Text | Kulturation 1/2005 | Dietrich Mühlberg | Ist eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Humanismus möglich? Anmerkungen aus kulturwissenschaftlicher Sicht
| Einleitende
Bemerkungen zu einer Veranstaltung der Humanistischen Akademie
„Humanistik – Aspekte einer Theorie und Geschichte des Humanismus“ am
19. Juni 2004. Auf dieser Fachtagung - alle Beiträge sind in der
Zeitschrift „humanismus aktuell“ Nr. 15 veröffentlicht - wurde darüber
diskutiert, wie es gelingen könnte, „Humanistik“ als Studienfach
alternativ zur Theologie an deutschen Universitäten zu etablieren.
Die Eingangsfrage mag absurd erscheinen, denn selbstverständlich
kann alles wissenschaftlich untersucht werden. Als geistige Strömung
und Bewegung sind der "klassische" Humanismus wie der Neuhumanismus
bekanntlich immer wieder so oder so Objekte wissenschaftlichen
Forschens gewesen. Doch in unserem Falle ist in zwei Hinsichten etwas
Spezielleres gemeint. Wir beraten hier, ob und wie „der Humanismus“
einen Ort im wissenschaftlichen Gefüge haben kann – ob nämlich in
Deutschland ein Studiengang Humanismus an einem universitären Institut
für Humanismus eingerichtet wird. Und damit ist zugleich die Frage
aufgeworfen, ob denn "Humanismus" als eine bestimmte bekennende
Geisteshaltung auch mit wissenschaftlichen Mitteln begründbar ist. Denn
Humanismus verstehen wir als eine "soziale Konfession", die im
Menschsein einen unbedingten Eigenwert sieht, die von der prinzipiellen
Gleichheit aller Menschen überzeugt ist und aus dieser Überzeugung
heraus die Aus-Bildung der Individualität wie deren soziale und
kulturelle Voraussetzungen wertend beurteilt. Auch diese (praktisch
zugleich humane, menschenfreundliche) Haltung ist in recht
verschiedenen geistigen und sozialen Bewegungen festgestellt und
wissenschaftlich untersucht worden. Aber auch das steht außer Frage.
Diskutiert wird darüber, ob sich diese (von unserer Akademie
vertretene) Vorstellung von einem wünschenswerten Verhalten der
Menschen und von einer erstrebenswerten Ordnung ihrer sozialen Welt
denn auch wissenschaftlich begründen lässt. Anders formuliert, wenn
Humanismus nicht allein ein geistesgeschichtliches Phänomen, sondern
ein verbindliches Bekenntnis oder eine Konfession ist, was ließe sich
dafür an Wissenschaft mobilisieren? Und: wenn man Humanismus als einen
universitären Studiengang betreiben wollte, was könnte und müsste man
dann den Studierenden anbieten?
Die Neufassung der Studienordnung für den Aufbaustudiengang
"Humanistische Lebenskunde" ist der Anlass für die Humanistische
Akademie, wieder einmal diese Grundsatzfragen aufzuwerfen und zu
diskutieren. Den Hintergrund bildet auch dabei die Frage, ob und wie es
gelingen könnte, "Humanismus" als Lehr- und Forschungsgebiet
„Humanistik“ an einer deutschen Universität zu etablieren. Gedacht ist
dabei an einen Magisterstudiengang, „dessen Absolventinnen“ (und nun
zitiere ich Frieder Otto Wolf aus seinem Gutachten zu der sehr
aufschlussreichen Projektdokumentation von Gerd Eggers) in
unterschiedlichen Bereichen einer breit angelegten ‚humanistischen
Beratung’ tätig werden könnten.“ Ihr Ziel, ihr „Produkt“ sollte sein:
„ein engagiertes, zugleich aber auch rational artikuliertes
‚Sich-selbst-Finden’ aus den vielfältigen Beirrungen eines modernen
Lebens jenseits traditionaler oder konformistischer Lebensmodelle“.
