Text | Kulturation 1/2008 | Hildegard Maria Nickel | Pfadabhängigkeit und feministische Intervention
Oder: „Am Anfang war die andere Tat“ Beatriz de Dia (Irmtraud Morgner)
| Unter
der Überschrift „Geschlechter Wissen Mehr!“ fand am 8. Februar 2008 an
der Universität Potsdam ein Kolloquium zu Ehren von Irene Dölling
statt, die mit dem Wintersemester ihre dreizehnjährige Arbeit als
Professorin für Frauenforschung/ Soziologie der
Geschlechterverhältnisse beendete. Einen der rückblickenden
Festvorträge für I. D. hielt Prof. Hildegard Maria Nickel (Leiterin des
Bereichs Soziologie der Arbeit und der Geschlechterverhältnisse an der
Humboldt-Universität zu Berlin).
Dieses Motto Irmtraud Morgners, das sie ihrer Trobadora Beatriz in
den Mund legt, charakterisiert eine Seite von Irene Dölling, auf die
ich zum Abschluss dieses Ehrenkolloquiums zu sprechen kommen möchte.
Ich werde – obwohl das eine mit dem anderen im Sinne einer
Pfadabhängigkeit eng zusammenhängt und die theoretischen Perspektiven,
von denen das Werk von I. D. getragen und durchwoben ist, sich auch in
der „anderen Tat“ Geltung verschaffen – nicht nochmals die
Theoretikerin I. D. würdigen. Das ist heute bereits auf vielfältige und
beeindruckende Weise geschehen. Ich werde mich auf die frauenbewegte
feministische Akteurin im Feld der Wissenschaft konzentrieren und dabei
vor allem auf ihren Beitrag zur Institutionalisierung der Frauen- und
Geschlechterforschung vor und nach der „Wende“ eingehen. I. D. hat
diesen Institutionalisierungs-, ja auch Professionalisierungsprozess
der Frauen- und Geschlechterforschung nicht schlechthin vorangetrieben
– das darf man von einer Lehrstuhlleiterin dieses Faches schlicht
erwarten -, sondern ihn – zunächst in der DDR – wesentlich initiiert
und mit Eigensinn durch die Widersprüche und Herausforderungen der
bundesdeutschen Transformation gesteuert. I. D. darf in diesem Sinne
als Pionierin gelten.
Dabei hat(te) sie klare Kriterien für das, was sich Frauenforschung
nennen darf oder durfte und diese Kriterien auch zur Grundlage der
eigenen Positionierung gemacht: „Solche Kriterien sind für mich zum
einen der theoretische Erklärungsansatz von Geschlechterverhältnissen
und zum anderen ein klar formuliertes subjektives Forschungsinteresse,
dem erstens die Annahme einer strukturellen Benachteiligung des
weiblichen Geschlechts zugrunde liegt, und das zweitens darauf abzielt,
Frauen in den Stand zu setzen, ihre eigenen Interessen aktiv
wahrzunehmen.“ (Dölling 1993: 398) In diesem Sinne konzipierte,
organisierte und leitete I. D. ab 1980 einen „halboffiziellen“
Arbeitskreis, der sich „kulturhistorische und kulturtheoretische
Aspekte der Geschlechterverhältnisse“ nannte, „halboffizell“, weil er
zwar formell an der Sektion Kulturwissenschaften der HU Berlin
angebunden, d. h. offiziell angemeldet war, aber informell und im
nichtöffentlichen Raum von Privatwohnungen, zumeist in der von I. D.
tagte.
