KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
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TextKulturation 1/2010
Tobias J. Knoblich
Kulturwissenschaft als Beruf
>Der Autor studierte von 1991 bis 1996 an der Berliner Humboldt-Universität Kulturwissenschaft, Kulturpolitik und Europäische Ethnologie. Nachstehenden Text hat er am 16. Oktober 2010 auf einem Alumnitreffen des Instituts für Kulturwissenschaft vorgetragen.

„Kulturwissenschaft als Beruf“ – einen Vortrag zu diesem Thema hätte ich mir damals als Student gewünscht! Heute soll ich ihn halten und – so vermute ich – gleichsam die Hypothese, Kulturwissenschaft sei tatsächlich beruflich umsetzbar, verifizieren. Mit meiner Berufsbiographie kann ich durchaus ein Beispiel geben, daß es gelingen kann, Kulturwissenschaft zum Beruf zu machen, verallgemeinerbar ist dies freilich nicht. Exemplarische Wege ins Berufsleben scheinen mir ohnehin interessanter als Versuche, eine Wissenschaft in den Varianzen ihrer praktischen Instrumentalisierbarkeit zu beleuchten und eine Prognose ihrer Praxistauglichkeit abzugeben. Ich will das Thema auch nicht im Sinne von Max Webers berühmter Rede „Wissenschaft als Beruf“ angehen, die in meinem Titel anklingt, und über das Leben eines Gelehrten im Dienste der Kulturwissenschaft nachdenken. Dies wäre ohnehin eine Aufgabe für die Damen und Herren Professoren. Heute soll es um die Verbindung zwischen Studium und Praxis gehen, und das heißt bei mir: „Politik als Beruf“, um abermals Max Weber zu bemühen, denn ich kann von einer nachstudentischen Vita im Dienste der Kulturpolitik berichten.

Dies will ich denn auch tun und dabei nicht vergessen, immer wieder Verbindungen herzustellen zu dem, was ich in diesem Hause gelernt habe, was mich seinerzeit hier bewegte und zu dem heranreifen ließ, was ich heute bin. Denn eines ist mir klar: Ohne dieses Studium, ohne die spezifische Ausprägung des Studiengangs – freilich in der Zeit zwischen 1991 und 1996 –, ohne die Begegnungen und persönlichen Einflüsse wären meine Lebenswege sicher anders verlaufen. Wenn ich mir das Thema jetzt so recht vergegenwärtige, laufe ich Gefahr, Biographiearbeit zu betreiben und gleich von vorn herein in Details zu schwelgen. Dagegen werde ich immer wieder ankämpfen, um eine Linie zu wahren, die für Sie interessant sein könnte.

Fangen wir am besten am Ende an: die Humboldt-Universität setzte mich nach erfolgreichem Abschluß frei, sandte mir sehr unpersönlich mein Magisterzeugnis zu und trennte sich somit unfeierlich und schmerzlos von einem ihrer vielen Studierenden. Es konnte anders nicht sein in einer Massenuniversität, sagte ich mir damals, und doch fühlte ich mich etwas verraten von einer Institution, die mir so viel bedeutet hatte, der ich die wichtigsten Bildungs- und Erweckungserlebnisse verdankte. Gewiß, der Start war nicht anders verlaufen: Ich reihte mich in eine Schlange Wartender ein, immatrikulierte mich und wurde ebenso unpersönlich in diesen riesigen Verwaltungsapparat integriert wie ich nun ausgeschieden worden war. Aber: für die Zeit meiner Zugehörigkeit hatte sich eine Bindung entwickelt, die mich glauben ließ, hier meint es jemand gut mit mir, hier bringt mich jemand gezielt weiter. Spätestens bei Irene Döllings Lehrveranstaltungen zur psychoanalytischen Kulturtheorie hätte ich erkennen müssen, daß die psychische Verfasstheit der Individuen sehr eng mit den Institutionen der Gesellschaft korrespondiert, daß die gefälligeren und freundlichen Institutionen wie etwa die Familie von immer unpersönlicheren abgelöst werden und mit der Geformtheit und Formbarkeit der Individuen gesellschaftliche Stabilität erzeugen. Ich wurde folgerichtig weitergereicht in die Sphäre des Berufslebens, weil ich es geschafft hatte – oder zu dumm gewesen war, es zu verzögern –, einen formalen Bildungsabschluß zu erwerben. Damit musste ich mich lösen von einer Institution, die für viele vielleicht allzu lange Heimat bedeutet, in deren Schößen sie sich auf ewig einrichten und – im besten Falle – der Wissenschaft dienen, wie es Max Weber eindrucksvoll aufzeigte, indem sie ihre transitorische Funktion im Verlauf des wissenschaftlichen Fortschritts anerkennen und ihren Beruf als Berufung leben. Ich jedoch blieb – vielleicht leider – nicht in der Alma mater, sondern folgte der Devise meiner Herkunft aus dem Arbeitermilieu: lerne für das Berufsleben, suche dir einen Arbeitsplatz, schaffe Werte! Unbewußt war damit mein rascher Absprung in andere Institutionen vorgezeichnet, wie man unschwer schlussfolgern kann, ohne mit Freud oder Gehlen reüssieren zu müssen. Aber es war nicht nur das Schicksal der Herkunft gewesen, deren Macht man ja durchbrechen kann, es war auch Neugier auf ein Leben als Akademiker außerhalb der Schutzzone Universität, die Suche nach Erfolg, Anerkennung und beruflicher Legitimität als Geisteswissenschaftler.

