Text | Kulturation 1/2010 | Tobias J. Knoblich | Kulturwissenschaft als Beruf
| >Der
Autor studierte von 1991 bis 1996 an der Berliner Humboldt-Universität
Kulturwissenschaft, Kulturpolitik und Europäische Ethnologie.
Nachstehenden Text hat er am 16. Oktober 2010 auf einem Alumnitreffen
des Instituts für Kulturwissenschaft vorgetragen.
„Kulturwissenschaft als Beruf“ – einen Vortrag zu diesem Thema hätte
ich mir damals als Student gewünscht! Heute soll ich ihn halten und –
so vermute ich – gleichsam die Hypothese, Kulturwissenschaft sei
tatsächlich beruflich umsetzbar, verifizieren. Mit meiner
Berufsbiographie kann ich durchaus ein Beispiel geben, daß es gelingen
kann, Kulturwissenschaft zum Beruf zu machen, verallgemeinerbar ist
dies freilich nicht. Exemplarische Wege ins Berufsleben scheinen mir
ohnehin interessanter als Versuche, eine Wissenschaft in den Varianzen
ihrer praktischen Instrumentalisierbarkeit zu beleuchten und eine
Prognose ihrer Praxistauglichkeit abzugeben. Ich will das Thema auch
nicht im Sinne von Max Webers berühmter Rede „Wissenschaft als Beruf“
angehen, die in meinem Titel anklingt, und über das Leben eines
Gelehrten im Dienste der Kulturwissenschaft nachdenken. Dies wäre
ohnehin eine Aufgabe für die Damen und Herren Professoren. Heute soll
es um die Verbindung zwischen Studium und Praxis gehen, und das heißt
bei mir: „Politik als Beruf“, um abermals Max Weber zu bemühen, denn
ich kann von einer nachstudentischen Vita im Dienste der Kulturpolitik
berichten.
Dies will ich denn auch tun und dabei nicht vergessen, immer wieder
Verbindungen herzustellen zu dem, was ich in diesem Hause gelernt habe,
was mich seinerzeit hier bewegte und zu dem heranreifen ließ, was ich
heute bin. Denn eines ist mir klar: Ohne dieses Studium, ohne die
spezifische Ausprägung des Studiengangs – freilich in der Zeit zwischen
1991 und 1996 –, ohne die Begegnungen und persönlichen Einflüsse wären
meine Lebenswege sicher anders verlaufen. Wenn ich mir das Thema jetzt
so recht vergegenwärtige, laufe ich Gefahr, Biographiearbeit zu
betreiben und gleich von vorn herein in Details zu schwelgen. Dagegen
werde ich immer wieder ankämpfen, um eine Linie zu wahren, die für Sie
interessant sein könnte.
Fangen wir am besten am Ende an: die Humboldt-Universität setzte
mich nach erfolgreichem Abschluß frei, sandte mir sehr unpersönlich
mein Magisterzeugnis zu und trennte sich somit unfeierlich und
schmerzlos von einem ihrer vielen Studierenden. Es konnte anders nicht
sein in einer Massenuniversität, sagte ich mir damals, und doch fühlte
ich mich etwas verraten von einer Institution, die mir so viel bedeutet
hatte, der ich die wichtigsten Bildungs- und Erweckungserlebnisse
verdankte. Gewiß, der Start war nicht anders verlaufen: Ich reihte mich
in eine Schlange Wartender ein, immatrikulierte mich und wurde ebenso
unpersönlich in diesen riesigen Verwaltungsapparat integriert wie ich
nun ausgeschieden worden war. Aber: für die Zeit meiner Zugehörigkeit
hatte sich eine Bindung entwickelt, die mich glauben ließ, hier meint
es jemand gut mit mir, hier bringt mich jemand gezielt weiter.