Wollte die Trobadora Beatriz mit ihrer „andren Tat“ aus dem Land,
in dem Frauen für gleiche Arbeit gleichen Lohn erhielten, einen „Ort
des Wunderbaren“ machen, plädierte I. D. zunächst für seine nüchterne
Analyse. Dabei interessierte I. D. nicht in erster Linie die empirisch
beschreibende Analyse der Geschlechterverhältnisse in der DDR, sondern
zunächst das Verhältnis von Naturwesen – Individuum – Persönlichkeit
(1979), hier insbesondere die „Sexualität als sozial produziertes
biologisches Maßverhältnis“. Mangelt es – so I. D. – „an der
konsequenten sozial-ökonomischen Ursachenanalyse der historischen
Differenziertheit praktischen Sexualverhaltens wie sozialer
Sexualnormen und –tabus, wird auch nicht die Frage nach den
ökonomischen Grundlagen für eine neue soziale Bewertung der Sexualität
im Sozialismus und daraus resultierenden Folgen für die individuellen
Verhaltensstrukturen … gestellt.“ (Dölling 1979: 57) Es war also
selbstverständlich, dass der Arbeitskreis sich zunächst mit
entsprechenden sexualwissenschaftlichen Texten befasste. Einigen
Kolleginnen ist wegen des schillernden, zunehmend anrüchig
feministischen Status, den unser Arbeitskreis hatte, die Teilnahme
daran von ihren Arbeitgebern offiziell untersagt worden. Auslöser für
seine Gründung war der Artikel „Zur kulturtheoretischen Analyse von
Geschlechterverhältnissen“ von I. D. in den Weimarer Beiträgen 1980,
der in der (männlichen) Kulturtheorie auf Unverständnis und Unbehagen
stieß. Es spricht für die damalige Kulturtheorie – und wäre in wenigen
anderen Fächern so denkbar gewesen – dass sich die Herren des Problems
zwar entledigten, indem sie es aus dem Öffentlichen und Offiziellen
verbannten und durch Delegation und Marginalisierung an die Peripherie
kulturtheoretischer Reflexion des Sozialismus drängten, zugleich aber
auch unter der Devise: „Wenn ich nicht mehr weiter weiß, gründen Frauen
einen Arbeitskreis“ zuließen, dass es weiter behandelt wurde.
Jedenfalls trafen sich alle vier Wochen über einen Zeitraum von
fast 10 Jahren 10 – 12 Kolleginnen, zumeist Absolventinnen der
Fachrichtung Kulturwissenschaft, um wissenschaftliche, zunehmend
feministische Texte zu diskutieren, später auch eigene Forschung und
Qualifizierungsvorhaben zu präsentieren. Noch heute finde ich das in
jeder Hinsicht bemerkenswert! Die meisten dieser Frauen waren ja nicht
nur erwerbstätig, und zwar in einem Feld, das diese
Forschungsperspektive nur mäßig interessierte und honorierte, sondern
sie waren auch Mütter, sie waren mit ihren Planaufgaben und
Rechenschaftsberichten, der Familie, den Kindern, den Männern, dem
Parteilehrjahr, dem Elternaktiv etc. beschäftigt. Und dennoch: Der
Abend-Termin bei I. D. war – zumindest für den harten Kern - Pflicht.
Nicht alle hatten immer die nicht leicht zu konsumierenden Texte
gelesen; diejenigen, die sie gelesen hatten, waren unsicher –
jedenfalls überkam mich persönlich häufig dieses Gefühl – weil sie sie
nicht so differenziert diskutieren konnten, wie es unsere „Vorsitzende“
und „Übermutter“ I. D. erwartete … Mit anderen Worten: Es war kein
Kaffeekränzchen, zu dem wir uns 10 Jahre lang trafen, sondern harte
Professionalisierungsarbeit, die wir an uns und die vor allem I. D. an
uns geleistet hat. 1990 hat sich dieses Investment, dieses Empowerment
dann in einer gemeinsamen Publikation zum Thema „Frauenforschung in der
BRD“ niedergeschlagen. Im Editorial dieses Bandes 28 der „Mitteilungen
aus der Kulturwissenschaftlichen Forschung“, geschrieben im September
1989, heißt es – und das erklärt z. T., warum unsere einzige gemeinsame
Publikation die Frauenforschung in der BRD, nicht die Frauenforschung
in der DDR zum Gegenstand hatte: „Erforderlich ist die Erweiterung
unseres theoretisch-begrifflichen Instrumentariums. Im marxistischen
Denken ist es weder Tradition, Geschlechterverhältnissen in der
Gesellschaftstheorie explizit einen Platz zu geben, d. h. sie als
strukturelles Element eines formationstypischen gesellschaftlichen
Reproduktionsprozesses zu bestimmen. Noch ist es selbstverständlich,
die Eigentümlichkeit von Geschlechterverhältnissen gegenüber anderen
Verhältnissen aufzuzeigen. Die Erforschung von