Was habe ich nun erreichen können? Am Anfang herzlich wenig. Zwar habe ich mich aus Prinzip ausschließlich von der Kulturwissenschaft als angewandter Disziplin ernährt, aber es geschah mühsam und ohne die Möglichkeit eines Rückgriffs auf die Reputation einer Branche oder eines Berufsstandes. Auch ohne verlängerte Koordinaten der Hochschule in die Praxis. Was ist ein Kulturwissenschaftler mit seinen diffusen und unspezifischen Fertigkeiten im Vergleich zu einem Mediziner, Juristen oder sogar Theologen? Letzterer – vorausgesetzt, die Landeskirche hat sich an seinen akademischen Weihen beteiligt – wird Vikar, der Mediziner Arzt im Praktikum und letztlich Facharzt, der Jurist wandelt als Referendar durch verschiedene Institutionen und macht sich – wenn sich keine höheren Bestrebungen umsetzen lassen – irgendwo als Verwaltungsjurist breit und geriert sich als Fachmann der Behörde, der er gerade dient. Fragt man Juristen, wie es ihnen gehe, sagen sie gern: Gut, ich kann klagen. Sie passen in unsere Zeit und sind die Gewinner einer fortschreitenden Verrechtlichung aller Sphären des Lebens. Für den Kulturwissenschaftler jedoch bietet sich kein Einstiegsfeld, auch ist er im umfassendsten Sinne Generalist, sein Fundament drückt sich nicht in kanonischen Texten, Paragraphen oder anatomischen Tabellen aus. Er ist ein Mann – oder eine Frau – des Geistes, zu Hause irgendwo zwischen Natur und allem, was sich von ihr abgespalten hat – oder nie zu ihr gehörte, wenn wir Plessners Diktum des Menschen als von Natur aus künstlichem Wesen folgen. Hier beginnt schon die Unsicherheit, die sich wie ein roter Faden durch unser Selbstverständnis als Kulturwissenschaftler zieht. Wer kennt sie nicht, die strategische Frage: Was ist eigentlich Kultur? Klären Sie doch bitte einmal Ihren Kulturbegriff! Als Wissenschaftler mag man sich freuen und ausholen zu einer von vielen Erklärungsmöglichkeiten. Als praktischer Kulturwissenschaftler entzieht Ihnen diese Frage a priori jegliche Autorität. Wer anfängt, zu interpretieren, hat kein normatives Gewicht. Freier ist nur noch ein Philosoph, und so nennt sich schon niemand mehr, der von seiner Profession leben will. Jeder Key Account Manager wiegt schwerer, wenn auch die meisten von uns, fürchte ich, nicht wirklich wissen, was er tut. Keine Gewissheit, keine Reputation also steht am Anfang unserer Wissenschaft, sondern ein Generalproblem, um das wir ständig kreisen; noch in den Tiefen der kommunalen Kulturpolitik – um etwas vorzugreifen – packt man Sie im Ernstfall beim Kulturbegriff. Er wird zum Spielball der Interessenpolitik, des Lobbyismus. Die UNESCO hat dies mit der Propagierung des wohlgemeinten, politisch und auch praktisch sehr erfolgreichen „weiten“ Kulturbegriffs noch getopt. In Zeiten prosperierender öffentlicher Haushalte kann man mit Kultur viel Gutes tun, in Zeiten der Konzentration und wohlüberlegten Gestaltung macht er jegliche strategische Entscheidung im Kulturbereich fachlich unmöglich. Es bleibt dann nur das Gewicht parteipolitischer Allianzen. Auch hier freilich können Kulturwissenschaftler Mandatsträger sein, aber dann zählt ihr politisches Geschick, Fraktionszwang oder Kalkül, auf keinen Fall ihre Expertise.

