Text | Kulturation 2020 | Dietrich Mühlberg | Bitterfeld – ein „ostdeutscher Sonderweg“? Eine Skizze aus dem Jahr 2007
| Vorspruch
Erster Anlass für diese Skizze aus dem Jahre 2007 war eine
Reihe von kulturgeschichtlichen Jubiläen, die mit der kleinen
Industriestadt Bitterfeld nördlich von Leipzig verbunden sind. 2004 lag
ein stadtgeschichtliches Ereignis genau ein halbes Jahrhundert zurück.
Im Oktober 1954 war dort feierlich der „Kulturpalast Bitterfeld“
eröffnet worden, fünf Jahre später wurde in diesem Palast mit der
„Bitterfelder Konferenz“ der sogenannte „Bitterfelder Weg“ beschritten,
den eine zweite Konferenz 1964 zu bekräftigen suchte. Und schließlich
gab es damals noch den zehnten Jahrestag einer „Dritten Bitterfelder
Konferenz“ zu begehen, die 1994 gefragt hatte: „Kunst. Was soll das?“
Für Bitterfeld gab es 2004 also hinreichend viele kulturgeschichtliche
Anlässe, um Tagungen und Ausstellungen zum Gegenstande zu veranstalten
und in Aufsätzen die Ereignisse kritisch zu beleuchten. Als Nachklang
und eine Art Resümee dieses vielfältigen Jahrestages und seiner Folgen
haben Simone Barck und Stefanie Wahl 2007 den Band „Bitterfeder
Nachlese. Ein Kulturpalast, seine Konferenzen und Wirkungen“
herausgegeben. (Siehe dazu meine Rezension "Ein genuin
sozialistisches Experiment" hier in Kulturation 1/2009, Kritik Nr. 38,
http://www.kulturation.de/ki_1_rezi.php?id=77) Und schließlich hat
Siegfried Lokatis im April 2009 mit seinen Studierenden ein viel
beachtetes kulturhistorisches Symposium zum 50. Jahrestag der ersten
Bitterfelder Konferenz veranstaltet. Die nachfolgenden rückblickenden
Überlegungen sind 2007 notiert worden und gehören in den Kontext dieser
Veranstaltungen. Sie waren für den internen Austausch gedacht und
verzichteten darum weitgehend auf die Nachweise.
„Bitterfelder Weg“ nachträglich entsorgt
Einsetzen soll diese Rückschau an dem kulturpolitisch dekretierten Ende
des Bitterfelder Weges. Es war einem politischen Wechsel geschuldet.
Als nämlich Leonid Breshnew (Generalsekretär der KPdSU), im Jahre 1971
den immer eigenwilligeren Walter Ulbricht, (1. Sekretär des ZK der SED)
durch den fügsameren Erich Honecker ersetzt hatte, um die DDR wieder
eindeutiger auf den sowjetischen Kurs zu bringen (darum wurde Honecker
dann bald darauf auch ein „Generalsekretär“), wurde dieses Projekt der
sogenannten "Ulbricht-Zeit" ohne großes Aufsehen, aber doch ganz
offiziell beerdigt, das einst auf den eigenartigen Namen "Bitterfelder
Weg" getauft worden war. Es hatte zwar schon mehrere Jahre als
„kulturpolitische Leitlinie“ ausgedient und wurde jetzt nachträglich
entsorgt. Zur Begründung hieß es damals aus der Kulturabteilung des
Zentralkomitees, in keinem der befreundeten sozialistischen Länder
könne man sich unter dieser Bezeichnung etwas vorstellen, deshalb solle
sie auch nicht mehr verwendet werden. Heute verstehen nur noch
literatur- und kunstwissenschaftliche Spezialisten, was sich hinter
diesem „Weg“ verbarg und auch sie denken mehrheitlich, es hätte sich
dabei um eine kulturpolitische Schikane gehandelt: Künstler wären
damals von der SED gezwungen worden, in industrielle Großbetriebe (in
das schreckliche Bitterfeld) zu gehen, um dort sozialistische
Agitationskunst zu erzeugen. Gern wird dabei das einstige Bonmot vom
"bitteren Feldweg" zitiert. Barck/Wahl setzten einen Reim von Kurt
Bartsch über ihr Buch: „Es seufzt der positive Held, weil ihm der Weg
so bitter fällt“ (1959)
Solche Vorstellungen werden der historischen Realität zwar nicht
gerecht, enthalten aber ein Körnchen Wahrheit. Tatsächlich waren damals