Geschlechterverhältnissen ist daher zugleich Arbeit an einem anderen
Verständnis von Wissenschaft, die heute generell – und speziell in
Bezug auf unsere Problematik – nur interdisziplinär erfolgreich
geleistet werden kann. Und dazu gehört selbstverständlich auch,
Diskussionen und Ergebnisse zur Kenntnis zu nehmen, die international …
vorgelegt werden.“ (MKF 28: 6) Neben Diskussionen in den USA und
Großbritannien waren für uns insbesondere auch Forschungen in der BRD
interessant, zumal dort Forschungsergebnisse zu Themen und Fragen
vorgelegt worden sind, auf die auch wir Antwort suchten: „Zum
Verhältnis Klasse und Geschlecht, zum Platz der Hausarbeit in einer
gesellschaftlichen Theorie der Reproduktion, zu Spuren von Frauen in
der Geschichte und in der Literatur (bzw. Kunst), zur Soziologie und
Sozialpsychologie der Geschlechterverhältnisse usw.“ (ebenda) Dieser
gemeinsame Band ist insofern ein zeitgeschichtliches Dokument, als er
zeigt, wie selbstverständlich wir uns damals am „West-Feminismus“
abgearbeitet und orientiert haben. Die Publikation zog nicht nur einen
Schlussstrich unter der Form des „Halboffiziellen und
„Nichtöffentlichen“, sondern zeigt, dass wir uns – nicht zuletzt auch
durch die wissenschaftlichen Kontakte, die der Arbeitskreis
mittlerweile zu „West-Kolleginnen“ wie Regina Becker-Schmidt, Gudrun
Axeli Knapp; Marianne Friese, Dorothea Wierling und anderen hatte – auf
den „state of the art“ gebracht hatten. Das hat – zumindest trifft das
für mich persönlich zu - sicherlich auch einigen Kolleginnen aus dem
Arbeitskreis geholfen, sich in der Wende- und Nachwendezeit im
akademischen Feld zu behaupten.
Der Arbeitskreis löste sich also in der Vorwendezeit auf und die
Kolleginnen agierten zunehmend öffentlich, zum Teil bewegungspolitisch,
zum Teil wissenschaftspolitisch. I. D. agierte wissenschaftspolitisch
und ging mit einigen Kolleginnen aus dem Arbeitskreis einen nächsten
folgenreichen Institutionalisierungsschritt, von dem die Frauen- und
Geschlechterforschung der HU bis heute profitiert: I. D. setzte sich
mit der ihr eigenen Zähigkeit und Gründlichkeit für die Gründung eines
interdisziplinären Zentrums für Frauenforschung an der HU ein. Anfang
November 1989 hatte eine Initiativgruppe von Humboldtianerinnen
verschiedener Disziplinen einen „Aufruf zur Gründung eines Zentrums
interdisziplinäre Frauenforschung an der Humboldt-Universität“
verfasst, in der Universität verbreitet und zur Gründungsversammlung am
8.12.1989 eingeladen. In dem Aufruf wird darauf verwiesen, dass trotz
formaler Gleichberechtigung Frauen in der sozialistischen
Gesellschaft/DDR vielfach benachteiligt sind, in den Wissenschaften
diese Benachteiligungen bzw. die Ursachen für die sozialen Unterschiede
zwischen den Geschlechtern kaum Gegenstand sind und die wenigen
vorhandenen Ansätze zur Frauenforschung abgewertet oder als unwichtig
abgetan werden. Um dies zu ändern, sollte das ZiF gegründet werden,
dessen Aufgaben und Ziele in diesem Aufruf folgendermaßen beschrieben
sind: „Wir wollen die vereinzelten Forschungspotentiale zusammenführen,
gemeinsam über theoretische Grundlagen der Frauenforschung und über
konkrete Ergebnisse diskutieren, sowie diese einer interessierten
Universitätsöffentlichkeit vorstellen. Wir wollen Forschungsvorhaben
koordinieren und Formen interdisziplinärer Forschungskooperation
erproben. Nicht zuletzt verbinden wir damit die Hoffnung, dass unsere
Analysen und Arbeitsergebnisse Eingang finden in Entscheidungen zur
Wissenschafts-, Kader- und Berufungspolitik an unserer Universität wie
zur Frauenpolitik generell.“ (Dölling 1999: 14) Die
Gründungsversammlung im Hörsaal der damaligen Frauenklinik der Charité
– vorausgegangen waren schon im Mai/Juni 1989 Gespräche mit dem
damaligen Prorektor für Gesellschaftswissenschaften an der HU Dieter
Klein – war ein (kleines) Medienereignis, ca. 100 Frauen und 5 Männer –
so das Protokoll der Gründungsversammlung – waren zugegen, nicht
zuletzt weil I. D. eine Woche vor dieser Gründungsversammlung
anlässlich der denkwürdigen Veranstaltung zur Gründung des Unabhängigen
Frauenverbandes in der Berliner Volksbühne Gelegenheit hatte, auf diese
Gründungsversammlung an der HU hinzuweisen.