Spätestens bei Irene Döllings Lehrveranstaltungen zur
psychoanalytischen Kulturtheorie hätte ich erkennen müssen, daß die
psychische Verfasstheit der Individuen sehr eng mit den Institutionen
der Gesellschaft korrespondiert, daß die gefälligeren und freundlichen
Institutionen wie etwa die Familie von immer unpersönlicheren abgelöst
werden und mit der Geformtheit und Formbarkeit der Individuen
gesellschaftliche Stabilität erzeugen. Ich wurde folgerichtig
weitergereicht in die Sphäre des Berufslebens, weil ich es geschafft
hatte – oder zu dumm gewesen war, es zu verzögern –, einen formalen
Bildungsabschluß zu erwerben. Damit musste ich mich lösen von einer
Institution, die für viele vielleicht allzu lange Heimat bedeutet, in
deren Schößen sie sich auf ewig einrichten und – im besten Falle – der
Wissenschaft dienen, wie es Max Weber eindrucksvoll aufzeigte, indem
sie ihre transitorische Funktion im Verlauf des wissenschaftlichen
Fortschritts anerkennen und ihren Beruf als Berufung leben. Ich jedoch
blieb – vielleicht leider – nicht in der Alma mater, sondern folgte der
Devise meiner Herkunft aus dem Arbeitermilieu: lerne für das
Berufsleben, suche dir einen Arbeitsplatz, schaffe Werte! Unbewußt war
damit mein rascher Absprung in andere Institutionen vorgezeichnet, wie
man unschwer schlussfolgern kann, ohne mit Freud oder Gehlen reüssieren
zu müssen. Aber es war nicht nur das Schicksal der Herkunft gewesen,
deren Macht man ja durchbrechen kann, es war auch Neugier auf ein Leben
als Akademiker außerhalb der Schutzzone Universität, die Suche nach
Erfolg, Anerkennung und beruflicher Legitimität als
Geisteswissenschaftler.
Was habe ich nun erreichen können? Am Anfang herzlich wenig. Zwar
habe ich mich aus Prinzip ausschließlich von der Kulturwissenschaft als
angewandter Disziplin ernährt, aber es geschah mühsam und ohne die
Möglichkeit eines Rückgriffs auf die Reputation einer Branche oder
eines Berufsstandes. Auch ohne verlängerte Koordinaten der Hochschule
in die Praxis. Was ist ein Kulturwissenschaftler mit seinen diffusen
und unspezifischen Fertigkeiten im Vergleich zu einem Mediziner,
Juristen oder sogar Theologen? Letzterer – vorausgesetzt, die
Landeskirche hat sich an seinen akademischen Weihen beteiligt – wird
Vikar, der Mediziner Arzt im Praktikum und letztlich Facharzt, der
Jurist wandelt als Referendar durch verschiedene Institutionen und
macht sich – wenn sich keine höheren Bestrebungen umsetzen lassen –
irgendwo als Verwaltungsjurist breit und geriert sich als Fachmann der
Behörde, der er gerade dient. Fragt man Juristen, wie es ihnen gehe,
sagen sie gern: Gut, ich kann klagen. Sie passen in unsere Zeit und
sind die Gewinner einer fortschreitenden Verrechtlichung aller Sphären
des Lebens. Für den Kulturwissenschaftler jedoch bietet sich kein
Einstiegsfeld, auch ist er im umfassendsten Sinne Generalist, sein
Fundament drückt sich nicht in kanonischen Texten, Paragraphen oder
anatomischen Tabellen aus. Er ist ein Mann – oder eine Frau – des
Geistes, zu Hause irgendwo zwischen Natur und allem, was sich von ihr
abgespalten hat – oder nie zu ihr gehörte, wenn wir Plessners Diktum
des Menschen als von Natur aus künstlichem Wesen folgen. Hier beginnt
schon die Unsicherheit, die sich wie ein roter Faden durch unser
Selbstverständnis als Kulturwissenschaftler zieht. Wer kennt sie nicht,
die strategische Frage: Was ist eigentlich Kultur? Klären Sie doch
bitte einmal Ihren Kulturbegriff! Als Wissenschaftler mag man sich
freuen und ausholen zu einer von vielen Erklärungsmöglichkeiten. Als
praktischer Kulturwissenschaftler entzieht Ihnen diese Frage a priori
jegliche Autorität. Wer anfängt, zu interpretieren, hat kein normatives
Gewicht. Freier ist nur noch ein Philosoph, und so nennt sich schon
niemand mehr, der von seiner Profession leben will. Jeder Key Account
Manager wiegt schwerer, wenn auch die meisten von uns, fürchte ich,
nicht wirklich wissen, was er tut. Keine Gewissheit, keine Reputation
also steht am Anfang unserer Wissenschaft, sondern ein Generalproblem,
um das wir ständig kreisen; noch in den Tiefen der kommunalen
Kulturpolitik – um etwas vorzugreifen – packt man Sie im Ernstfall beim
Kulturbegriff. Er wird zum Spielball der Interessenpolitik, des
Lobbyismus. Die UNESCO hat dies mit der Propagierung des wohlgemeinten,
politisch und auch praktisch sehr erfolgreichen „weiten“ Kulturbegriffs
noch getopt. In Zeiten prosperierender öffentlicher Haushalte kann man
mit Kultur viel Gutes tun, in Zeiten der Konzentration und
wohlüberlegten Gestaltung macht er jegliche strategische Entscheidung
im Kulturbereich fachlich unmöglich. Es bleibt dann nur das Gewicht
parteipolitischer Allianzen. Auch hier freilich können
Kulturwissenschaftler Mandatsträger sein, aber dann zählt ihr
politisches Geschick, Fraktionszwang oder Kalkül, auf keinen Fall ihre
Expertise.
