Ideologiemechanismen des polnischen Staatssozialismus. Wajda funktionalisiert Montagen, lässt den Zuschauer die Falschheit von Dokumentarfilmen der frühen 50er Jahre ausmachen. Seine Montagen des Dokumentarmaterials sind Rückblenden besonderer Art: mit ihnen wird die Historie aufgerufen und in der Montage wird die Nicht-Identität von Bilderwelten und Realität thematisiert. Eine Kritik der Ästhetik der Massenkultur des Sozialismus und ihrer Träume wird mit den Montagen möglich. Das Verfahren macht deutlich, dass Herrschaftskritik nicht nur an Figurenrepräsentanzen verfolgt werden kann, sondern gleichermaßen an den Bildern, den Sehweisen, mit denen Herrschaft kommunikativ vermittelt wird.

Exkurs I:
Erneuerung des Dokumentarprinzips in der Rückblendendramaturgie
Bei Wajda werden unterschiedliche, entgegengesetzte Moralnormen ausgetragen in den Protagonistenmodellen und es erfolgt eine Besinnung auf eine Technik des dokumentaren Erzählens.

Wajda hatte in DER MANN AUS MARMOR eine Kontrapunktik von mehreren Ebenen des dokumentaren Materials oder der Nachinszenierung mit der Rückblendendramaturgie verbunden. Er machte daraus eine Frage des Materialwertes von Dokumentarfilmaufnahmen in der Rückblendendramaturgie:

(1) er unterscheidet das Ausschuss-Material, d. h. es zeigt Realitätsausschnitte, die der Zensur anheim fielen,
(2) die Monumentalästhetik des Dokumentarfilms, der die sozialistischen Erfolge demonstriert,
(3) die dokumentar-inszenierten Erzählungen der Befragten.

Wajda arbeitete fast immer mit Protagonistenfabeln. Deshalb sind in MANN AUS MARMOR die von Wider-Sprüchen getragenen Dialoge so wichtig (und deshalb ist auch die Gegenlösung so interessant: die dialoglose Episode im Komitee für Staatssicherheit, wenn er solidarisch mit Witek, der vorgeladen wurde, auf die Vernehmung wartet). Godard hatte 1968 die These von der Nicht-Identität von Bilderwelt des Imperialismus und Erfahrungswelt der Massen zugunsten der Reduktion der Bilder und der Aufwertung der Sprache, der Worte in der Spielfilmdramaturgie proklamiert. In den politischen und moralischen Auseinandersetzungen im Polen der siebziger Jahre- insbesondere um 1980 -wurde die Reflexion des Dokumentarprinzips, der dokumentaren Erzählmaterialien und -techniken von diesem Grundansatz bestimmt - aber die nationalen Bezugspunkte waren von denen der "Linken" in Westeuropa grundsätzlich unterschieden.

Exkurs II:
Die Episierung der Protagonisten - Auflösung der Tragödienstruktur durch Wajda? Biografien und Geschichte im Gegenwartsfilm
Generell vorweg diese Feststellungen:

- das Paradox von Poet und Journalist, also die neoromantische Diskussion der Geschichtsschreibung in der paradoxen nationalen Situation führt in MANN AUS MARMOR zur grotesken Sicht auf die tragische Konfliktdimension des Tadeusz Birkut; hinzukommt Wajdas Sicht auf die Generationsfrage und das Ausmachen einer neuen Generation der solidarischen Verantwortung gegen die Vereinnahmung durch die Institutionen der Herrschaft;

- die verschiedenen Ebenen des Dokumentarischen werden auch kontrapunktisch in einer Weise gesetzt, dass eine Ästhetik- und Ideologiekritik der Bilder und der Verhältnisse zustandekommt (beachte außerdem, dass der Dokumentarfilm mit dem Ball 1950 und der Herkunft des "Märchenprinzen" vom Dorfe beginnt und so einem Klischee des bürgerlichen Unterhaltungsfilms entspricht, d. h. die "Traumfabrik" und die Träume der Massenkultur werden analysierbar in der kontrapunktischen Montage des Dokumentaren);

- In DER MANN AUS MARMOR (1977) und DER MANN AUS EISEN (1981) erzählt Wajda die Recherchen und die Biografien aus unterschiedlichen Perspektiven:
A.
1977 (1963) ist es die Perspektive der jungen Diplomandin, die die Rahmenhandlung und die Recherchen bestimmt; 1981 ist es die Perspektive eines TV-Redakteurs, der von der Geheimpolizei erpresst wird, aber zum Schluss sich für das Streikkomitee entscheidet. Agnieszka ist inzwischen arbeitslos und Frau des Maciek Borski.
B.
1977 (1963) ist eine konsequente Verwendung des dramaturgischen Befragungsmodells von CITIZEN KANE konstatierbar. Ausgangspunkt ist die Rahmenhandlung um die Diplomandin und ihr Projekt. Sie befragt - ausgehend vom Archivmaterial des Studios -
1. den Dokumentarfilmregisseur Borski
2. den Sicherheitsoffizier Michalek, der in der Gegenwart einen Stripteaseclub managt
3. sie interviewt den rehabilitierten Witek, der die Story der Ehe Birkuts erzählt
4. sie fährt nach Zakopane und spricht mit Hanka, der Ehefrau
5. sie interviewt in Nowa Huta auf dem Dach eines Hauses einen früheren Arbeitskollegen des Birkut, der auf die gebaute Stadt verweist, aber nicht über die Vergangenheit sprechen will
6. sie verständigt sich mit ihrem Vater und fährt zu Birkuts Sohn nach Gdansk, der mit ihr in das TV-Studio fährt, damit der Film gemacht werden kann.