In dieser Situation erinnerte sich Horst Groschopp daran, dass es
vor vierzig Jahren ein ähnliches Begründungsproblem gegeben hat, als
1962 der Studiengang Kulturwissenschaft an zwei Universitäten der DDR
etabliert worden ist. Darum forderte er mich auf, die damaligen
Erfahrungen darauf zu prüfen, wie weit sie heute hilfreich sein
könnten. Auch inhaltlich scheint das gerechtfertigt zu sein, denn das
damalige Curriculum Kulturwissenschaft sollte den Studierenden vor
allem plausibel machen, warum Menschen so leben, wie sie leben und was
zu tun wäre, damit sie anders leben könnten. Dass sie solches Wissen zu
erfolgreichem Handeln in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen
befähigt, weist die starke Repräsentanz der relativ wenigen
kulturwissenschaftlichen Absolventen in der heutigen bundesdeutschen
Öffentlichkeit aus – darunter als Schriftsteller, Drehbuchautoren,
Sender- und Theaterintendanten, Chefdramaturgen, Sozialpolitiker und
Therapeuten, als Senatoren, Professorinnen für Soziologie, Ethnologie
und Ästhetik, als Kultur- und Medienpolitiker in Parteien, Parlamenten
und Regierungen. Und selbstverständlich bedienen sie das heute so
benannte Tätigkeitsfeld Kulturmanagement.
Die Ähnlichkeit der Situation wie die Verwandtschaft der
wissenschaftlichen Probleme ist auf mehreren Ebenen zu finden. Einige
davon möchte ich andeuten und auch einen grundsätzlichen Unterschied
benennen.
Erstens sind die jeweiligen Zentralkategorien - "Kultur" und
"Humanismus" - ähnlich umfassend und darum zwangsläufig unbestimmt und
vieldeutig. Sie sind darum immer missverständlich und darum nicht sehr
tauglich, einen wissenschaftlichen Gegenstand oder eine
wissenschaftliche Methode präzise zu bestimmen. Wer sie verwendet,
definiert sie in bestimmter Weise und gerät damit immer wieder in
Erklärungsnot. Die aber dürfte nur durch die Macht des Faktischen zu
beenden sein. Das meint: man hat - mit welchen Mitteln auch immer –
über einen bestimmten Bereich die Deutungshoheit errungen. Es muss aber
stark bezweifelt werden, dass das in unserem Falle jemals gelingen
könnte. Das Feuilleton wie die Alltagssprache werden unter „Humanismus“
immer Humanität, mitmenschliches, humanes Fühlen und Handeln etc.
verstehen. Ganz ähnlich meinen beide ja „Kunst“, wenn sie „Kultur“
sagen (häufig ist sogar von der Kombination „Kunst und Kultur“ die
Rede). Doch der Begriff „Kultur“ hat - verglichen mit Humanismus - ein
Vielfaches an Bedeutungsvarianten. Darunter übrigens auch einige
sprachliche Analogien und Gleichklänge, so den „Kulturalismus“ und die
„Kulturalität“. Auch zur „Humanistik“ gibt es ein sprachliches Pendant:
die Kulturistik – doch dabei handelt es sich um das Deutschwort für
Body-Building.
Eine zweite Ähnlichkeit besteht darin, dass bei Gründung der
Kulturwissenschaft als einer eigenständigen Wissenschaftsdisziplin, der
von ihr zu untersuchende soziale Kosmos schon disziplinär aufgeteilt
war, Neues hatte gefälligst aus dem Bewährten zu erwachsen. Nur der
politische Druck einer eingreifenden Obrigkeit, die sich praktisch
eingreifende "Gesellschaftswissenschaften" (so der Sammelterminus in
der DDR) wünschte, konnte zur Eröffnung des neuen Studiengangs führen.