Von der Universität in die Praxis: geordnet und planmäßig
funktioniert das also nicht. Bei mir hieß es – wie bei vielen anderen
auch – zunächst Freiberuflichkeit. Außer vielleicht, der Übergang fand
noch in der DDR statt, da gab es eine geringe Zahl von Absolventen, die
planmäßig in Arbeit kamen. Im Stadium der Freiberuflichkeit greift nun
das erste Mal mit voller Wucht die Notwendigkeit, erworbenes Wissen
praxisorientiert anwenden zu müssen. Zwei Variable, die zu klären
wären: welches Wissen? Welche Praxis? Aber: Zuallererst haben wir doch
denken gelernt, problematisieren, die Perspektive als Bestandteil von
Erkenntnis zu begreifen, Brücken zwischen Wissensgebieten zu schlagen
oder die Formationen des Wissens als Konstruktion zu hinterfragen,
überhaupt: kritisch zu sein, Entwicklungen unserer modernen oder
postmodernen Gesellschaft diskursiv zu begleiten und Gewißheiten immer
und überall abzulehnen. Das unterscheidet uns im übrigen signifikant
von den erwähnten Theologen, Medizinern oder Juristen, deren
Denkgebäude doch recht stabil sind, bei allem Wissenszuwachs.
Kulturwissenschaftler können also Rat geben, wo es um Veränderung geht,
um die Gestaltung zukünftiger Strukturen, um Argumentationen und
fachlich zu untersetzende Strategien, die vielleicht politische werden
sollen. Kulturwissenschaftler – zumindest meiner Generation – wissen,
über welche Eigenschaften ein felix aestheticus verfügt, wissen um die
Historizität des Ästhetischen, um das „in sich selbst Vollendete“ eines
Kunstwerks und die Autonomieästhetik, die im Verfassungsgrundsatz der
Kunstfreiheit ganz praktische Relevanz entfaltet. Diese Rückbindung
gelingt nicht jedem. In dieser Relativität eines zumindest dem Eindruck
nach kanonischen Wissens gewinnt die Fachlichkeit des
Kulturwissenschaftlers Halt, hier kann er Wege aufzeigen, Optionen,
Interpretationen von Herkunft und Zukunft, die Plausibilität entfalten
und – im besten Falle – sogar um betriebswirtschaftliche Daten ergänzt
werden können. Wie Sie unschwer erkennen können, rede ich schon mehr
oder minder deutlich vom Kulturbetrieb. Er war für mich die erste und
bis heute bestimmende Adresse, beruflich tätig zu werden. Im Nebenfach
studierte ich im übrigen Kulturpolitik, ferner Europäische Ethnologie,
was im Grunde soviel heißt wie: Kulturwissenschaft.