Dagegen ist der Film von 1981 von den dramatischen Ereignissen der politischen Zuspitzung 1980 während der Streiks auf der Lenin-Werft bestimmt. D. h. die Protagonisten der sozialen und politischen Ebene haben nicht nur ihre Figuren in der Story: Direktor, Geheimdienstoffizier, der TV-Redakteur und andererseits der junge Birkut, das Streikomitee, Agnieska. Notwendig ist historisches Belegmaterial zur Gegenwart: deshalb Walesa, deshalb die Verhandlungen des Streikkomitees mit der Regierungsdelegation, deshalb der Sieg der Streikenden. D. h. die Gegenwart hat eine andere Dramatik der Ereignisse und folglich ist die historische Zeit durch den Auftrag des TV-Redakteurs, an Birkut heranzukommen, an das Streikkomitee heranzukommen (um Vorwand für Provokationen zu liefern), überlagert. Nun sind es Berichte - vor allem des jungen Birkut, auch der Vermieterin, bei der das junge Paar in den siebziger Jahren Unterschlupf gefunden hatte, vor allem aber das Gespräch zwischen dem TV-Redakteur und Agnieska in einem Kellerraum des Hotels (oder eines Werftgebäudes?). Also 1981 erfolgt eine für Wajda neue und nur aus den politischen Ereignissen von 1980 in Polen erklärbare Zuwendung zum Genre der historischen Biografie, wobei die Gegenwartsebene über eine Rahmenhandlung hinauswächst, weil der Sieg von Solidarnosce Höhepunkt wird. Es ist einzig in Polen defacto an der Schwelle der 80er Jahre zu einer neuen Sicht auf die Dramaturgie der politischen Biographie eines Arbeiters der Nach-68-er Generation innerhalb des sozialistischen Lagers gekommen, d. h. Wajda könnte auch mit diesen Filmen in einem historischen Bogen von Kawalerowiczs ZELLULOSA, 1954, her zum neuen Verständnis politischer Biographien in den 70er/80er Jahren beigetragen haben.

PROBLEM 4
Fellinis Thematisierung der Dokumentarfilmregie in ROMA (1972) und die Rückblendentechnik

Auf welche filmgeschichtlichen Stilentwicklungen der 60er Jahre reagiert Fellini mit ROMA? Gibt es Bezüge zur Nouvelle Vague, zum cinema direct und zum cinéma verité? Welche neuen Akzente der Modelle episierender Dramaturgie der 60er Jahre sind bedenkenswert?

FESTSTELLUNG 1:
Generell neu bei Fellini:
Erstmals verließ Fellini die Orientierung auf Figuren, ihren Reifeprozess und favorisierte Situationen. Es ist eine Grenzüberschreitung seines Konzeptes der episierenden Dramaturgie. In Italien ist dies die Zeit, in der Pasolini DIE AFRIKANISCHE ORESTIE (1968-73) versucht (u. a.: PAPIERBLUME, 1968/69, MEDEA, 1968, SCHWEINESTALL, 1969; TEOREMA, 1968). Bei Pasolini ist auch das Interesse an der Antike zu entdecken, aber er zielt auf Afrika, Syrien, Orient, Griechenland, Palästina. Pasolini sucht mehr nach Spiegelbildern neuer sozialer Umwälzungen in der Dritten Welt in diesen alten Kulturen. Fellini sucht mehr die postmoderne Relativierung historischer Normative in ROMA.

FESTSTELLUNG 2:
a) Ironisiert Fellini Argumente der Römer über die Geschichte ihrer Stadt, über ihre Gegenwart und Zukunft, folgt er einer zentralen dramaturgischen Frage des Dokumentarfilms in einer Zeit, da Cinema direct und Cinéma verité nahezu ein Jahrzehnt alt sind? Also: es werden in der einzelnen Episode nicht verschiedene Entwicklungen von Figuren gezeigt sondern Verhaltensweisen in Vorgängen und Argumentationen (z. B. die Vorstadtvariétes der Vorkriegs- und Kriegszeit als Synthese von Circus maximus und Bordell, er stellt die brutale Art des Publikums aus; die Autobahnepisode in ROMA summiert ein Bild der Zerstörungen - ohne dass eigentlich konkrete Individuen als Verursacher ins Bild genommen werden, was auf existentielle Cultural Patterns moderner Zivilisation zielt; Fellini sagt: „Rom ist die Heimat des Pomps, des Ornaments, der Schminke, des Barocks. “ /8/
b) Entdeckbar ist eine Rückblendendramaturgie, die die Widersprüchlichkeit von individuellem und kollektivem Gedächtnis objektiviert - auf der Argumentationsebene, aber: es geht Fellini um Gesellschaftspanoramen (vgl. die kirchliche Parade, die Bordelle und die Varietéaufführungen, das Durchwandern von Travestere - ein Quartierquerschnitt).