Diese Obrigkeit sah, dass die für "Kultur" zuständigen Disziplinen - in
Deutschland traditionell die Literatur- und Kunstwissenschaften - von
all dem, was die "kulturellen Umbrüche" jener Zeit ausmachte - weit
entfernt waren, bzw. nur vermittelt über die künstlerischen Reflexionen
mit der sozialen Wirklichkeit verbunden waren. Ähnlich lag das bei der
Philosophie, die wohl hochpolitisch war, der es aber an
Kulturverständnis mangelte. Wir entwickelten damals eine Kulturtheorie,
die - ganz vereinfacht - Kulturen als empirisch zu untersuchende
Systeme von Lebensformen sozialer Einheiten ansah und das kulturelle
Kernproblem in den unterschiedlichen Entwicklungsmöglichkeiten der
jeweiligen Individuen sah, die diesen Sozialkörpern angehörten. So
gesehen war das kulturwissenschaftliche Konzept eine sozial- und
kulturhistorisch fundierte Humanismustheorie.
Ich erwähne das, weil ganz ähnliche Konzepte ein Jahrzehnt später
im Westen entwickelt worden sind, etwa bei Raimond Williams und den
britischen Cultural Studies, durch die "empirische Kulturwissenschaft"
in Tübingen und - als in Folge der Bildungsreformen der 60er Jahre in
den 70er Jahren eine Überkapazität an pädagogischen Hochschulen
entstanden war - auch bei den neu sich konstituierenden Kultur- und
Freizeitpädagogen. Die sog. "Neue Kulturpolitik" mit dem Kernslogan
"Kultur für alle" eröffnete dann Mitte der Siebziger neue Perspektiven
wissenschaftlicher Arbeit, verschob das Profil der Sozialpädagogik in
kulturelle Richtung wie nun auch die "Kritische Psychologie" die
soziokulturellen Determinanten individuellen Befindens betonte. Die
Soziologie wurde sachte historisch und sprach gleichfalls mehr von
Kultur, Alfred Weber wurde wieder ausgegraben. Man denke daran, wie
Bourdieu die wirtschaftlichen und kulturellen Kapitale des einzelnen
als Hintergrund seiner möglichen Lebensentwürfe untersuchte.
"Kultur" wurde in diesem Prozess vielfältig (aus jeweils
disziplinärer Perspektive und unterschiedlich nach Forschungsansatz der
Wissenschaftler) definiert und auf diese Weise ein akzeptierter
Gegenstand in Forschung und Lehre. Zugleich sehe ich darin eine
Verbreiterung der hier vertretenen humanistischen Ansätze, geht es doch
im Kern all der hier angedeuteten Kulturkonzepte immer um die
dialektische Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft. Ich kann
das nicht vertiefen, ich will nur noch darauf verweisen, dass für fast
alles von dem, was wir als Humanisten problematisieren und was wir für
die Ausgestaltung einer weltlichen Lebenskunde brauchen, in
verschiedenen sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen
ausgearbeitet vorliegt, vor allem die kulturwissenschaftlich
operierenden Wissenschaftler bieten da sehr viel an.
Den schon erwähnten grundsätzlichen Unterschied sehe ich darin,
dass Humanismus und Kultur als Realphänomene nicht vergleichbar sind.
Humanismus ist bis heute eine geistige Strömung und vielleicht auch
eine Bewegung innerhalb "unserer" Kultur, innerhalb unseres
Kulturkreises, also ein Charakteristikum unserer Kultur mit ihrer
zentralen Wertschätzung des selbstbestimmten Individuums. Schon deshalb
ist Humanismus als Bekenntnis in recht verschiedenen Varianten und
Akzentuierungen möglich. Eine Organisation, die "den Humanismus" als
ihre Konfession deklariert, gerät darum zwangsläufig in Konflikt mit
allen anderen Organisationen, die sich mit humanitärer Gesinnung
präsentieren und auch mit allen Leuten, die "angewandten Humanismus" zu
ihrer Lebensaufgabe gemacht haben. Das dürften nicht nur Albert
Schweitzer und Mutter Teresa sein. Unter den Humanisten und unter den
Organisationen mit humanistischem Bekenntnis bilden wir, die
organisierten Humanisten, nur ein winziges Häuflein. Sich hierzulande
ohne eingrenzendes Spezifikum "Humanisten" zu nennen, war wohl recht
unglücklich, wohl ein Benennungsfehler, der die Gefahr der Beliebigkeit
enthält.