Von der Universität in die Praxis: geordnet und planmäßig funktioniert das also nicht. Bei mir hieß es – wie bei vielen anderen auch – zunächst Freiberuflichkeit. Außer vielleicht, der Übergang fand noch in der DDR statt, da gab es eine geringe Zahl von Absolventen, die planmäßig in Arbeit kamen. Im Stadium der Freiberuflichkeit greift nun das erste Mal mit voller Wucht die Notwendigkeit, erworbenes Wissen praxisorientiert anwenden zu müssen. Zwei Variable, die zu klären wären: welches Wissen? Welche Praxis? Aber: Zuallererst haben wir doch denken gelernt, problematisieren, die Perspektive als Bestandteil von Erkenntnis zu begreifen, Brücken zwischen Wissensgebieten zu schlagen oder die Formationen des Wissens als Konstruktion zu hinterfragen, überhaupt: kritisch zu sein, Entwicklungen unserer modernen oder postmodernen Gesellschaft diskursiv zu begleiten und Gewißheiten immer und überall abzulehnen. Das unterscheidet uns im übrigen signifikant von den erwähnten Theologen, Medizinern oder Juristen, deren Denkgebäude doch recht stabil sind, bei allem Wissenszuwachs. Kulturwissenschaftler können also Rat geben, wo es um Veränderung geht, um die Gestaltung zukünftiger Strukturen, um Argumentationen und fachlich zu untersetzende Strategien, die vielleicht politische werden sollen. Kulturwissenschaftler – zumindest meiner Generation – wissen, über welche Eigenschaften ein felix aestheticus verfügt, wissen um die Historizität des Ästhetischen, um das „in sich selbst Vollendete“ eines Kunstwerks und die Autonomieästhetik, die im Verfassungsgrundsatz der Kunstfreiheit ganz praktische Relevanz entfaltet. Diese Rückbindung gelingt nicht jedem. In dieser Relativität eines zumindest dem Eindruck nach kanonischen Wissens gewinnt die Fachlichkeit des Kulturwissenschaftlers Halt, hier kann er Wege aufzeigen, Optionen, Interpretationen von Herkunft und Zukunft, die Plausibilität entfalten und – im besten Falle – sogar um betriebswirtschaftliche Daten ergänzt werden können. Wie Sie unschwer erkennen können, rede ich schon mehr oder minder deutlich vom Kulturbetrieb. Er war für mich die erste und bis heute bestimmende Adresse, beruflich tätig zu werden. Im Nebenfach studierte ich im übrigen Kulturpolitik, ferner Europäische Ethnologie, was im Grunde soviel heißt wie: Kulturwissenschaft.