Drei Perspektiven macht Fellini geltend in ROMA und sie sind bestimmend für die Fash Backs:
„Der Film weist drei Perspektiven auf: die erste, die sich auf meine Vergangenheit, auf meine Kindheit bezieht, ist eine humoristische, groteske Einleitung, eine Kollage aus den Klischees der Epoche. Sie wissen ja, diese Werbeplakate für Hochzeitsreisen, diese Deformierungen durch die Schule und all diese Phrasen, die ungestalten, primitiven Dinge, die der Pabst gut heißt.

Die zweite ist die Perspektive der Erinnerung: ein Heranwachsender geht nach Rom, entdeckt die Römer, die Kirche, die Frauen, das Music Hall. Die Sequenz über das Music Hall ist die politischste: ich zeige mit einem Gefühl von Mitleid und Scham, das Klima der Ignoranz, des Aberglaubens, des Obskurantismus und der Sentimentalität, in welchem so viele Römer während des Krieges lebten, unter dem Faschismus und während der Bombardierung Roms.

Die dritte Perspektive ist die des Filmautors, der dem Publikum die Freude macht, ihn betrachten und ihm beim Filmen zusehen zu dürfen. Und dieser Filmautor äußert sich über den Verkehr, die Untergrundbahn, die kirchliche Parade und das große symbolische nächtliche Finale mit den Motorradfahrern, die durch die Stadt rasen. “/9/

c) Fellini, der von sich ironisch sagt, er sei ein Lügner, kehrt das Dokumentarprinzip um, das er im italienischen Neorealismo selbst vertreten hatte (PAISÁ: die Franziskanerepisode, 1947; DIE ERDE BEBT; Visconti, 1948) und das für die Spielfilmregie der 60er Jahre viele neue Impulse vermittelte, endgültig nach 1965 : alles wird im Studio als Imitation der Realität nachgebaut und die Studiowirklichkeit erscheint als der schöne Schein der Realität. Nicht das Abbild, sondern die Konstruktion der Realität. Wichtiger scheint mir aber dies zu sein: die Realität in ihrer tatsächlichen sozialen Irrationalität übersteigt die Grenzen der Vorstellbarkeit (so äußerte er zu SCHIFF DER TRÄUME, 1983, dass die Möglichkeit des Krieges außerhalb der Vorstellungskraft seiner Kunst liege, deshalb wählt er die Ironie und trägt mit ihr eine Welt des Schönen aus: der Kreuzer ist bei aller Gefährlichkeit ein Kunstwerk und diese Ebene des Modells wird nie verlassen). Nur auf der Ebene der Modelle kann die Ironie noch als ästhetisches Potential einer Gegenwelt zur irrationalen Realität gesellschaftlicher und geschichtlicher Phänomene entfaltet werden. Dies hat Konsequenzen für Fellinis Umgang mit Rückblenden und dem Dokumentarismus.

Generell ließe sich sagen:
a) Fellini will nicht Rom als historisch belegbares Herrschaftszentrum eines Weltreiches ausstellen und versucht nicht, die Authentizität der Stadt, ihrer Historie zu rekonstruieren. Er wählt eine andere Sicht auf Rom und die Römer. Sein „Rom“ schäumt über von unzähligen Gegenkräften zu Krieg und Kampf der Mächtigen um Herrschaft . Er stellt den Lebensgenuss der Römer aus – so wenn er sie in Travestere lukullisch ausstellt. Er mythologisiert das Colosseum im unendlichen Autostrom der modernen Großstadt zum Koloss schlechthin.

b) die Thematisierung der Entdeckung der Stadt (ein Regisseur und eine Reporterin machen einen Dokumentarfilm über Rom) und der Erinnerung (der Regisseur erinnert sich an „sein“ Rom, das der Vorkriegszeit, der Kriegszeit, der Nachkriegszeit) führt notwendigerweise zu den Fellinischen Phantasieakten, die den Anspruch des Dokumentaren unterlaufen. Fellini macht eine Ironie im Umgang mit Realitätsvorstellungen überhaupt geltend. Alles wurde im Atelier gebaut. Die Sequenz „Fahrt nach Rom“ ist eine geniale Parodie auf die Ausschließlichkeitsansprüche der Authentisten der dokumentaren Methode. Zum anderen ist es die Ironie im Ausspielen von Objektivität der dokumentaren Methode und der Subjektivität des Erinnerns des Individuums. Subjektivität als Kontermöglichkeit historischer Normative im Umgange von Generationen mit dem Rombild (vgl. die Interviews/ die Diskussion mit den jungen Leuten, die Fellinis Rom-Bild kritisieren). Die Subjektivität als Einkreisen von Erfahrungen, individuellen Beobachtungen - als Ablehnung von stereotypen Urteilen). Das motiviert die Rückblendentechniken. Dieses Spiel mit der dokumentaren Methode führt ihn nicht zu einer assoziativen und surrealen Rückblendentechnik. Es ist eher die postmoderne Skepsis gegenüber der Unerschütterlichkeit historischer Normative und eine zivilisationskritische Sicht, die seine Aufgabe des Dokumentarismus prägt.