Das Unterscheidungsmerkmal gegenüber vielen anderen Menschen und
Organisationen humanistischer Gesinnung besteht doch wohl darin, dass
wir eine rein diesseitige Welterklärung nicht nur für möglich und
sinnvoll halten, sondern gegen die vorherrschenden religiösen
Weltdeutungen auch aktiv auftreten. Wir sind der Überzeugung, dass
unsere Mitmenschen stark genug sind, eine Welt ohne Gott zu ertragen,
dass sie ihre singuläre Existenz auch ohne höhere Sinngebung
durchstehen (und sich in existenziellen Krisen auf uns verlassen
dürfen, denn wir können ihnen nicht nur sagen, warum ihnen so miserabel
zu Mute ist, sondern auch irdische Auswege vorschlagen).
Diese Überzeugung lässt sich kaum wissenschaftlich herleiten, es
ist ein erfahrungsgestütztes Glaubensbekenntnis, eine Konfession. In
diese Konfession sind viele Wertvorstellungen und Werturteile
eingegangen, wie sie in unserem Kulturkreis historisch entstanden sind
und als Konventionen tradiert wurden. Dennoch sind wir gegenüber allen
(wissenschaftlich) ungesicherten Annahmen mindestens skeptisch und
betonen die Wissenschaftlichkeit unserer Vorstellungen von der sozialen
Welt. Aber kann das überhaupt zusammengehen – Wertorientierung und
Wissenschaftlichkeit - oder präsentieren wir unsere subjektiven
Wertvorstellungen nur in einer wissenschaftlich klingenden Sprache?
Ich sehe dieses Grundproblem einer wissenschaftlichen Gründung der
„humanistischen Konfession“ in Analogie zu allen kulturellen
Begründungsproblemen. Darum möchte ich kurz andeuten, wie die
(sozialhistorisch) orientierte Kulturwissenschaft, die allen Kulturen
gegenüber ja eine neutral-analysierende Haltung einzunehmen bemüht sein
muss (also eine kulturrelativistische Grundposition hat und darum die
eigene Kultur als eine unter vielen möglichen ansieht), wie sie mit
möglichst wertneutraler Haltung dennoch zu begründen versuchte, dass
die Entwicklungsmöglichkeiten der vielen Einzelnen ein
Wertungskriterium sein können. Dafür müssen die nachweislichen
Entwicklungschancen der Individuen zum Mittelpunkt der empirischen
Kulturanalyse gemacht werden und aus den Befunden das Maß für die
Bewertung kultureller Situationen und Zustände gewonnen werden. Diese
Fokussierung auf die einzelnen und die Maßstäbe ihrer individuellen
Entwicklung ist durchaus eine Parteinahme und setzt ein Ideal voraus,
wie es – so unsere sehr wahrscheinlich bornierte Vorstellung - in
dieser Form nur in unserem Kulturkreis akzeptiert werden kann.
Die kulturwissenschaftliche Begründung für diesen Ansatz war
dreifach, sie war erstens innerwissenschaftlich, sie war zweitens
sozialer und drittens schließlich traditionaler Art.
Die wissenschaftliche Ableitung war im Kern
gesellschaftstheoretisch und versuchte zu erklären, warum in einer
bestimmten geschichtlichen Situation die Idee und Forderung nach freier
Entwicklung eines jeden aufkommen konnte und was dann jeweils konkret
unter "freier Entwicklung" verstanden worden ist. Bei grundsätzlicher
Gleichwertigkeit der verschiedenen Kulturen in Geschichte und Gegenwart
(mit Wertsystemen, die von unserem beträchtlich unterschieden sind)
sollte die Ausbildung des Individuellen denn doch als Kriterium für
alle Kulturen gültig sein. Dieses Axiom gründete sich auf die sichere
Erkenntnis, dass in allen Gesellschaften und stabilen Großgruppen die
Entstehung und Weitergabe der benötigten kulturellen Formen in der
Lebenstätigkeit der vielen einzelnen erfolgt und nur durch sie möglich
ist. Die Ausbildung individueller Subjektivität in den Prozessen
praktischer Lebenstätigkeit kann und muss darum als Kernprozess aller
Kulturen angesehen werden, der erst die Reproduktion der jeweiligen
Gesellschaft ermöglicht und so ihren Bestand sichert.