Freiberuflichkeit hat viele Gesichter. Bei mir war es – ausgehend von einem Praktikum (eine immer wieder zu empfehlende Tastmethode in die Wirklichkeit) – das Sächsische Staatsministerium für Wissenschaft für Kunst, also die oberste Landesbehörde für Kultur im Freistaat Sachsen, die mich beauftragte, Rat zu geben. Daneben versuchte ich mich als Publizist, was ich bis heute erfolgreich nebenberuflich fortsetze, und Lehrender, auch das bis heute. Ein Ministerium als Berufseinsteiger zu beraten, ist leichter, als man vielleicht denkt. Der Vorteil besteht in der gemeinsamen Distanz zur Praxis. In meinem Falle erprobte man ein Förderprogramm zur Strukturierung der im Zuge der Wiedervereinigung entstandenen freien Kulturszene mit 2,5 Mio. DM jährlich, also eine vergleichsweise kleine Spielwiese. Meine Aufgabe bestand darin, die Wirkungen dieses Förderprogramms im Verlauf einer Legislaturperiode zu bewerten und Empfehlungen für die danach vorgesehene Regelförderung des Ministeriums zu erarbeiten. Dies war eine spannende Aufgabe, in deren Verlauf ich mehr vom Ministerium – oder besser: der gemeinsam mit diesem zu erforschenden Praxis im ganzen Land – lernte als man von mir vielleicht als Rat bekam. Am Ende jedenfalls stand eine neue Förderrichtlinie und eine zwischenzeitlich lokal und regional verankerte Kulturszene, die der Freistaat punktuell bezuschussen konnte und im übrigen bis heute bezuschußt. Ich bin zwischenzeitlich der Geschäftsführer des dafür zuständigen Landesverbandes und kenne mein Ministerium, das mich fördert, inzwischen besser als mancher seiner Mitarbeiter. Meine Freiberuflichkeit endete damit, daß ich befristet im Ministerium eingestellt wurde und als Musikreferent wirkte. Was hat die Kulturwissenschaft dazu beigetragen? Einiges. Sie hat mir anfangs den Habitus des Wissenden in Kulturfragen gegeben, den Stolz eines Kulturwissenschaftlers, der mit Karl-Philipp Moritz, Thomas Mann und nicht zuletzt Kant, der einmal sagte, die Praxis sei häufig deshalb so schlecht, weil ihr die Theorie fehle, den Stolz also eines Kulturwissenschaftlers, der mit all diesen Referenzen einfach kulturwissenschaftlich argumentieren kann. Das mag etwas redundant klingen, ist aber durchaus nicht wenig. Wenn Sie einmal die Chance haben, gehört zu werden, müssen Sie plausibel sein, müssen Sie etwas anbieten können und Ihr Umfeld interpretieren. Eine oberste Landesbehörde bietet da einigen Spielraum, und den nutzte ich. Bald gab man mir auch andere Aufträge, die breiter ausgelegt waren. Ich entwickelte das bundesweit bisher wohl umfangreichste Handbuch zur Kulturförderung eines Bundeslandes (eines Landes freilich, das die höchsten Pro-Kopf-Ausgaben im Kulturbereich hat), und ich durfte die erste Regierungserklärung zur Kulturpolitik auf der Arbeitsebene vorbereiten und unseren Minister beraten. Als Kulturwissenschaftler, als einer, der etwas von Kultur versteht und – so muß ich ergänzen – immer und intensiv Lernender bleibt. Unsere Profession, das wissen Sie alle, ist im höchsten Grade abhängig von laufenden Debatten und Spezialdiskursen, in meinem Falle dem der Kulturpolitik und des Kulturmanagements.

Die Rede vom lebenslangen Lernen – auch ein UNESCO-Grundsatz von völkerrechtlichem Format – ist für mich harte Praxis: ich lese und lerne mitunter mehr und intensiver als während des Studiums, ohne jetzt dick auftragen zu wollen. Der formale Bildungsprozeß ist zwar abgeschlossen, aber als praktischer Kulturwissenschaftler, der selbst Einfluß gewinnen und Führungsaufgaben übernehmen will, ist die ständige Vertiefung und Aktualisierung des Wissens eine bleibende Basisaufgabe geblieben, zumindest für mich. Wer beispielsweise einmal mit dem Geschäft der Kulturförderung in Berührung gekommen ist, befasst sich nolens volens intensiv mit dem Haushalts-, Zuwendungs-und Steuerrecht, wälzt das Verwaltungsverfahrensgesetz, vertieft seine Kenntnisse über den Staatsaufbau, das Subsidiaritätsprinzip und erschließt für sich – das ist schon die ganz hohe Schule – das Kulturverfassungsrecht. Spätestens beim opus magnum „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“ von Peter Häberle (nahezu 1200 Seiten stark) kann dies rasch zum abendfüllenden Programm werden. Aber es genügt auch schon der Versuch, sich einmal die Genese des Kulturstaatsbegriffs argumentationssicher anzueignen, um sich in die Diskussion über eine Kulturstaatsklausel im Grundgesetz einbringen zu können; nicht mit juristischer Expertise, sondern aus der Sicht des Kulturexperten, der etwas über die Kulturgestaltungsmacht des Staates aussagen möchte und diese mit den vorherrschenden Trägerstrukturen und Förderverfahren im Kulturbereich in Verbindung bringt. Und der bei der soliden Auffassung bleibt, daß abschließende Aussagen über Kultur nicht der Jurist, nicht der Verwaltungsfachmann, sondern der Kulturexperte treffen muß. Im besten Falle vielleicht der berufsmäßige Kulturwissenschaftler.