politische Funktionäre, Wissenschaftler und Kritiker - aber auch viele
Künstler - der Auffassung, dass Kunstwerke für das Volk, für die
arbeitenden Menschen, nur von denen geschaffen werden können, die deren
Leben auch kennen. Die wirkliche Arbeit der Vielen wurde nicht nur als
die wichtigste Lebensleistung der neuen Adressaten neuer Kunst
angesehen, die Arbeitssphäre wurde zugleich als wohl günstigste
Gelegenheit wahrgenommen, mit ihnen gleichberechtigt in Kontakt zu
kommen. Vorausgesetzt wurde dabei, dass die arbeitenden Menschen
jenseits der Bildungsschichten nicht nur einen Anspruch auf Kunst,
sondern auch eine noch nicht artikulierte Sehnsucht nach ihr hätten. So
formulierte die Kulturpolitik einen missionarischen, Auftrag: Künstler
gehen als Lehrende wie auch als Lernende zu den Arbeitern. Einmal
sollte auf diese Weise die aus der antagonistischen Klassengesellschaft
überkommen Kluft zwischen den abgehobenen Sphären der Künste und dem
Alltagsleben der Arbeitenden geschlossen werden. Zum anderen sollten
dadurch enge Bindungen der Künstler an die arbeitenden Klassen bewirkt
und zugleich das künstlerische Interesse auf die gesellschaftlichen
Probleme des sozialistischen Aufbaus gelenkt werden. Ein rundum
volkspädagogisches Projekt, das besonders jenen Intellektuellen
gefallen musste, die sich selbst politisch links verortet hatten. Bei
genauerem Hinschauen wird man erkennen, welch bestimmende Rolle gerade
sie bei Kartierung des „Bitterfelder Weges“ gespielt haben. Vielleicht
ist es gerade diese entschlossene Kunstprogrammatik, die auch
international die Zahl derer anwachsen lässt, die interessiert
nachforschen, was denn dieser „Bitterfelder Weg“ gewesen ist.
Warum kann dieses kulturgeschichtliche Ereignis interessieren?
Nun wäre allein ein schon solch einmaliges Großexperiment der
kulturhistorischen Betrachtung wert, mit dem versucht worden ist, die
Bildungsideale der alten deutschen Sozialdemokratie praktisch
umzusetzen. Dies aber auch deshalb, weil in der Nachkriegszeit in
"westlichen" Ländern, in denen die Sozialdemokratie und die
Gewerkschaften einflussreich waren, verwandte Anstrengungen gemacht
worden sind. Das geschah zwar mit bescheideneren Mitteln und
Ansprüchen, doch hatten diese Projekte einen nachhaltigen Einfluss auf
die Kulturpolitik dieser Länder. Möglich waren sie geworden, weil die
drei Nachkriegsjahrzehnte die hohe Zeit der Industriearbeiter waren.
Sie bildeten die Majorität der Erwerbstätigen, machten die
Gewerkschaften reich und stark und stützten sozialdemokratische
Politik. Genau in dieser Zeit hatte die Reform des Bildungswesens nicht
nur zu den 1968er Rebellionen an den Universitäten geführt sondern
schließlich auch zu einem Überschuss an pädagogischer Lehrkapazität und
von Absolventen, die die Offerten des nun expandierenden
Humandienstleistungssektors nicht nur dankbar begrüßten sondern an der
Ausarbeitung der „Neuen Kulturpolitik“ kräftig mitwirkten. Es besteht
hier also die nicht so häufige Gelegenheit, ein kulturelles Ereignis in
den zwei Varianten/Ausprägungen anzuschauen, die es in unterschiedlich
verfassten Gesellschaften gleicher kultureller Prägung angenommen hat.
Es ist also von Interesse, auf die gesellschaftspolitischen Kontexte zu
schauen, aus denen heraus sich einerseits das Projekt "Bitterfelder
Weg" als ein Kulturprogramm für Arbeiter und alle übrigen „Werktätigen“
entwickelte und in denen andererseits die in dieser Zeit gegründete
„Kulturpolitische Gesellschaft“ nun „Kultur für alle“ und „Kultur von
allen“ forderte.