Dieser Institutionalisierungsschritt, die Gründung des Zentrums für
interdisziplinäre Frauenforschung an der HU, dessen Leiterin I. D. bis
1992 war, ist in mehrfacher Hinsicht bedeutungsvoll: Erstens ist es der
Präsenz der Frauenforschung an der HU in dieser institutionalisierten
Form zu verdanken gewesen, dass die Ab- und Aufwicklung der HU nach
westdeutschem Vorbild nicht gänzlich zu Lasten von Frauen und Frauen-
und Geschlechterforschung ging. Zwar ist I. D. selbst dabei trotz aller
Massenproteste, Interventionen, Führsprachen und Bitten an der HU nicht
zum Zuge gekommen – was bis heute unverständlich ist –, aber es sind
Kolleginnen in verschiedenste Fachdisziplinen berufen worden, die – mit
oder ohne Denomination – Frauen- und Geschlechterforschung machen und
denen das Zentrum, das seit 2003 Zentrum für transdisziplinäre
Geschlechterstudien heißt, als Ort der Vernetzung, Kooperation und
fächerübergreifenden Zusammenarbeit dient.
Zweitens das von I. D. initiierte Zentrum war eine wesentliche
strukturelle Voraussetzung dafür, dass die HU 1997 als erste
Universität in Deutschland überhaupt einen interdisziplinären Magister
Studiengang Geschlechterstudien/Gender Studies als Haupt- und Nebenfach
einrichten konnte. Im Zuge des Bologna-Prozesses haben auch wir seit WS
2005 auf einen BA-Studiengang Gender Studies als Zweit- und Beifach
umgestellt und zum WS 08/09 startet ein Masterstudiengang.
Das alles wäre, so behaupte ich, ohne den institutionellen
Knotenpunkt des Zentrums so nicht möglich gewesen. I. D. hat gemeinsam
mit Kolleginnen, insbesondere Helga Voth, eine institutionelle
Grundlage geschaffen, die bei späteren strukturellen Umbauprozessen der
Universität – und die gab es reichlich – nicht mehr so einfach zu
kappen war.
Drittens, die Gründung des ZiF war zunächst von Diskussionen
darüber begeleitet, was das DDR-Erbe, das „DDR-Sozialisationsgepäck“
für die Etablierung einer ostdeutschen Frauenforschung bedeutet
und welche Zielstellungen bzw. Arbeitsschwerpunkte sich daraus für das
ZiF ableiten. 1992 organisierte das ZiF unter der Leitung von I. D. und
in Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis wissenschaftlich und
künstlerisch tätiger Frauen e.V. Berlin wie auch der Sektion
Frauenforschung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie eine Tagung
zur Situation von Frauen in der Wissenschaft in Ost und West, die in
dem Buch „Ausgegrenzt und mittendrin. Frauen in der Wissenschaft“
dokumentiert wurde und in dem u. a. erste Ergebnisse des am ZiF
angebundenen ABM-Projektes zur Situation von WissenschaftlerInnen im
Transformationsprozess vorgestellt wurden. 1992 trafen sich auch –
organisiert über den UFV – Ostberliner Frauenforscherinnen zu einem
Erfahrungsaustausch (OSTFEM I), wo die Idee geboren wurde, regelmäßig
und vom ZiF organisiert, wissenschaftliche Arbeitstreffen von
ostdeutschen Frauenforscherinnen durchzuführen. Ostdeutsche
Frauenforscherinnen sollten einen Ort haben, wo sie – ohne den
kritischen, manchmal auch abwertenden Blick ihrer westdeutschen
Kolleginnen – über ihr Woher und Wohin diskutieren konnten. Ein
nächstes Treffen (OSTFEM II) fand 1993 zum Thema „Frauenbiografien vor
dem Hintergrund ostdeutscher Sozialisationserfahrungen“ statt, auch der
regelmäßig am ZiF tagende wissenschaftliche Arbeitskreis bot (und
bietet bis heute) ostdeutschen Akademikerinnen einen Raum für den
Erfahrungsaustausch. Dieser Weg der Fokussierung auf eine ostdeutsche
Frauenforschung ist spätestens Mitte der 1990er Jahre – mittlerweile
war ich Leiterin der ZiF – zugunsten einer integrativen Frauen- und
Geschlechterforschung aufgegeben worden. Damit ist auch der Tatsache
Rechnung getragen worden, dass im Zuge der „Abwicklung“ und des