Freiberuflichkeit hat viele Gesichter. Bei mir war es – ausgehend
von einem Praktikum (eine immer wieder zu empfehlende Tastmethode in
die Wirklichkeit) – das Sächsische Staatsministerium für Wissenschaft
für Kunst, also die oberste Landesbehörde für Kultur im Freistaat
Sachsen, die mich beauftragte, Rat zu geben. Daneben versuchte ich mich
als Publizist, was ich bis heute erfolgreich nebenberuflich fortsetze,
und Lehrender, auch das bis heute. Ein Ministerium als Berufseinsteiger
zu beraten, ist leichter, als man vielleicht denkt. Der Vorteil besteht
in der gemeinsamen Distanz zur Praxis. In meinem Falle erprobte man ein
Förderprogramm zur Strukturierung der im Zuge der Wiedervereinigung
entstandenen freien Kulturszene mit 2,5 Mio. DM jährlich, also eine
vergleichsweise kleine Spielwiese. Meine Aufgabe bestand darin, die
Wirkungen dieses Förderprogramms im Verlauf einer Legislaturperiode zu
bewerten und Empfehlungen für die danach vorgesehene Regelförderung des
Ministeriums zu erarbeiten. Dies war eine spannende Aufgabe, in deren
Verlauf ich mehr vom Ministerium – oder besser: der gemeinsam mit
diesem zu erforschenden Praxis im ganzen Land – lernte als man von mir
vielleicht als Rat bekam. Am Ende jedenfalls stand eine neue
Förderrichtlinie und eine zwischenzeitlich lokal und regional
verankerte Kulturszene, die der Freistaat punktuell bezuschussen konnte
und im übrigen bis heute bezuschußt. Ich bin zwischenzeitlich der
Geschäftsführer des dafür zuständigen Landesverbandes und kenne mein
Ministerium, das mich fördert, inzwischen besser als mancher seiner
Mitarbeiter. Meine Freiberuflichkeit endete damit, daß ich befristet im
Ministerium eingestellt wurde und als Musikreferent wirkte. Was hat die
Kulturwissenschaft dazu beigetragen? Einiges. Sie hat mir anfangs den
Habitus des Wissenden in Kulturfragen gegeben, den Stolz eines
Kulturwissenschaftlers, der mit Karl-Philipp Moritz, Thomas Mann und
nicht zuletzt Kant, der einmal sagte, die Praxis sei häufig deshalb so
schlecht, weil ihr die Theorie fehle, den Stolz also eines
Kulturwissenschaftlers, der mit all diesen Referenzen einfach
kulturwissenschaftlich argumentieren kann. Das mag etwas redundant
klingen, ist aber durchaus nicht wenig. Wenn Sie einmal die Chance
haben, gehört zu werden, müssen Sie plausibel sein, müssen Sie etwas
anbieten können und Ihr Umfeld interpretieren. Eine oberste
Landesbehörde bietet da einigen Spielraum, und den nutzte ich. Bald gab
man mir auch andere Aufträge, die breiter ausgelegt waren. Ich
entwickelte das bundesweit bisher wohl umfangreichste Handbuch zur
Kulturförderung eines Bundeslandes (eines Landes freilich, das die
höchsten Pro-Kopf-Ausgaben im Kulturbereich hat), und ich durfte die
erste Regierungserklärung zur Kulturpolitik auf der Arbeitsebene
vorbereiten und unseren Minister beraten. Als Kulturwissenschaftler,
als einer, der etwas von Kultur versteht und – so muß ich ergänzen –
immer und intensiv Lernender bleibt. Unsere Profession, das wissen Sie
alle, ist im höchsten Grade abhängig von laufenden Debatten und
Spezialdiskursen, in meinem Falle dem der Kulturpolitik und des
Kulturmanagements.
Die Rede vom lebenslangen Lernen – auch ein UNESCO-Grundsatz von
völkerrechtlichem Format – ist für mich harte Praxis: ich lese und
lerne mitunter mehr und intensiver als während des Studiums, ohne jetzt
dick auftragen zu wollen. Der formale Bildungsprozeß ist zwar
abgeschlossen, aber als praktischer Kulturwissenschaftler, der selbst
Einfluß gewinnen und Führungsaufgaben übernehmen will, ist die ständige
Vertiefung und Aktualisierung des Wissens eine bleibende Basisaufgabe
geblieben, zumindest für mich. Wer beispielsweise einmal mit dem
Geschäft der Kulturförderung in Berührung gekommen ist, befasst sich
nolens volens intensiv mit dem Haushalts-, Zuwendungs-und Steuerrecht,
wälzt das Verwaltungsverfahrensgesetz, vertieft seine Kenntnisse über
den Staatsaufbau, das Subsidiaritätsprinzip und erschließt für sich –
das ist schon die ganz hohe Schule – das Kulturverfassungsrecht.
Spätestens beim opus magnum „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“
von Peter Häberle (nahezu 1200 Seiten stark) kann dies rasch zum
abendfüllenden Programm werden. Aber es genügt auch schon der Versuch,
sich einmal die Genese des Kulturstaatsbegriffs argumentationssicher
anzueignen, um sich in die Diskussion über eine Kulturstaatsklausel im
Grundgesetz einbringen zu können; nicht mit juristischer Expertise,
sondern aus der Sicht des Kulturexperten, der etwas über die
Kulturgestaltungsmacht des Staates aussagen möchte und diese mit den
vorherrschenden Trägerstrukturen und Förderverfahren im Kulturbereich
in Verbindung bringt. Und der bei der soliden Auffassung bleibt, daß
abschließende Aussagen über Kultur nicht der Jurist, nicht der
Verwaltungsfachmann, sondern der Kulturexperte treffen muß. Im besten
Falle vielleicht der berufsmäßige Kulturwissenschaftler.