TYP V
Grenzfälle der Rückblendendramaturgien- Differenzierungen von Autoren- und Figurenperspektiven in Montagelösungen des Imaginären (L. Bunuel, V. Chytilová, J. Jires, A. Kluge, J. Nemec, I. Szabó; Entwicklungen in den 70er Jahren: die travellings des Theo Angelopoulos)

Obwohl man annehmen müsste, dass Rückblenden eine subjektive Determination auszeichnet, d. h. dass es Umschnitte im Bewusstsein der Figuren gibt, sind doch viele Rückblenden-Storyfilme- insbesondere in den dramatisch orientierten Stories - von einer realistischen Ereignisorientiertheit der Darstellung bestimmt und nicht von surrealen, assoziativen Blendendramaturgien (als Extrem der zuletzt genannten Blendendramaturgien könnte verwiesen werden auf: L. Bunuels Konzept der Erzählung der Vorstellungswelten im ANDALUSISCHEN HUND, 1928, aber auch im DISKRETEN CHARME DER BOURGEOISIE, 1972, und im OBSKUREN OBJEKT DER BEGIERDE, 1978 - ein Sonderfall wäre die Konstruktion der Story von SCHÖNE DES TAGES, 1968).

D. h. die Welt der Erinnerungen bekommt im Diskurs ihre Koordinaten durch Blende, Schnitt, durch die Bildkomposition und den Wechsel der Bildspannungen, -harmonien. Es entsteht eine Erzählung von Vorgängen, Figurensituationen, die den Ereignischarakter in der Erzählung betont (m. E. z. B. klassisch in HIROSHIMA MON AMOUR, in DER GETEILTE HIMMEL der DEFA wird noch als ordnendes Prinzip eine Erzählerstimme zusätzlich eingesetzt). Deshalb kann man, muss man in der Rückblendendramaturgie noch einen weiteren Typ der Komposition der Story und der Figuren unterscheiden. Die Rückblende als dramaturgische Blende ins Imaginäre, d. h. dass in der Stilisierung durch den Regisseur bewusst die Vorstellungswelten erzählt werden- im Kontrast zur Realebene der Handlung.

Der Debütfilm von Jan Némec' DIAMANTEN DER NACHT (CSSR, 1964) war in der ersten Hälfte der 60er Jahre experimentell wirksam. Die Flucht von zwei jüdischen Jungs aus einem Waggon eines KZ-Eisenbahntransports in einen labyrinthischen Wald wird von einem Gebären von Bildern aus Erinnerungsfetzen und Hoffnung begleitet. Nèmec splittert auf, setzt stilistisch überhöhte, zu Fotografien erstarrte Straßen-, Haus- und Treppenansichten des Prager Ghettos in einen Joycschen Duktus um. Der Schnitt verbindet hier nicht, er trennt, fragmentarisiert, zeigt Fremdheiten auf. Szenische Vorgänge sind oftmals nur dokumentare Beobachtungen (so die Selbstdarstellungen einer Altmännergesellschaft als Jagd- und Fängergemeinschaft; ein Bauer auf dem Feld, dem die Frau Brot und Getränk bringt) und diese Dokumentarsequenzen werden zu paradoxen Grotesken von provinzieller Friedfertigkeit, weil die Verformungen der Emotionen und Wahrnehmungen der Flüchtenden durch ihre Angst, Gier, Sehnsucht erzählt werden.

Als ein interessantes dramaturgisches Beispiel dürfte auch Istvan Szabós APA/DER VATER (Ungarn, 1966) gelten. Interessant deshalb, weil die Befreiung von falschen Leitbildern erzählt wird - eine Kindheit und Jugend zwischen 1945 und 1958/60. Szabó erzählt die Geschichte eines Jungen, dessen Vater im Krieg Arzt war. Er lernt, dass er Macht über Menschen gewinnt, wenn er diesen seinen Vater als Partisan, als bedeutende Staatspersönlichkeit der Stalinära ausgibt. Der Junge beginnt in seiner Einbildungskraft mit den Mechanismen der Stalin-Ära zu spielen. Am Schluss langt er bei der Wahrheit an und im Bild des Durchschwimmens der Donau von vielen jungen Menschen entsteht das Bild einer Generation, die sich befreit hat von falschen Mythen und zu neuen Ufern aufbricht. Die Einbildungskraft des Kindes ermöglichte eine Erzählweise, in der die jeweils gegenwärtige Welt des Kindes und des Jugendlichen mit den filmisch erzählten Vorstellungswelten kontrapunktisch verbunden wurde. So stehen sich stalinistische Schulwelten und eine im Genre der Verfolgungsjagden von Gangsterfilmen und Western erzählte Vorstellungswelt des Jungen gegenüber. Die kindliche Welt belegt, wie sozialistische Ideologien in eine Abenteuerwelt verwandelt wurden. Viel sagt dies aus über die Bewältigung des Alltages, über widersprüchliche Bewusstseinslagen in einer autoritären Gesellschaft. Der Autorenstandpunkt geht die Figurenperspektive des Kindes kontrapunktisch an, verfremdet parodiert. Es sind dies 1. die Verfremdungen auf der Ebene von O-Ton und Musik in Relation zur Bildaussage, 2. die parodierende Darstellungsweise von Miklos Gabór, der den Vater in der Vorstellungswelt des Kindes für den Zuschauer verfremdend darstellt und 3. die Allegorisierung des lapidar-alltäglichen Vorgangs, eine alte Straßenbahn wird nach dem Krieg in Gang gesetzt, durch barocke Musik wird eine Überhöhung in einer Parabel geschaffen. D. h. diese Blendendramaturgie verweist uns auf die Möglichkeit, zwischen Autorenstandpunkt und Figurenperspektive mittels der Musik, mittels parodierender Spielweisen der Schauspieler die epischen kommentierenden Ebenen zu verstärken.