Das gilt selbst dann noch, wenn für diese „Weitergabe“ in den
komplexeren Gesellschaften zugleich ein umfangreicher institutioneller
Apparat dafür zuständig ist. Aber auch der wird nur dann in Gang
gehalten, wenn die entsprechenden Spezialisten dafür rekrutiert und
trainiert werden. Sie bilden in allen Gesellschaften, Gruppen und
Milieus eine „kulturelle Funktionselite“, die die Neigung hat, sich
selbst für den Schöpfer, Träger und Bewahrer von Kultur zu halten.
Organisierte Humanisten sind sicher dazu zu rechnen.
Ich will nicht verhehlen, dass diese Zentral-Stellung des
Individuums eine Folgerung aus der Marxschen
entwicklungsgeschichtlichen Grundkonzeption ist. Sie ist durchaus
vereinbar mit der kulturrelativistischen Gleichbehandlung aller
Kulturen. Sie ist darauf aus, jede Kultur aus ihren sozialen
Funktionszusammenhängen heraus zu verstehen. Was selbstverständlich
auch heißt, die teil- und subkulturellen Bildungen sozialer Klassen,
Gruppen und Milieus vorurteilsfrei in ihrem Eigenwert zu verstehen.
Dennoch: die Kulturgeschichte unserer Gattung weist aus, dass seit
den Anfängen menschlichen Lebens über die Jahrhunderte die Spielräume
für die Selbstgestaltung des eigenen Lebens gewachsen sind, die
kommunikativen Beziehungen in denen die einzelnen gestanden haben, sich
geschichtlich ausweiteten, dass die objektiven wie die lebensweltlichen
Beziehungssysteme der Menschen über die Jahrhunderte reicher geworden
sind und letztlich auch die Distanz zu den natürlichen und
quasi-natürlichen Determinanten des Verhaltens größer geworden ist.
Erst aus diesem Vorgang erklärt sich, warum schließlich mit dem
Eintritt in die Moderne dem Individuum eine so große Aufmerksamkeit
gilt, warum es selbst auf sich aufmerksam wurde und auf sich aufmerksam
macht.
Eine Anmerkung zu der zweiten, zu der sozialen Ableitung oder
Begründung der damaligen kulturtheoretischen Position. Sie war
selbstverständlich auch wissenschaftlich angelegt, argumentierte aber
nicht innerwissenschaftlich, sondern mit dem Verweis auf die sozialen
Forderungen sozialer Gruppen und Individuen innerhalb von
Gesellschaften. Zentralthema war hier die soziale Ungleichheit, die
damit verbundenen Unterschiede individueller Entwicklung und die daraus
folgenden Empfindungen von Ungerechtigkeit. Große Aufmerksamkeit galt
den sozialen Bewegungen, die sie artikulierten, sie in Forderungen
übersetzten. In diesen Forderungen wurden und werden neuartige
Ansprüche, werden die Wandlungen der Wertsysteme am deutlichsten
sichtbar. So kann auch nachgezeichnet werden, wann, wo und in welchen
Formen Humanismus als Welthaltung beginnt.
Grundsätzlich macht der ja nur einen Sinn, wenn uns die Gleichheit
vor Gott nicht ausreicht und wir es als ungerecht und als einen
unbedingt zu behebenden Mangel empfinden, dass Gruppen von Individuen
von bestimmten Freiheiten und Möglichkeiten ausgeschlossen sind und
damit in ihren Entwicklungschancen begrenzt werden. Empfundene
Benachteiligung misst sich an erreichten sozialen Standards, was
darunter liegt, muss als ungerechte Beschränkung individueller
Entfaltung angesehen werden.