Auslaufens der befristeten Verträge in den Jahren 1995/96 nur noch
wenige Ostfrauen an der HU verblieben waren, die Frauenforschung
betrieben. I. D. hatte allerdings Anfang der 1990er Jahre ein
Forschungsprogramm für eine ostdeutsche Frauenforschung entworfen, das
– obwohl es dann z. T. in den Forschungen in Potsdam weiterverfolgt
worden ist – längst nicht als abgearbeitet gelten kann. Es umfasst(e)
drei sehr komplexe Punkte:
A Entwicklung eines ostdeutschen Selbstverständnisses als Analysepotential:
„Aus der kränkenden Erfahrung, dass auch Frauen in der Lage sind, Frauen zu
zu machen (wobei das im deutsch-deutschen Verhältnis eine doppelte
Kränkung ist), kann für die ostdeutsche Frauenforschung ein starker
Impuls dahingehend entstehen, aus dem Anderssein heraus ein
Selbstverständnis zu entwickeln, das auf einer fundierten Analyse und
einer begrifflich-theoretischen Verarbeitung der Geschichte der
real-sozialistischen DDR beruht … Ostdeutsche Frauenforschung könnte …
in der konkreten Hinterfragung und Begründung ihres
Selbstverständnisses konkret dazu beitragen, dass die Geschichte der
DDR weder einfach noch in Phantasien vom verklärt und damit als unbewältigt weitergeschleppt wird.“ (Dölling 1993: 405)
B Entwicklung einer spezifischen ostdeutschen Selbstreflexivität:
Zur „Aufarbeitung der Geschichte mit dem Ziel, ein (neues)
Selbstverständnis zu gewinnen, gehört auch die Auseinandersetzung mit
uns selbst. Eine kritische Analyse unserer enttäuschten
Wunschvorstellungen von deutsch-deutscher Schwesterlichkeit oder auch
unseren Allmachtsphantasien von einer gesellschaftsverändernden
Frauenbewegung (wie sie etwa vor den Wahlen vom März 1990 so reichlich
produziert wurden) könnte unseren Blick für Verschiedenes schärfen:
- für unsere persönlichen Beweggründe uns vor und/oder nach der
„Wende“ in der Frauenbewegung bzw. Frauenforschung zu engagieren,
- für den soziokulturellen Hintergrund unserer Biografien, der den Nährboden abgab für unser Engagement für die allgemeine , mit dem wir doch auch zugleich unsere individuellen Ansprüche auf bestimmte Positionen im sozialen Raum anmeldeten,
- und für den uns ebenso innewohnenden Glauben, im Namen anderer Frauen sprechen zu dürfen.“ (Dölling 1993: 405)
C Entwicklung einer an Verteilungskämpfen orientierten kritischen Frauenforschung:
Eine „empirisch orientierte, differenzierte und differenzierend
arbeitende Frauenforschung“ ist notwendig, weil die „gegenwärtigen
Transformationsprozesse in Ostdeutschland und in Osteuropa … zu einer
Veränderung von Machtverhältnissen, zu einer Neuformierung von
politischen und intellektuellen Eliten, zu einer Neueinteilung von
Menschen in „Gewinner und Verlierer“, in Privilegierte und
Benachteiligte, in Reiche und Arme (führen) … Diese Macht- und
Verteilungskämpfe haben sicher praktische Auswirkungen auf die
Geschlechterverhältnisse, auf das, was Frauen wird und was diese als selbstverständliche Ansprüche einklagen.“ (Dölling 1993: 406)
Mittlerweile haben viele von uns erfahren müssen, dass es für
derlei „Ost-Forschung“ in der Regel keine Mittel gibt. Dennoch will ich
abschließend mit einem Augenzwinkern zeigen, wie wichtig eine solche
Forschung wäre und dabei auf die „verstehende“ Analyse von
Vergeschlechtlichungsprozessen, für die I. D. sich vor allem mit ihrem
letzten Forschungsprojekt stark macht, verweisen. Was das
„Geschlechter-Wissen“ (Dölling 2007) im Ost-West-Diskurs ist, macht die
folgende kleine Unterhaltung über die Frage, Papa, was ist ein Ossi?
deutlich. Nachzulesen im Dreh- und Wendebuch des Eulenspielgelverlages,
2002 (S. 10-12):
„Papa, hast du nicht immer gesagt, das ganze Übel fängt schon bei der Erziehung der Ossis an?