Es ist das Verdienst der tschechischen Neuen Welle, dass ihre Regietalente auch die klassische Rückblendendramaturgie (z. B. in Marcel Carné LE JOUR SE LEVE/DER TAG BRICHT AN, 1939) und die von der französischen Nouvelle vague (M. Duras, A. Resnais, A. Robbe-Grillet) entwickelten modernen Erzähltechniken der Rückblendendramaturgie modifizierten.

In dem Debütfilm aus dem Jahre 1963 DER SCHREI (KRIK) arbeitete Jires im Finale auch mit Wiederholungsinserts- ein Verfahren das insbesondere auch J. Nemec verfolgt hat. Die Rückblendendramaturgie in dieser Story, die in der Gegenwartsebene den Tag der Niederkunft einer Frau verfolgt und simultane Ereignisse in Episoden erzählt: die Frau in der Klinik und ihr Mann, ein TV-Mechaniker, der seiner Arbeit nachgeht und verschiedene Begegnungen hat (auf Straßen, in Wohnungen, Alleinstehende und Ehepaare, ins Kino geht, ein Kinderbett kauft von einem Maler, zu Hause in Fotoalben blättert), ist notwendig, um zu einer Vielzahl von Zusammenhängen, zu geistigem und emotionalem Reichtum zu gelangen. Diese Story - Konstruktion durch Rückblenden weist tschechische Besonderheiten auf:

(1) Wenn auch DER SCHREI eine Fabel aufweist, so ist aber die Aufsplitterung in Episoden, in Ansichten und Gegenansichten, in schauspielerische Szenen und Wochenschaumaterial, in Atelier- und Außenaufnahmen bestimmend. Jires arbeitete zeitweise in der Laterna magica und hat deren "Spot"-Technik, die Montagen von Ansichten und Gegenansichten dort erprobt. 1960 erschien Ludvík Askenazys Montageband CERNÁ BEDÝNKA/DIE SCHWARZE SCHATULLE, eine Montage von Fotografien, Songs, Balladen, Gedichten, die für die Konstruktionen von Welt- und Lebensansichten, wie sie in den Filmen von Jires, aber auch von Jan Nèmec, auch der Vèra Chytilová verfolgbar ist, von grundsätzlicher Bedeutung war. Der Fortschritt dieser Technik bestand nicht nur in der Komposition verschiedener Materialien und Genreelemente. Er baute auf einer Entdeckung der kleinen Welten des Alltagslebens auf: einerseits Bruchstücke, Splitter der Realität und andererseits menschlicher Kosmos.

(2) Die Rückblendendramaturgie hat eine veränderte Funktion, weil nicht die Beschwörung der Vergangenheit- z. B. verdrängte Verhaltensweisen aus der Zeit der deutschen Okkupation in Frankreich in Resnais ´HIROSHIMA MON AMOUR, 1959, oder Motivationen gegenwärtigen Handelns- so im englischen Free Cinema- für diese humanistischen Anliegen wichtig wäre. Es geht um eine intensiv reflektierte gegenwärtige Alltäglichkeit junger Leute, in der der Krieg als Bedrohung der Liebe, der Kinder, allen Lebens ebenso mitgedacht wird wie die Analyse des Alltagsleben im Sozialismus. Zu Recht ist deshalb von drei Handlungslinien in diesem Film gesprochen worden: „eine junge Frau steht vor der Entbindung von ihrem ersten Kind; ihr Mann, ein Fernsehmechaniker läuft in der Stadt umher, wie seine Arbeit es erfordert und kommt abwechselnd in die verschiedensten Milieus; und die dritte Linie schließlich bilden Fragmente aus Wochenschauen- das Bild einer chaotischen, unsicheren, halbirren Welt, in die das Kind geboren werden soll. "/10/ Das heißt aber auch, dass die Erzählfunktion der Montagekomposition in der Art des Cinéma verité gegenüber der Rückblendendramaturgie Vorrang gewonnen hat. Die Rückblenden sind zu einer, wenn auch wichtige Technik, unter anderen geworden. Auffallend bei Jires und in Jan Nèmec' Debütfilm DIAMANTEN DER NACHT (1964)ist, dass je mehr Aufmerksamkeit der subjektiven Welt der Figuren, ihren Wahrnehmungen und Vorstellungen gewidmet wird, die historische Zeit für die Story-Ebenen aufgegeben wird. Es werden Verwandlungen, Identitätsfindungen im Sinne des Joycschen Bewusstseinsstrom wichtig, weil die existentielle Situation der Individuen mit all ihren emotionalen Traumen danach drängt. Eine Entwicklung, die in den 70er Jahren in Tarkowskijs SPIEGEL (1974) stilistisch weiter zu verfolgen wäre - allerdings mit einem prinzipiellen Unterschied: Tarkowskij geht mit diesen Techniken ein biografisch-epochales Erinnerungsprinzip an während in der Neuen Welle des Prager Frühlings der Mikrokosmos im Alltagsleben oder- so bei Nèmec- die paradoxen Verhaltens- und Denkweisen in existentiellen Bedrohungssituationen stilistisch überhöht ausgestellt werden.