Nun habe ich im Nebenfach Kulturpolitik studiert – und von all dem nichts gelernt. Und trotzdem war es mehr als nichts, weil Grundlagen kulturpolitischen Denkens schon vermittelt worden sind, freilich aus einer um Wissenschaftlichkeit – also Praxisferne – bemühten Perspektive und mit dem Anliegen, vor allem die Geschichte dieser eigentlich erst nach dem Kriege zu einiger Konsistenz findenden Disziplin zu vermitteln, die Vorgeschichte, müsste man präziser sagen. Und doch verdanke ich den Lehrveranstaltungen insbesondere Horst Groschopps ein erstes Verständnis dessen, was wir heute Soziokultur nennen, habe ich die Verbindungen zwischen Sozialdemokratie, Arbeiterbewegung und künstlerischem Volksschaffen in der DDR und der Breitenkultur im Transformationsprozeß begreifen können und ein Gefühl dafür bekommen, daß Kulturwissenschaft in der Praxis ankommen, Wissen anwendbar sein kann, auf Institutionen, Ideologien und Diskurse trifft, die beeinflußt werden können. Und ich habe gesehen, über welch lange Zeiträume man denken muß, um die Wiederkehr der Motivationen und ihre Kontextualisierbarkeit verstehen zu können. Oder – wie Peter Sloterdijk einmal sagte – über wie viele Speichermägen die Geschichte verfügt, um das Immergleiche wiederzukäuen. Und doch muß man es kennen, muß man ein Gefühl für Varianzen und Zeitgemäßes/Unzeigemäßes entwickeln, um selbst Gestalter von Kulturprozessen werden zu können und die richtigen Vorschläge zu unterbreiten, das richtige Vokabular zu finden.

In Sachsen verkomplizierte sich diese Aufgabe aufgrund der Tradition, Kulturdichte und Vielfalt; es gibt sogar ein bundesweit einmaliges Kulturfachgesetz, das Gesetz über die Kulturräume in Sachsen. Wie Sie wissen, ist Kultur Ländersache, und der Kulturföderalismus führt dazu, daß man 16 Spielarten von Landeskulturpolitik durchdringen und bewerten kann und auch unterschiedliche Modelle kommunaler Gestaltung auf der Basis jeweiliger Gemeindeordnungen. Das Kulturraumgesetz, das das gesamte Bundesland in regionale Zweckverbände zur Kulturförderung gliedert und den Staat mit jährlich 86,7 Mio. € zur Mitfinanzierung zwingt, ist ein Instrument, das man als Kulturpolitiker intim kennen muß. Und wieder ist man als Kulturwissenschaftler ein Grenzgänger zwischen den Disziplinen, ohne festen Halt, aber – im besten Falle – mit Instinkt. Wer den Diskurs über die Genese des Gesetzes aus dem Einigungsvertrag kennt und seinen heutigen Status einschätzen kann, ist im Vorteil. Das Ganze im Blick behalten, es gut durchargumentieren und Grundsätze formulieren, die Gestaltung zulassen, dann gerät der Jurist in die ihm gemäße Position des Helfers, der Kulturfachmann behält die Oberhand.

Meine Tätigkeit außerhalb des Ministeriums erforderte mehr denn je die Kraft, Zusammenhänge nicht nur zu behaupten, sondern auch zu belegen. Sich Gehör, und Aufmerksamkeit verschaffen, Einfluß zu sichern, ist das Geschäft der Verbandsarbeit, die ich noch bis Ende dieses Jahres absolvieren kann. Hier profitierte ich umfassend von meiner Profession als Kulturwissenschaftler, da ich nicht nur mich, sondern auch die von mir zu leitende Organisation neu erfinden durfte. Ich wurde Geschäftsführer eines relativ großen Kulturverbandes, der sich an den Rand des Abgrunds manövriert hatte und von mir das forderte, was ich gelernt hatte: aus Angeeignetem, Erfahrenem und zu Erdenkendem eine neue Quelle der Aktion werden zu lassen. Mit der Rede über Kultur – in meinem Falle die Breitenkultur – Überzeugungsarbeit zu leisten, die in politische Aufmerksamkeit und Förderetats mündet. Wir hatten und haben über 50 Mitgliedsorganisationen landesweit im Verband, wichtige Funktionen auch in der Jugendpolitik, von der ich bis dahin gar nichts verstand, und eine Klärungsfunktion auf der Ebene der Landesverwaltung und nicht zuletzt des Parlaments. Mein größter Vorteil bestand darin, wissenschaftlich arbeiten und die Bedingungen des eigenen Handelns hinterfragen zu können. Das können sicher alle Geisteswissenschaftler, aber ich konnte zudem auf viele Grundsatzdiskussionen über Kultur und Gesellschaft zurückgreifen, die mich schon an der Universität beschäftigt hatten. Zugleich begegnete mir das schon aus der Freiberuflichkeit vertraute Phänomen, Aufgaben erfinden zu müssen, die ein solcher Verband vielleicht übernehmen könnte, um mehr aufzufallen, wirksamer zu werden und möglicherweise auch weitere Finanzierungsquellen zu erschließen.