Na, das ist auch so. Stell dir vor, während deine liebe Mutti immer
für dich da ist und dein lieber Papi rund um die Uhr die Kohle
ranschafft, wurde das Ossi-Kind, kaum dass es geboren war, in die
staatliche Kinderkrippe abtransportiert. Da hatten sie keine
Spielsachen, höchstens Panzer und Plastiksoldaten, und haben den ganzen
Tag nur im Sand rumgewühlt, sich mit Eierpampe beworfen, sich geprügelt
und geplärrt.
Die Mütter kümmerten sich einen feuchten Dreck um ihre Kinder und
haben sich in ihren Nylonkitteln als Verkäuferinnen in den tristen
Kaufhallen rumgetrieben, sind in Gummistiefeln über die Äcker ihrer
sogenannten Genossenschaften getrabt, standen in ihren vergifteten
Chemiebuden rum oder haben sich sonst wo ein schönes Leben gemacht. Und
wenn’s ginge, würden sie es heute noch tun. Aber sich mal um ihre
Kinder kümmern, nee! Das haben sie dem Staat überlassen.
Dafür mussten die Kleinen dann kollektiv pinkeln, kollektiv essen,
kollektiv spazieren gehen, kollektiv Geburtstag feiern – nee, nicht
Kindergeburtstag, Geburtstag von Ernst Thälmann … Wer das ist? Ach, son
Hamburger Prolet … Na, jedenfalls war das alles anders als bei uns, wo
deine Mama dir die ersten Schritte und die ersten Worte beibrachte,
weswegen du auch nicht solche schlimme Ausdrücke kennst wie
Ossi-Kinder…“
Liebe Irene, ich danke Dir, dass ich viele Jahre – um genau zu
sein, es sind im September 40 Jahre – mit Dir – freilich hattest du
immer einen gewissen Vorsprung – am gleichen Strang ziehen durfte; ich
danke Dir für viele Jahre kooperativer Zusammenarbeit, geistigen
Austauschs und solidarischer Unterstützung, wann immer sie notwendig
war. Ich setze darauf, dass das mit Deiner Pensionierung nicht
abbricht, zumal ich Dir auch dahin folgen werde.
Literaturverzeichnis
Dölling, Irene (1979): Naturwesen – Individuum –
Persönlichkeit. Die Menschen und ihre biologische Konstitution in der
marxistisch-leninistischen Kulturtheorie. Deutscher Verlag der
Wissenschaften, Berlin.
Dölling, Irene (1980): Zur kulturtheoretischen Analyse von Geschlechterbeziehungen. In: Weimarer Beiträge 1/1980, S. 59-88.
Dölling, Irene (1993): Aufschwung nach der Wende –
Frauenforschung in der DDR und in den neuen Bundesländern. In:
Helwig/Nickel (Hrsg.): Frauen in Deutschland 1945-1992. Bundeszentrale
für Politische Bildung, Bonn, S. 397-407.
Dölling, Irene (1999): 10 Jahre Zentrum interdisziplinäre
Frauenforschung an der HU – eine persönliche Rückerinnerung an die
Anfänge. In: ZiF Bulletin 19, S. 13-27.
Dölling, Irene (2007): ‚Geschlechter-Wissen’ - ein
nützlicher Begriff für die ‚verstehende’ Analyse von
Vergeschlechtlichungsprozessen? In: Gildemeister/Wetterer (Hrsg.):
Erosion oder Reproduktion geschlechtlicher Differenzierung?
Widersprüchliche Entwicklungen in professionalisierten Berufsfeldern
und Organisationen. Münster, Westfälisches Dampfboot, S. 19-31.
Frauenforschung in der BRD (1990). In: Mitteilungen aus der
kulturwissenschaftlichen Forschung 28. Sektion Kulturwissenschaften und
Ästhetik der Humboldt-Universität zu Berlin.
Morgner, Irmtraud (1974): Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura. Aufbau-Verlag.
Wieczorek, Thomas (2002): Papa, Was ist ein Ossi? Ein Dreh- und Wendebuch. Berlin, Eulenspiegel Verlag, S. 7-62.
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