Humanismus heißt praktisch darum nichts anderes, als solche
Beschränkungen aufheben zu wollen. In kulturwissenschaftlicher Sicht
ist nur ein "realer Humanismus" auch ein weltlicher. Ein Humanismus,
der bei der Lebensberatung ansetzt ohne auf die Veränderung einengender
Verhältnisse zu dringen, unterscheidet sich vom religiös motivierten
Humanismus nur durch seine spezifische "Grausamkeit", durch seine
Trost-Losigkeit. Umgekehrt liegt seine Stärke gerade darin, dass er die
sozialen Ungerechtigkeiten nicht nur benennt (und auf den Begriff
bringt), sondern auch attackiert. Ich kann mir darum keinen weltlichen
Humanismus ohne sozialistisches Engagement vorstellen, das wenigstens
einen gewissen sozialen Ausgleich von Oben nach unten anstrebt. Darum
halte ich einen Lebenskundeunterricht für ungeeignet, der die
lebensweltlichen Erfahrungsräume nicht absichtlich ständig
überschreitet. Er sollte – und das wäre bei der Konzipierung der
Lehrerausbildung zu berücksichtigen - immer wieder die
gesamtgesellschaftlichen wie die kulturellen Dimensionen unserer
Existenzweise aufzuhellen bemüht sein.
An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass mir der Entwurf des
Studienprogramms einseitig geistesgeschichtlich, psychologisch und
pädagogisch ausgerichtet vorkommt. Eine inhaltstiftende Unterweisung
der Studierenden wird offenbar von anderer Seite erwartet. Gestatten
sie mir in diesem Zusammenhang einen anekdotischen Rückblick. Als ich
vor nunmehr fünfzig Jahren mit dem Studium der Philosophie begann,
wurde mir vom Philosophischen Seminar der Berliner Universität als
Berufsbild eine Art atheistischer Pfarrer vorgestellt, der auf die
Dörfer – Orte der Unbildung und Rückständigkeit – das helle Licht der
Aufklärung tragen sollte. Der studierte Philosoph als Gegenpfarrer, als
eine Art Lebenskundelehrer für die noch Unmündigen. Unsere Vorbereitung
darauf sah in zwei Punkten grundsätzlich anders aus, als der jetzt
vorliegende Studienplan für zukünftige Lebenskundelehrer es vorsieht.
Meine Lehrer hatten damals nämlich keine Ahnung von dem, was bei den
Theologen die „praktische Theologie“ heißt und wo man lernt, wie man
erfolgreich mit den Schäfchen seiner Gemeinde umgeht. Von diesen
alltagspraktischen „Kompetenzen“, wie es heute heißt, hatten wir damals
keine Ahnung. Wir meinten tatsächlich, dass es darauf ankäme, die
Wahrheiten offen auszusprechen und argumentativ für sie zu werben.
Heute dagegen werden der damals unbekannten „Pädagogik der Aufklärung“
zwei Drittel der Aufmerksamkeit geschenkt.
Dafür hatte mein Studienprogramm einige Positionen, die mir hier
völlig zu fehlen scheinen. So hatte ich zwei Pflichtsemester zur
Analyse der Quadragesimo Anno von 1931, also zu „Papst Pius’ XI.
Weltrundschreiben über die Gesellschaftliche Ordnung, ihre
Wiederherstellung und ihre Vollendung nach dem Heilsplan der
Frohbotschaft zum 40. Jahrestag des Rundschreibens Leo XIII. ‚Rerum
Novarum’“ – so der volle Titel der Schrift. Ich habe in diesen zwei
Semestern gelernt, wie man mit Jahrhundertblick auf die
Weltgesellschaft schauen kann, wie weit Sozialpolitik zu fassen ist und
warum ich eigentlich Atheist bin und Sozialist sein sollte. Müsste
unser Studienprogramm die künftigen Lehrer nicht bis auf diese Ebene
führen?