Im Unterschied zu diesen Neuerungen der Rückblendendramaturgien ist von A. Kluge eine essayistische Montage in der Spielfilmdramaturgie der 60er Jahre im Zuge der Neuen Wellen Westeuropas entwickelt worden.

Für Kluge wird die traditionelle Rückblende unwichtig. Er verfolgt ein Konzept von "memory" des Zuschauers. Er will assoziative Reihungen bewirken und setzt deshalb auf Perspektivenwechsel, auf das Nebeneinander von imaginären Blenden, schriftsprachlichen Titel, Zitate- so die Sequenz "Imaginär". /11/Die dramaturgische Blende in DAS IMAGINÄRE bei Kluge ist mit Fakten -Bildern, Zitaten als Kommentare, historische Exkurse- gespickt und er fordert Argumentation- seitens des Zuschauers. Ein ordnendes Bewusstsein bietet die Montage nicht. Die Auflösung der Story-Erzählung durch die Montage in das Essayistische deutet sich an. Der Übergang zur Essay-Methode in der Spielfilmdramaturgie (Kluges Filme der 80er Jahre vollenden konsequent eine Variante postmoderne Dramaturgie der westeuropäischen Hochkunstentwicklung, die allerdings in ihrer extremen Ausprägung am unwilligen Publikum zu scheitern droht) löst die zeitliche Gebundenheit der Figuren an ihre Gegenwart und Vergangenheit auf in ein ikonographisches Spiel mit simultanen Ereignissen, Erfindungen des Regisseurs. Kluges Filme zeigen dramaturgische Grenzen der Postmoderne auf, indem sie Grenzen überschritten- auch der Rückblendendramaturgien.

Fellini hat in ACHTEINHALB (1963) mit dramaturgischen Techniken des Blendens ins Imaginäre gearbeitet. Die Rückblende als Umschaltung zwischen Vorgängen auf der Gegenwartsebene in Vorgänge der Vergangenheit der Figuren ist bei ihm nicht zu entdecken. Sie wird ersetzt durch Ikonographien, durch Sinnbilder, die Zustände der Zentralfigur bezeichnen. Fellini operierte hierbei mit der erzählerischen Kraft panoramatischer Arrangements in Plansequenzen (so im Finaleaufmarsch und in der Konfrontation des Regisseurs mit dem Kind)) oder mit Comic-Ikonographien (in der Exposition der Flug aus dem Auto).

Bunuel erzählt in der MILCHSTRASSE (1969) die Wanderschaft der Bettler auf dem Jacobusweg, aber er blendet in den Begegnungsepisoden ständig von der Gegenwart in andere Jahrhunderte und operiert nicht mit der klassischen Rückblende des individuellen Sachverhalts des „memoir“. Er trägt Argumentationen aus (die er aus der Geschichte der Häresie übernommen hat). D. h. er wählt jeweils entgegengesetzte Argumentationen von divergierenden Dogmen aus und versucht sie- oftmals mit den naiv-leiborientierten Fragen der Bettler zu konfrontieren. Dabei springt er zwischen Gegenwart und verschiedenen historischen Zeitebenen.

Den Wechsel der historischen Zeitebenen hat der Grieche Theo Angelopoulos in WANDERSCHAUSPIELER (1974) und JÄGER (1977) durch seine Inszenierungstechnik mit Plansequenzen stilistisch in neuen künstlerischen Dimensionen angegangen. In dem Regieporträt THEO ANGELOPOULOS (Christa Maerker, SWF 1990) formulierte er sein Anliegen so: „Für viele hat der Raum keine Bedeutung. Für mich hat er riesige. Für mich liegt zwischen dem Raum und den Personen eine kontinuierliche Dialektik, eine erforderliche Dialektik, die den Raum zu Zeit macht und die Zeit zu Raum. “