Nun habe ich im Nebenfach Kulturpolitik studiert – und von all dem
nichts gelernt. Und trotzdem war es mehr als nichts, weil Grundlagen
kulturpolitischen Denkens schon vermittelt worden sind, freilich aus
einer um Wissenschaftlichkeit – also Praxisferne – bemühten Perspektive
und mit dem Anliegen, vor allem die Geschichte dieser eigentlich erst
nach dem Kriege zu einiger Konsistenz findenden Disziplin zu
vermitteln, die Vorgeschichte, müsste man präziser sagen. Und doch
verdanke ich den Lehrveranstaltungen insbesondere Horst Groschopps ein
erstes Verständnis dessen, was wir heute Soziokultur nennen, habe ich
die Verbindungen zwischen Sozialdemokratie, Arbeiterbewegung und
künstlerischem Volksschaffen in der DDR und der Breitenkultur im
Transformationsprozeß begreifen können und ein Gefühl dafür bekommen,
daß Kulturwissenschaft in der Praxis ankommen, Wissen anwendbar sein
kann, auf Institutionen, Ideologien und Diskurse trifft, die beeinflußt
werden können. Und ich habe gesehen, über welch lange Zeiträume man
denken muß, um die Wiederkehr der Motivationen und ihre
Kontextualisierbarkeit verstehen zu können. Oder – wie Peter Sloterdijk
einmal sagte – über wie viele Speichermägen die Geschichte verfügt, um
das Immergleiche wiederzukäuen. Und doch muß man es kennen, muß man ein
Gefühl für Varianzen und Zeitgemäßes/Unzeigemäßes entwickeln, um selbst
Gestalter von Kulturprozessen werden zu können und die richtigen
Vorschläge zu unterbreiten, das richtige Vokabular zu finden.
In Sachsen verkomplizierte sich diese Aufgabe aufgrund der
Tradition, Kulturdichte und Vielfalt; es gibt sogar ein bundesweit
einmaliges Kulturfachgesetz, das Gesetz über die Kulturräume in
Sachsen. Wie Sie wissen, ist Kultur Ländersache, und der
Kulturföderalismus führt dazu, daß man 16 Spielarten von
Landeskulturpolitik durchdringen und bewerten kann und auch
unterschiedliche Modelle kommunaler Gestaltung auf der Basis jeweiliger
Gemeindeordnungen. Das Kulturraumgesetz, das das gesamte Bundesland in
regionale Zweckverbände zur Kulturförderung gliedert und den Staat mit
jährlich 86,7 Mio. € zur Mitfinanzierung zwingt, ist ein Instrument,
das man als Kulturpolitiker intim kennen muß. Und wieder ist man als
Kulturwissenschaftler ein Grenzgänger zwischen den Disziplinen, ohne
festen Halt, aber – im besten Falle – mit Instinkt. Wer den Diskurs
über die Genese des Gesetzes aus dem Einigungsvertrag kennt und seinen
heutigen Status einschätzen kann, ist im Vorteil. Das Ganze im Blick
behalten, es gut durchargumentieren und Grundsätze formulieren, die
Gestaltung zulassen, dann gerät der Jurist in die ihm gemäße Position
des Helfers, der Kulturfachmann behält die Oberhand.
Meine Tätigkeit außerhalb des Ministeriums erforderte mehr denn je
die Kraft, Zusammenhänge nicht nur zu behaupten, sondern auch zu
belegen. Sich Gehör, und Aufmerksamkeit verschaffen, Einfluß zu
sichern, ist das Geschäft der Verbandsarbeit, die ich noch bis Ende
dieses Jahres absolvieren kann. Hier profitierte ich umfassend von
meiner Profession als Kulturwissenschaftler, da ich nicht nur mich,
sondern auch die von mir zu leitende Organisation neu erfinden durfte.