Hier kommt man mit der Kulturwissenschaft allein freilich nicht weiter. Wieder beginnt das Lernen und Experimentieren, das es ja auch in anderen Berufen gibt, keine Frage, aber der Rahmen scheint bei uns ungleich weiter gesteckt. Was ich im Studium wirklich nicht gelernt hatte – worüber ich als Großelternkind aber verfügte –, war ein Höchstmaß an Selbstorganisation, Disziplin und Ordnung. Das brauchte ich jetzt, spätestens mit der ersten Lieferung neuer Ordner und der Neubestimmung von Fachgebieten. Ein Aktenplan musste her, die Trennung von laufenden Vorgängen und Ablage, die Möglichkeit, Arbeitsvorgänge in ihrer Genese abzubilden und gezielt auf Dinge zurückkommen zu können, wenn es das Geschäft erfordert. Es soll ja Geisteswissenschaftler geben, die nicht einmal ihre Kontoauszüge chronologisch abheften können. Komplexe Handlungen zu organisieren und diese zu kommunizieren, ist zwar anknüpfungsfähig an die Kulturtheorie der Moderne, aber das Wissen darum ist noch kein Garant, Praxis tatsächlich bewältigen zu können. Das muß man empirisch erproben; Komplexitätsreduktion hat dabei viele Gesichter, manchmal auch das des Papierkorbs.

Ein Gebiet, das zu erschließen ich sehr wichtig fand und das momentan in der Kulturpolitik auch Konjunktur hat, ist die Evaluation und Qualitätsentwicklung. Was ich leider gar nicht gelernt habe – mir aber sicher bei den Sozialwissenschaften hätte organisieren können, wenn mein Lebensweg präzise antizipierbar gewesen wäre – sind Grundlagen der empirischen Sozialforschung. Überhaupt verlief mein Studium, möchte ich sagen, relativ methodenfrei. Selbst in der Europäischen Ethnologie, die sich im Einrichten befand, verlief alles recht theoretisch, das ist heute anders. Neben der praktischen Methodik des Lesens und Argumentierens, die ich schätzte und auch später wie schon aufgezeigt brauchte, fiel der methodologische Diskurs ansonsten sehr abstrakt aus. Die Aufgabenstellung meiner Magisterarbeit löste ich diskursanalytisch. Aber das ist schon wieder eine Metamethode, mit deren Befassung man auch ganz leicht mehr Probleme bekommen kann, als am Ende gelöst werden. Dies ging mir zum Glück nicht so, aber ich blieb bis zum Schluß des Studiums immer etwas ratlos, was denn mein Handwerkszeug sei. Mit Foucault können Sie keinen Fragebogen entwickeln, mit Bourdieu noch lange nicht kulturelle Präferenzen der Menschen in Ihrem Umfeld erkunden. Wer evaluieren will, um zur Kulturwissenschaft als Beruf zurückzukommen, muß sich mit Methoden der Datenerhebung, der teilnehmenden Beobachtung und deren Interpretation, der Umwandlung von Daten in Informationen, befassen. Und wieder beginnt der Kulturwissenschaftler, in angrenzenden Disziplinen zu wildern, um am Ende der Fachmann bleiben zu müssen, wenn es um empirische Kulturforschung geht. Der Kreis schließt sich ohnehin erst, wenn die Befunde rückgekoppelt werden an den kulturpolitischen Diskurs, der im höchsten Grade normativ ist.