Der Begriff Zeit steht hier für historischen Zeitenwechsel
„Ich wollte die Ereignisse verdichten und keine Vergangenheit herstellen ...“ Vergangenheit solle wie Gegenwart sein, d. h. es komme darauf an „Szenen her (zu)stellen, in denen Vergangenheit und die Gegenwart sich in derselben Szene durchdringen.“ (Ebd.) Bei Angelopoulos entdecken wir die extremste Modifikationen der Rückblendendramaturgie in den 70er Jahren. Dies sind keine Rückblenden, die durch Schnittmontage zustande kommen, d. h. z. B. : durch die raumgreifende Kamerafahrt werden zeitlich getrennte Ereignisse zu einem Kontinuum verbunden oder aber in der Szene tauschen (oder haben erst einmal nicht kenntlich gemacht) die Figuren die Funktionsrollen (z. B. in JÄGER: ein Politiker nimmt die Rolle eines Protokollführers an oder der ehemals Inhaftierte hat die Rolle des Staatsanwaltes angenommen). Die an die lange Kamerasequenz gebundene Erzählung der Historie führt zu Tableaus, d. h. Gruppenarrangements dominieren ebenso wie Tanz und Lieder. Es werden nicht individuelle Biografien zu Handlungslinien gebündelt sondern in Gruppenbildern (und in der klassischen vom Theater übernommen Diskursform des Berichtes über historische Ereignisse) wird die politische Geschichte Griechenlands zwischen 1939 und 1952 erzählt (in den JÄGERN wird zurückgeblendet vom Sylvester 1977 in die Zeit der politischen Entwicklungen nach der Beendigung des Bürgerkrieges im August 1949 mit Zäsuren 1958, 1961, 1964/65, 1967). Obwohl die Rückblenden an die politische Geschichte strikt gebunden sind, sind die Tableaus eine intertextuelle Kommentierung von Geschichten aus der Antike (Orestie in den WANDERSCHAUSPIELERN), eines populären Volksstückes (GOLFO, DIE SCHÄFERIN von Spiridion Peresiades, 1892) und der Wanderschaft einer Gruppe von Schauspielern durch die meereseinsamen und gebirgigen, kargen archaischen Landschaften Griechenlands zwischen 1939 und 1952, also eine Wanderschaft, die Krieg, Okkupation, Bürgerkrieg durchquert. So entsteht ein historisches Bild vom nationalen kollektiven Schicksal Griechenlands, das zwischen der realistischen Gegenwärtigkeit, der Tragödie (der Antike) und dem romantizistisch - melodramatischen Bühnengeschehen in einem Volksstück Brechungen hat.


SCHLUSSBEMERKUNGEN:

Folgende Unterscheidungen der Rückblendendramaturgie konnten an künstlerisch bedeutsamen Werken der 60er und frühen 70er Jahre diskutiert werden:
TYP 1
Realistische oder imaginative Begegnungs-Story - kausale Verknüpfungen von Gegenwart und Vergangenheit (A. Resnais / M. Duras; M. Forman; M. Jires/M. Kundera; J. Nemec; V. Chytilova)
TYP 2
Dramatische Protagonistenfabeln in der Gegenwartsebene und Erzählung der Motive der Figuren mit episierten Handlungslinien in der Vergangenheit (L. Anderson; T. Richardson)
TYP 3
Gerichts-und Tribunalstories mit Rückblenden- zwischen informativen Inserttechniken und epischer Vielfalt von Handlungslinien (E. Klos; J. Kadar; F. Beyer; A. Kovacs)
TYP 4
Reporter- und Rechercheurstories mit Rückblenden - episierende Lösungen mittels Dokumentarmaterial (Z. Fabri / A. Santa; A. Scibor-Rylski / A. Wajda; Sonderfall: F. Fellini ROMA, 1972)
TYP 5
Grenzfälle der Rückblendendramaturgie - Differenzierungen zwischen Autoren- und Figurenperspektiven in Montagelösungen (V. Chytilova; A. Kluge; J. Nemec; I. Szabo; Sonderfall: Kamerasequenzen des Th. Angelopoulos)

In dieser Studie wurde versucht, von einer Typologie dramaturgischer Techniken - den Rückblenden - ausgehend weiterreichende Wandlungen der Funktionen der Zeiten in den Diskursen der 60er und 70er Jahren zu verdeutlichen. Und dabei eine gesamteuropäische Sicht walten zu lassen.

Der Modernisierungsschub der Industriegesellschaften in Mitteleuropa in den 60er Jahren führte zu dem für die Filmgeschichtsschreibung interessanten Trend, dass eine verstärkte Auseinandersetzung mit der Historie im Autorenfilm zu einer reichen Differenzierung von Dramaturgien der Rückblenden geführt hat. In diesen Prozess haben die osteuropäische sozialistische und die westeuropäische bürgerliche Filmkunst je eigenständige und ideologisch durchaus verschiedene Leistungen eingebracht. Es scheint so, als hätten die Auseinandersetzungen ein stilistisches Potential des Erinnerns freigesetzt, das einherging mit interessanten Wechselwirkungen mit der Literatur (und mit dem Wandel der Romankompositionen in den 60er Jahren), mit dem unabdingbaren Anspruch auf die Verifizierbarkeit und die Grenzen der Verifizierbarkeit des Autobiografischen in erzählten Geschichten und - mit dem Anspruch auf Öffentlichkeitsfunktionen des Kinos in Schnitt- und Wendepunkten nationalstaatlicher Entwicklungen.


Anmerkungen

1 M. Antonioni: Die Krankheit der Gefühle, in: Th. Kotulla (Hrsg. ): DER FILM. Manifeste, Bd. 2, München 1964, S. 83-110.
Vgl. zur Methode: „Ich hielt es nämlich in der Tat für richtig, die Personen, in den Augenblicken nicht zu verlassen, in denen sie- nachdem die Prüfung des Dramas, oder wenigstens dessen, was vom Drama auszudrücken interessant war: seine dramatischsten Punkte, abgeschlossen war- allein mit sich selbst blieben, mit den Wirkungen jener Szenen, jener Traumata, jener so heftigen psychologischen Momente, die ohne Zweifel einen bestimmten psychologischen Einfluss auf sie ausgeübt hatten und sie psychologisch zu einem nächsten Schritt geführt hatten. Es schien mir angebracht, ihnen auch in diesen scheinbar zweitrangigen Augenblicken zu folgen, in denen es scheinbar keinerlei Grund gab, zu sehen, was für Gesichter sie machten oder welche ihre Gesten und Haltungen waren. " Ebd. , S. 86/87.