Ich wurde Geschäftsführer eines relativ großen Kulturverbandes, der
sich an den Rand des Abgrunds manövriert hatte und von mir das
forderte, was ich gelernt hatte: aus Angeeignetem, Erfahrenem und zu
Erdenkendem eine neue Quelle der Aktion werden zu lassen. Mit der Rede
über Kultur – in meinem Falle die Breitenkultur – Überzeugungsarbeit zu
leisten, die in politische Aufmerksamkeit und Förderetats mündet. Wir
hatten und haben über 50 Mitgliedsorganisationen landesweit im Verband,
wichtige Funktionen auch in der Jugendpolitik, von der ich bis dahin
gar nichts verstand, und eine Klärungsfunktion auf der Ebene der
Landesverwaltung und nicht zuletzt des Parlaments. Mein größter Vorteil
bestand darin, wissenschaftlich arbeiten und die Bedingungen des
eigenen Handelns hinterfragen zu können. Das können sicher alle
Geisteswissenschaftler, aber ich konnte zudem auf viele
Grundsatzdiskussionen über Kultur und Gesellschaft zurückgreifen, die
mich schon an der Universität beschäftigt hatten. Zugleich begegnete
mir das schon aus der Freiberuflichkeit vertraute Phänomen, Aufgaben
erfinden zu müssen, die ein solcher Verband vielleicht übernehmen
könnte, um mehr aufzufallen, wirksamer zu werden und möglicherweise
auch weitere Finanzierungsquellen zu erschließen.
Hier kommt man mit der Kulturwissenschaft allein freilich nicht
weiter. Wieder beginnt das Lernen und Experimentieren, das es ja auch
in anderen Berufen gibt, keine Frage, aber der Rahmen scheint bei uns
ungleich weiter gesteckt. Was ich im Studium wirklich nicht gelernt
hatte – worüber ich als Großelternkind aber verfügte –, war ein
Höchstmaß an Selbstorganisation, Disziplin und Ordnung. Das brauchte
ich jetzt, spätestens mit der ersten Lieferung neuer Ordner und der
Neubestimmung von Fachgebieten. Ein Aktenplan musste her, die Trennung
von laufenden Vorgängen und Ablage, die Möglichkeit, Arbeitsvorgänge in
ihrer Genese abzubilden und gezielt auf Dinge zurückkommen zu können,
wenn es das Geschäft erfordert. Es soll ja Geisteswissenschaftler
geben, die nicht einmal ihre Kontoauszüge chronologisch abheften
können. Komplexe Handlungen zu organisieren und diese zu kommunizieren,
ist zwar anknüpfungsfähig an die Kulturtheorie der Moderne, aber das
Wissen darum ist noch kein Garant, Praxis tatsächlich bewältigen zu
können. Das muß man empirisch erproben; Komplexitätsreduktion hat dabei
viele Gesichter, manchmal auch das des Papierkorbs.
Ein Gebiet, das zu erschließen ich sehr wichtig fand und das
momentan in der Kulturpolitik auch Konjunktur hat, ist die Evaluation
und Qualitätsentwicklung. Was ich leider gar nicht gelernt habe – mir
aber sicher bei den Sozialwissenschaften hätte organisieren können,
wenn mein Lebensweg präzise antizipierbar gewesen wäre – sind
Grundlagen der empirischen Sozialforschung. Überhaupt verlief mein
Studium, möchte ich sagen, relativ methodenfrei. Selbst in der
Europäischen Ethnologie, die sich im Einrichten befand, verlief alles
recht theoretisch, das ist heute anders. Neben der praktischen Methodik
des Lesens und Argumentierens, die ich schätzte und auch später wie
schon aufgezeigt brauchte, fiel der methodologische Diskurs ansonsten
sehr abstrakt aus. Die Aufgabenstellung meiner Magisterarbeit löste ich
diskursanalytisch. Aber das ist schon wieder eine Metamethode, mit
deren Befassung man auch ganz leicht mehr Probleme bekommen kann, als
am Ende gelöst werden. Dies ging mir zum Glück nicht so, aber ich blieb
bis zum Schluß des Studiums immer etwas ratlos, was denn mein
Handwerkszeug sei. Mit Foucault können Sie keinen Fragebogen
entwickeln, mit Bourdieu noch lange nicht kulturelle Präferenzen der
Menschen in Ihrem Umfeld erkunden. Wer evaluieren will, um zur
Kulturwissenschaft als Beruf zurückzukommen, muß sich mit Methoden der
Datenerhebung, der teilnehmenden Beobachtung und deren Interpretation,
der Umwandlung von Daten in Informationen, befassen. Und wieder beginnt
der Kulturwissenschaftler, in angrenzenden Disziplinen zu wildern, um
am Ende der Fachmann bleiben zu müssen, wenn es um empirische
Kulturforschung geht. Der Kreis schließt sich ohnehin erst, wenn die
Befunde rückgekoppelt werden an den kulturpolitischen Diskurs, der im
höchsten Grade normativ ist.