Heute wird der Diskurs über Kulturpolitik maßgeblich bestimmt von einer managerialen Perspektive, man kann es auch einen ökonomisierten Blick nennen. Bereits in den 1980er Jahren setzte unter dem Topos „New Public Management“ eine Diskussion über die Reform der öffentlichen Verwaltung ein, die auf ein modernes, leistungsfähiges, kunden-und bürgerorientiertes Verwaltungsmanagement zielte. Durch eine bessere Verantwortungsabgrenzung zwischen Politik und Verwaltung, Kontraktmanagement, dezentrale Verantwortung und den Einsatz outputorientierter Instrumente, durch flache Hierarchien, Einführung einer Kosten-und Leistungsrechnung u.a.m. sollte die öffentliche Verwaltung zu innerorganisatorischer Effizienz geführt werden. Für die Kulturpolitik heißt das inzwischen, daß ohne Kulturmanagement eigentlich gar nichts mehr läuft. Nun kann ich für diejenigen, die diese Disziplin nicht kennen, keine Einführung geben. Im Kern ging es anfangs darum, das Steuerungsversagen des Staates und der Kommunen im Kulturbereich aufzufangen, Prozesse zu optimieren, Einheiten zu privatisieren oder outzusourcen, wie es neudeutsch heißt; inzwischen befassen wir uns systematisch mit den Nutzern von Kulturangeboten, also Kulturmarketing oder Audience Development, Fundraising, Organsiations- und Personalentwicklung und vielem mehr. Da das Gefüge zwischen Staat, Markt und Zivilgesellschaft in Bewegung ist, werden veränderte Formen politischer Steuerung im Kulturbereich neuerdings unter dem Begriff Cultural Governance verhandelt. Hinter all dem verbirgt sich aber auch eine Verschiebung der Erwartungshaltung: War es früher der Kulturstaat, der als Leistungsstaat umfassend versorgen sollte, also ein angebotsorientierter Blick, geht es heute mehr um das Ermöglichen, den Gewährleistungsstaat, der stärker auf den Markt und die Zivilgesellschaft blickt, also eine Nachfrageorientierung. Wer will, kann im Kulturmanagement auch den Versuch erkennen, für den öffentlichen Kulturbereich einen simulierten Markt einzuführen, der über die in der Wirtschaft erfolgreichen Instrumente Angebote optimiert oder aber als nicht zeitgemäß aussondert. In jedem Falle werden Sprache und Erwartungshaltung an Kulturträger denen im privatwirtschaftlichen Sektor immer ähnlicher. Was weiß der praktische Kulturwissenschaftler über Leitdisziplinen? Was weiß er über den Globalisierungsdruck, den etwa die Welthandelsorganisation auf den Handel mit Dienstleistungen – dazu gehören auch kulturelle Güter und der öffentlich-rechtliche Rundfunk – ausübt? Was weiß er über Völkerrecht und die UNESCO, deren Konventionen in nationales Recht umgewandelt und denen auch in der Politik der Länder und Kommunen entsprochen werden muß?

Die Kulturmanager drängen auf den Arbeitsmarkt, in der Regel mit rudimentärem kulturwissenschaftlichem Wissen, aber geschult in der anwendungsorientierten Arbeit, als schneller Eingreif- und Reparaturtrupp sozusagen, aber auch mit einem basalen Verständnis über politische Prozesse. Ausgebildet werden sie in der Regel an Fachhochschulen, es gibt aber auch universitäre sowie zahlreiche Aufbaustudiengänge. Kulturmanager moderieren Foren zur Kulturentwicklungsplanung, schreiben Betreiberkonzepte und managen Projekte, entwickeln Marketingkonzepte und geben Ihren Problemen Bezeichnungen, die vulgärmäeutisch schon Lösungen implizieren. Ich kenne freilich auch viele gute Kulturmanager, die ich mit meinen knappen und despektierlichen Ausführungen nicht geringschätzen will, aber hinter diesem Berufsbild steckt auch eine Gefahr für Kulturwissenschaftler. Es könnte ihnen – wenn sie sich nicht mit diesen Ansätzen befassen – berufliche Wege in den Kulturbereich verstellen. Der Zugriff auf die praktischen Sphären der Kultur erfolgte schon immer aus sehr unterschiedlichen fachlichen Disziplinen heraus, aber mit dem Kulturmanagement ist eine vermeintliche Spezialdisziplin entstanden (und entsteht in immer neuen Studiengängen weiter), die den breiten geisteswissenschaftlichen Einstieg ins Berufsleben zunehmend erschweren könnte. Dabei sind es gerade die fachlich nicht konsistenten, von der Persönlichkeit und besonderen Neigungen abhängigen Kulturwissenschaftler, die der Praxis gut tun. Sie gewinnen ihr Profil durch die Reibungen des Berufslebens, wie die Institutionen und Aufträge von ihnen geprägt werden können. Seit kurzem gibt es einen Fachverband Kulturmanagement, der bemüht ist, die Disziplin akademisch aufzuladen und ihr wissenschaftliches Fundament auszubauen. Dies sollte aus meiner Sicht auch Auswirkungen auf das Selbstverständnis eines universitären Studiengangs Kulturwissenschaft haben.