2 Vgl. hierzu die Ausdrucksfunktion der Sprache : „ER: Nichts hast du in Hiroshima gesehen. Gar nichts.
Sie: Alles habe ich gesehen. Alles.
Sie: Viermal im Museum in Hiroshima. Ich habe die Leute da herumgehen sehen. Nachdenklich gehen die Leute da herum, zwischen den Fotografien, den Nachbildungen, da ja nichts anderes da ist, zwischen den Fotografien, den Fotografien, den Nachbildungen, da ja nichts anderes da ist, den Erklärungen, da ja nichts anderes da ist.
Viermal im Museum in Hiroshima.
Ich habe die Leute betrachtet. Ich habe selbst, nachdenklich, das Eisen betrachtet, das Verwundbar geworden ist wie Fleisch. Ich habe Kapseln gesehen, zu Sträußen gebündelt: wer wäre darauf gekommen? Fetzen menschlicher Haut, wehend, überlebend, noch frisch von ihren Leiden. Steine. Verbrannte Steine. Zerbrochene Steine. Ganze namenlose Haarschöpfe, am Morgen vom Himmel gefallen, die Hiroshimas Frauen beim Erwachen fanden. . " zit. nach: Spectaculum. Texte moderner Filme, Ffm 1961, S. 66.

3 Sergio Leone: „Für mich ist die Musik wesentlich, besonders für einen Western, wo der Dialog nur einen aphoristischen Sinn besitzt; die Filme könnten sehr gut auch stumm sein, man würde trotzdem verstehen. Die Musik dient dazu, Gemütszustände, Fakten und Situationen zu unterstreichen, viel mehr als der Dialog. Kurz und gut, für mich erfüllt die Musik eine Art Dialogfunktion. " Zitiert nach: Oeste de Fornari: Sergio Leone, München 1984, S. 21. Die Abgrenzung von den Totalen und Massenarrangements des Antikfilms mittels des Zooms im Italowestern verweist auf Aspekte des Wandels der Sehweisen, die nicht von der Hochkunstentwicklung kamen.
„Man kann festhalten, dass die Wahrnehmungsstruktur des Italowestern aus der Relation: Totale (Tiefenschärfe)-Teleobjektiv (Hintergrund fällt weg, die Person befindet sich in einem abstrakten, nicht mehr erkennbaren Raum, meist in Gross- oder Detaileinstellung) beruht. Durch diese Opposition entsteht eine Art Aufhebung des Raumes, metaphorisch ausgedrückt: er explodiert. Der Zoom leistet das gleiche: er überwindet den Raum abstrakt: die Perspektive als Erlebnisqualität. Im Zoom werden die Gegensätze Weitwinkel-Tele zu einem einzigen Vorgang zusammengefasst. Während der Antikfilm große Sorgfalt auf die Ausarbeitung der Wahrnehmungsverhältnisse verwandte, reduziert der Italowestern die Wahrnehmungsverhältnisse auf ein Minimum und verlässt sich auf die Betonung einiger auffallender Erkennungsschemata. Er verkürzt den Prozess der Wahrnehmung und lehrt so etwas wie ein - abstraktes Sehen, d.h. er zwingt den Zuschauer, die Dinge zu erkennen, bevor er sie richtig wahrgenommen hat. " Michael Held/Wolfgang Längsfeld: Materialien zu einer Propädeutik der Medienerziehung, III. Zur Analyse des Films, in: medien+erziehung, 1/73, S. 25.

4 Spectaculum. Texte 1, Frankfurt/Main 1964, S. 60.

5 Die tschechoslowakische Neue Welle war bestimmt von einem ideologiekritischen Verständnis der Intellektuellen im sozialistischen Staat. Ihre Identität könnte mit S. Kracauer bekräftigt werden: „Die an den Intellekt der Intellektuellen gerichtete Forderung, den Abbau des Mythologischen zu betreiben, zielt auf ein destruktives Verhalten. Es hat stetig Ideologien zu entlarven und dadurch alle hingenommenen Intentionen auf die Probe zu stellen. " S. Kracauer: Minimalforderungn an die Intellektuellen (1931), in: Siegfried Kracauer: Der verbotene Blick. Beobachtungen, Analysen, Kritiken, Reclam Leipzig 1992, S. 250.

6 Stanislaw Wyspianski: DIE HOCHZEIT, Reclam Leipzig 1977, S. 36/37.

7 Ebd. , S. 68/69.

8 F. Fellini: ROMA, Zürich 1972, S. 220.

9 Ebd. , S. 221.

10 Vgl. Jan Zalman, in: Filmprofile der tschechoslowakischen Gegenwart, Prag 1968, S. 75 bzw. Die Filme des Prager Frühlings 1963-69, KINEMATHEK 79, 29. Jg. , September 1992, S. 62.

11 Vgl. Montageepisoden IMAGINÄR in: Alexander Kluge ABSCHIED VON GESTERN. Protokoll. Cinemathek Bd. 17: Ausgewählte Filmtexte, Ffm o. J. a. , S. 58.