Besonders beeindruckt war ich von der Konsequenz, mit der der Papst
seinen Heilsplan praktisch bis zu einer Reform der Priesterausbildung
durchführte. Weil er in „wohlausgebildeten Laienhelfern“ aus allen
sozialen Schichten „die ersten und nächsten Apostel“ sah, sollten seine
Priester in die Lage versetzt werden, „solche Laienapostel der
Arbeiterschaft wie der Unternehmerkreise mit Eifer zu suchen, mit
Klugheit auszuwählen, gründlich auszubilden und zu schulen“ – „ein
schweres Stück Arbeit“ für den Klerus. „Darum“, so der Papst in
hervorgehobenem Text, “muß der ganze priesterliche Nachwuchs durch angestrengtes Studium der Gesellschaftswissenschaften eine gediegene Ausrüstung dazu erhalten.“
Nun wäre es sicherlich übertrieben, solche Forderungen auch für die
Ausbildung von Lebenskundelehrern aufzustellen. Deren Studiengang darf
sicher nicht mit „theoretischen Fächern“ überladen werden. Dennoch
möchte ich wenigstens anmerken, dass wir es anfangs der 1960er Jahre
bei der Konzipierung des Studiengangs Kulturwissenschaft für sinnvoll
gehalten haben, unseren auf praktische Wirksamkeit ausgerichteten
zukünftigen „Kulturarbeitern“ ein umfangreiches Hintergrundwissen zu
vermitteln. Nur so, meinten wir, könnten sie auch das notwendige
Feingefühl für die differenzierten Lebensformen in der Gesellschaft
entwickeln. So sollten sie sich in den philosophischen
Gesellschaftstheorien auskennen, wirtschaftswissenschaftliche
Grundkenntnisse besitzen, sollten versiert im Zugriff auf soziologische
und ethnologische Erkenntnisse und Methoden sein. Dazu war auch ein
kunstwissenschaftliches Nebenfach obligatorisch, weil es die Künste
sind, in denen die existenziellen Probleme der Menschen verhandelt
werden. Auch diese Tatsache, dass Kunstumgang eine Form von
„Lebenskundeunterricht“ ist, spiegelt sich im heutigen Programm kaum
wieder.
Auch die dritte, die traditionale Ableitung zur Begründung der
kulturtheoretischen Position war letztlich gleichfalls
wissenschaftlicher, genauer gesagt: kulturgeschichtlicher Art.
Kulturgeschichte als Wissenschaftsdisziplin ergründet (unter anderem),
welche ethischen Konventionen und kulturellen Praxen wann warum
entstanden sind, warum und wie sie kulturelle Verbindlichkeit erhalten
konnten, welche Gruppen und Milieus welche Varianten europäischer
Kultur hervorgebracht und getragen haben. In dieser Betrachtung sind
auch die weltlichen Humanisten ein bemerkenswertes Grüppchen und es
lässt sich sogar nachweisen, wann und warum sie auf den Einfall
gekommen sind, die Lebensberatung anderer Menschen zu
professionalisieren.
Etwas vereinfachend und verkürzend wollte ich mit meinen Verweisen
auf kulturwissenschaftliches Selbstverständnis deutlich machen, dass
eine wissenschaftliche Begründung der humanistischen Position auf
mindestens drei Wegen erfolgen müsste.
Erstens wäre gesellschaftstheoretisch zu argumentieren.
Unser humanistisches Ideal müsste also aus einer begründeten
Vorstellung möglicher Entwicklungen der Weltgesellschaft abgeleitet
werden. Zweitens ist diese Zielstellung mit dem Verweis auf die
gegenwärtigen sozialen Konflikte und die daraus folgenden politischen
Ansprüchen zu legitimieren.
Drittens sind humanistische Ansprüche und Ziele traditional
zu legitimieren - durch eine bewusst-kritische und relativierende
Beziehung zu den Beständen unserer Kultur- und Geistesgeschichte.
Ich unterstelle damit nicht, das sich "die" weltlichen Humanisten auf eine gesellschaftstheoretische, auf eine gesellschaftskritische (und damit immer auch bestimmt politische) und auf eine kulturelle Position einigen könnten; ich meine nur, dass dies die großen Themen sind, über die wir uns verständigen müssen.