Heute wird der Diskurs über Kulturpolitik maßgeblich bestimmt von
einer managerialen Perspektive, man kann es auch einen ökonomisierten
Blick nennen. Bereits in den 1980er Jahren setzte unter dem Topos „New
Public Management“ eine Diskussion über die Reform der öffentlichen
Verwaltung ein, die auf ein modernes, leistungsfähiges, kunden-und
bürgerorientiertes Verwaltungsmanagement zielte. Durch eine bessere
Verantwortungsabgrenzung zwischen Politik und Verwaltung,
Kontraktmanagement, dezentrale Verantwortung und den Einsatz
outputorientierter Instrumente, durch flache Hierarchien, Einführung
einer Kosten-und Leistungsrechnung u.a.m. sollte die öffentliche
Verwaltung zu innerorganisatorischer Effizienz geführt werden. Für die
Kulturpolitik heißt das inzwischen, daß ohne Kulturmanagement
eigentlich gar nichts mehr läuft. Nun kann ich für diejenigen, die
diese Disziplin nicht kennen, keine Einführung geben. Im Kern ging es
anfangs darum, das Steuerungsversagen des Staates und der Kommunen im
Kulturbereich aufzufangen, Prozesse zu optimieren, Einheiten zu
privatisieren oder outzusourcen, wie es neudeutsch heißt; inzwischen
befassen wir uns systematisch mit den Nutzern von Kulturangeboten, also
Kulturmarketing oder Audience Development, Fundraising, Organsiations-
und Personalentwicklung und vielem mehr. Da das Gefüge zwischen Staat,
Markt und Zivilgesellschaft in Bewegung ist, werden veränderte Formen
politischer Steuerung im Kulturbereich neuerdings unter dem Begriff
Cultural Governance verhandelt. Hinter all dem verbirgt sich aber auch
eine Verschiebung der Erwartungshaltung: War es früher der Kulturstaat,
der als Leistungsstaat umfassend versorgen sollte, also ein
angebotsorientierter Blick, geht es heute mehr um das Ermöglichen, den
Gewährleistungsstaat, der stärker auf den Markt und die
Zivilgesellschaft blickt, also eine Nachfrageorientierung. Wer will,
kann im Kulturmanagement auch den Versuch erkennen, für den
öffentlichen Kulturbereich einen simulierten Markt einzuführen, der
über die in der Wirtschaft erfolgreichen Instrumente Angebote optimiert
oder aber als nicht zeitgemäß aussondert. In jedem Falle werden Sprache
und Erwartungshaltung an Kulturträger denen im privatwirtschaftlichen
Sektor immer ähnlicher. Was weiß der praktische Kulturwissenschaftler
über Leitdisziplinen? Was weiß er über den Globalisierungsdruck, den
etwa die Welthandelsorganisation auf den Handel mit Dienstleistungen –
dazu gehören auch kulturelle Güter und der öffentlich-rechtliche
Rundfunk – ausübt? Was weiß er über Völkerrecht und die UNESCO, deren
Konventionen in nationales Recht umgewandelt und denen auch in der
Politik der Länder und Kommunen entsprochen werden muß?
Die Kulturmanager drängen auf den Arbeitsmarkt, in der Regel mit
rudimentärem kulturwissenschaftlichem Wissen, aber geschult in der
anwendungsorientierten Arbeit, als schneller Eingreif- und
Reparaturtrupp sozusagen, aber auch mit einem basalen Verständnis über
politische Prozesse. Ausgebildet werden sie in der Regel an
Fachhochschulen, es gibt aber auch universitäre sowie zahlreiche
Aufbaustudiengänge. Kulturmanager moderieren Foren zur
Kulturentwicklungsplanung, schreiben Betreiberkonzepte und managen
Projekte, entwickeln Marketingkonzepte und geben Ihren Problemen
Bezeichnungen, die vulgärmäeutisch schon Lösungen implizieren. Ich
kenne freilich auch viele gute Kulturmanager, die ich mit meinen
knappen und despektierlichen Ausführungen nicht geringschätzen will,
aber hinter diesem Berufsbild steckt auch eine Gefahr für
Kulturwissenschaftler. Es könnte ihnen – wenn sie sich nicht mit diesen
Ansätzen befassen – berufliche Wege in den Kulturbereich verstellen.