Ich selbst habe mich – auch publizistisch – kritisch mit dem Kulturmanagement und veränderten Erwartungshaltungen an Kulturpolitik auseinandergesetzt. Es gibt vieles, was man durchaus vom Kulturmanagement lernen kann – etwa die Bedeutung einer Evaluation –, es ist und bleibt aber auch Heilsversprechen und angelsächsischer Glanz. Ich persönlich habe in der Praxis immer am stärksten vom Reflexionsvermögen, vom Wissen um Kultur und ihre Geschichtlichkeit profitiert, weniger von einer instrumentellen Vernunft, die ein Problem isoliert und behebt. Wenn ich nun im Januar nach Erfurt wechsle und dort als Kulturdirektor Kommunalpolitik mitgestalten darf, wird es weniger das Management sein, das mich trägt, als vielmehr die Empathie für die Kultureinrichtungen, die Künstler, die Kulturnutzer/innen und natürlich auch für den Kulturhaushalt, der immer knapper wird. Empathie heißt dabei nicht bedingungslose Anwaltschaft für alles, was in einer Kommune Kultur sein kann, sondern für ein funktionierendes Ganzes, das zeitgemäß verstanden und gestaltet sein will.

Mein Studium – ich sagte es ganz am Anfang – prägte mich aber auch durch Begegnungen und persönliche Einflüsse. Von den Professoren erinnere ich sehr stark Irene Dölling und Dietrich Mühlberg, aber auch Renate Reschke, Karin Hirdina, Christina von Braun und Hartmut Böhme, deren Lehrveranstaltungen ich viel zu verdanken habe, die mir aber auch sehr viel Arbeit machten. Wie Sie sehen, eine interessante Ost-West-Melange. Bei Christina von Braun – begeistert von ihren Büchern, die immer auch eine schriftstellerische Qualität haben – schrieb ich meine Magisterarbeit, zu der sie mich trotz des großen Bogens, der mir vorschwebte, ermutigt hatte. Daß ich nicht gescheitert bin, habe ich aber eher meine Oma zu verdanken, die mich bis heute immer mahnt: Mach es kurz, komm’ zum Ende!

Persönlichen Einfluß hatte mein Kollege und Freund Martin Völker, mit dem ich schon während des Studiums viel diskutierte, las und Prüfungen vorbereitete. Ihm habe ich wohl auch zu verdanken, daß ich heute hier reden und meinen Lebensweg etwas ausbreiten durfte. Einfluß hatte aber auch die besondere Zeit mit ihren Ereignissen: die Mauer war gerade gefallen, Berlin begann sich neu zu erfinden, und ich erlebte den Wandel der Stadt parallel zu meiner eigenen Veränderung. Lief ich anfangs über einen wüsten Streifen, um ins Haus 2 der Staatsbibliothek zu gelangen, konnte ich während der Arbeiten an meiner Magisterarbeit schon mit öffentlichen Verkehrsmitteln dorthin gelangen und an der größten Baustelle Europas vorbeiflanieren. Während ich studiert hatte, war hier jedes Steinchen tausendmal gewendet und die Fläche am Ende versiegelt worden mit Häusern, Straßen und Plätzen. Was Berlin in dieser Zeit für mich bedeutete, kann ich hier nicht ausdrücken, nur andeuten. Umso dankbarer bin ich, heute hier sein zu können, und ich danke Ihnen für die Geduld mit mir und Ihre Aufmerksamkeit.