Hier - vor unserer kleinen Humanistischen Akademie vorgetragen –
mag das alles etwas größenwahnsinnig klingen, denn wir wissen ja, dass
es sich bei den heute aufgeworfenen Fragen um das Legitimationsproblem
der sog. westlichen Gesellschaft(en) gegenüber dem "Rest" der Welt
handelt. Schon darum arbeiten viele Wissenschaftler (und nicht nur sie)
an diesem Ableitungs- und Begründungsproblem. Bei aller Begrenztheit
der Mittel wäre es darum unsere Pflicht, auf der Höhe dieses Diskurses
zu argumentieren. Schon darum ist eine stärkere universitäre
Etablierung notwendig.
Aber gerade da haben wir es mit einer recht ungünstigen Situation
zu tun. Die Chancen für die akademische Etablierung des Humanismus als
Professur für Humanistik sind nicht groß. Das Wissenschaftssystem ist
gesättigt und soll sparen, es verhält sich also konsequent hermetisch.
Besonders verlieren die sog. Geisteswissenschaften an Boden,
Deutschland braucht - so der Kanzler (noch darf er das sagen) - vor
allem die technischen Wissenschaften, von den "Dichtern und Denkern"
spricht er mit unterdrücktem Lächeln, nimmt er es doch in der Erklärung
der Welt locker mit allen deutschen Philosophen auf.
Der Hinweis auf die verbandseigene Praxis im sozialen und
pädagogischen Bereich dürfte bei diesem Vorhaben auch kein starkes
Argument sein, gelten doch solche praktischen Implikationen als
Zusatzqualifikation, die außerhalb des heiligen universitären
Bildungs-Betriebs zu erwerben sind.
Dennoch ist es strategisch wie taktisch wohl richtig, nicht
grundsatztheoretisch zu argumentieren, sondern vom "Praktischen"
auszugehen. Damit meine ich nicht zuerst die Schulpraxis im Land
Berlin, obwohl auch sie ein wichtiges Argument zur Unterstützung des
humanistischen Anliegens ist. Ich meine praktische Aspekte der
gesellschaftlichen Gesamtlage. Dazu möchte ich noch drei Anmerkungen
machen.
Selbstverständlich berechtigt der Verweis auf die Leistungen des
Humanistischen Verbandes im Felde der sozialen Betreuung und Beratung
zu Forderungen nach mehr Unterstützung. Doch gerade hier greifen die
diversen Sparprogramme. In dieser Situation sollten wir stärker auf die
abzusehenden Folgen verweisen, die der Abbau der sozialstaatlichen
Ausgleichs- und Sicherungssysteme haben wird: wachsende Armut, Zunahme
sozialer Ungleichheit, schnelle Vermehrung des sozialen
Konfliktpotenzials und der Verteilungskämpfe. Und mit all dem
verbunden: Zunahme existenzieller Probleme der Menschen nicht nur der
prekären Milieus. Humanistische Sozialarbeit und Lebenshilfe wird an
Bedeutung und Nachfrage gewinnen.
Auch auf ein zweites Zukunftsproblem sollten Humanisten stärker
aufmerksam machen. Die mit der globalen Vorherrschaft unseres
Kulturkreises verbundenen Konflikte werden zunehmen, der Zusammenstoß
der Kulturen erfordert von unseren Gesellschaften und Staaten immer
stärker eine Werthaltung, die das Christliche an ihr zurücknimmt. Auch
dies erfordert die positive Ausarbeitung von humanistischen Position in
einer Weise, die sie mit den anderen großen Wertsystemen kompatibel
macht.
Meine dritte und letzte Anmerkung betrifft die Ausweitung der
Wirkungsmöglichkeiten. Nur wenn wir unsere humanistische Konfession auf
der Höhe der akademischen Diskurse ansiedeln, kann es gelingen, geistig
und seelisch Verwandte in den etablierten Disziplinen durch unsere
Themen ins Kommunizieren zu bringen – sowohl philosophisch als auch
politisch und sozial-praktisch. Die bescheidenen Erfahrungen, die
Kulturwissenschaftler als Kommunikatoren im Felde der Wissenschaften
gemacht haben, belegen, wie lohnend und auch vergnüglich solch eine
Offenheit gegenüber den Erkenntnissen anderer sein kann.
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