Der Zugriff auf die praktischen Sphären der Kultur erfolgte schon immer
aus sehr unterschiedlichen fachlichen Disziplinen heraus, aber mit dem
Kulturmanagement ist eine vermeintliche Spezialdisziplin entstanden
(und entsteht in immer neuen Studiengängen weiter), die den breiten
geisteswissenschaftlichen Einstieg ins Berufsleben zunehmend erschweren
könnte. Dabei sind es gerade die fachlich nicht konsistenten, von der
Persönlichkeit und besonderen Neigungen abhängigen
Kulturwissenschaftler, die der Praxis gut tun. Sie gewinnen ihr Profil
durch die Reibungen des Berufslebens, wie die Institutionen und
Aufträge von ihnen geprägt werden können. Seit kurzem gibt es einen
Fachverband Kulturmanagement, der bemüht ist, die Disziplin akademisch
aufzuladen und ihr wissenschaftliches Fundament auszubauen. Dies sollte
aus meiner Sicht auch Auswirkungen auf das Selbstverständnis eines
universitären Studiengangs Kulturwissenschaft haben.
Ich selbst habe mich – auch publizistisch – kritisch mit dem
Kulturmanagement und veränderten Erwartungshaltungen an Kulturpolitik
auseinandergesetzt. Es gibt vieles, was man durchaus vom
Kulturmanagement lernen kann – etwa die Bedeutung einer Evaluation –,
es ist und bleibt aber auch Heilsversprechen und angelsächsischer
Glanz. Ich persönlich habe in der Praxis immer am stärksten vom
Reflexionsvermögen, vom Wissen um Kultur und ihre Geschichtlichkeit
profitiert, weniger von einer instrumentellen Vernunft, die ein Problem
isoliert und behebt. Wenn ich nun im Januar nach Erfurt wechsle und
dort als Kulturdirektor Kommunalpolitik mitgestalten darf, wird es
weniger das Management sein, das mich trägt, als vielmehr die Empathie
für die Kultureinrichtungen, die Künstler, die Kulturnutzer/innen und
natürlich auch für den Kulturhaushalt, der immer knapper wird. Empathie
heißt dabei nicht bedingungslose Anwaltschaft für alles, was in einer
Kommune Kultur sein kann, sondern für ein funktionierendes Ganzes, das
zeitgemäß verstanden und gestaltet sein will.
Mein Studium – ich sagte es ganz am Anfang – prägte mich aber auch
durch Begegnungen und persönliche Einflüsse. Von den Professoren
erinnere ich sehr stark Irene Dölling und Dietrich Mühlberg, aber auch
Renate Reschke, Karin Hirdina, Christina von Braun und Hartmut Böhme,
deren Lehrveranstaltungen ich viel zu verdanken habe, die mir aber auch
sehr viel Arbeit machten. Wie Sie sehen, eine interessante
Ost-West-Melange. Bei Christina von Braun – begeistert von ihren
Büchern, die immer auch eine schriftstellerische Qualität haben –
schrieb ich meine Magisterarbeit, zu der sie mich trotz des großen
Bogens, der mir vorschwebte, ermutigt hatte. Daß ich nicht gescheitert
bin, habe ich aber eher meine Oma zu verdanken, die mich bis heute
immer mahnt: Mach es kurz, komm’ zum Ende!
Persönlichen Einfluß hatte mein Kollege und Freund Martin Völker,
mit dem ich schon während des Studiums viel diskutierte, las und
Prüfungen vorbereitete. Ihm habe ich wohl auch zu verdanken, daß ich
heute hier reden und meinen Lebensweg etwas ausbreiten durfte. Einfluß
hatte aber auch die besondere Zeit mit ihren Ereignissen: die Mauer war
gerade gefallen, Berlin begann sich neu zu erfinden, und ich erlebte
den Wandel der Stadt parallel zu meiner eigenen Veränderung. Lief ich
anfangs über einen wüsten Streifen, um ins Haus 2 der Staatsbibliothek
zu gelangen, konnte ich während der Arbeiten an meiner Magisterarbeit
schon mit öffentlichen Verkehrsmitteln dorthin gelangen und an der
größten Baustelle Europas vorbeiflanieren. Während ich studiert hatte,
war hier jedes Steinchen tausendmal gewendet und die Fläche am Ende
versiegelt worden mit Häusern, Straßen und Plätzen. Was Berlin in
dieser Zeit für mich bedeutete, kann ich hier nicht ausdrücken, nur
andeuten. Umso dankbarer bin ich, heute hier sein zu können, und ich
danke Ihnen für die Geduld mit mir und Ihre Aufmerksamkeit.
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