Die gravierende Besonderheit Ostdeutschlands bestand darin, dass hier
eine Fraktion der deutschen Arbeiterbewegung mit sowjetischer
Unterstützung in die politische Vormachtstellung geraten war, die es
als die historische Mission der Arbeiterklasse ansah, ein
nichtkapitalistisches Gesellschaftssystem zu errichten und eine
egalitäre Gesellschaft nach den Bedürfnissen arbeitender Menschen
einzurichten. Im Kontext eines solchen Programms hatte das kulturelle
Bildungsprogramm für Arbeiter eine ganz andere Bedeutung als unter der
kulturellen Hegemonie der besitzenden Klassen. Es musste hier auch zu
einer Probe darauf werden, ob "die Arbeiter" die ihnen zugeschriebene
historische Veränderungsmacht tatsächlich besaßen oder entwickeln
konnten.
Der Kulturwissenschaftler Hans Koch hat das, was da grundsätzlich in
Frage stand, bereits 1959 als inzwischen bewiesen angesehen und kühn
behauptet: „Die Arbeiterklasse hingegen ist und bleibt - zur Macht
gekommen - eine produktive Klasse. Zugleich aber vollbringt sie, was
keine herrschende Klasse vor ihr zu tun in der Lage war, so groß und
leuchtend deren beste Gestalten auch in der Geschichte stehen:
Produktiv zu arbeiten, den Staat zu lenken und, ihre Kultur ausbildend,
alles große Vermögen gesitteter Menschheit für sich zu erobern.“ (Hans
Koch, Kultur in den Kämpfen unserer Tage. Berlin 1959, S. 35/36). Zu
solch pathetischer Überhöhung ließ sich Hans Koch wohl nur hinreißen,
weil die behauptete historische Fähigkeit von unterschiedlichen Seiten
angezweifelt wurde. Im Rückblick hat Günter Benser auf die große Lücke
zwischen diesem Anspruch und der tatsächlichen programmatischen Arbeit
der SED-Führung hingewiesen. Ihr "Sozialismusbild erweist sich bei
genauerem Hinsehen als durch und durch machtbezogen" (Günter Benser,
Mit welchen Sozialismusvorstellungen war die SED angetreten? hefte zur
ddr-geschichte 60, Berlin 1999, S. 33), "ungeklärt blieb indes, wie
sich eine reale Vergesellschaftung und Teilhabe der Produzenten
verwirklichen lässt und welche neuen Treibkräfte den Konkurrenzkampf
wirksam und dauerhaft ersetzen können." (ebenda S. 36) Unter diesen
Bedingungen musste das kulturelle Bildungsprogramm kompensatorischen
Charakter bekommen, dabei dann aber auch zum Feld ersatzweise geführter
Debatten über die sozialistische Programmatik werden.
Zu einem "historischen Beweismittel" konnte der "Bitterfelder Weg" wohl
nur avancieren, weil Lenins Thesen von der revolutionären Rolle des
Proletariats auch durch seine deutschen Anhänger nie wirklich und
niemals grundsätzlich überprüft worden sind. Sie haben die faktische
politische Machtausübung der SED als Beleg für die Herrschaftsfähigkeit
der Arbeiterklasse genommen. Dabei gab es bekanntlich etliche kritische
Situationen, in denen diese Grundüberzeugungen sich als fragwürdig
erwiesen. So etwa als sich 1956 die Führung der sowjetischen
kommunistischen Partei von Stalin distanzierte und programmatische
Neubestimmungen unerlässlich geworden waren. Damals hat auch die
Führung der SED auf den Reformdruck in den eigenen Reihen reagiert.
Einerseits wurden die Verfechter demokratischer Erneuerung abgestraft,
aber es kam auch zu einem sozialistischen Aufbauprogramm, das eine
„sozialistische Kulturrevolution“ als grundlegende Umwälzung vorsah. In
diesem Kontext wurde dann auch explizit danach gefragt, ob und wie weit
sich die Arbeiter über die politische Herrschaft "ihrer" Partei hinaus
als kultureller Hegemon der neuen Gesellschaft erweisen könnten.
Indirekt wurde damit die Frage gestellt, ob es denn überhaupt eine
Chance dafür gab, die Ziele des "Arbeiterbewegungssozialismus"
erfolgreich durchzusetzen und den „Zukunftsstaat“ zu schaffen, bevor
die angenommenen Träger dieser Bewegung selbst zu historischen
Gestalten geworden sind. Denn tatsächlich hat die „große Industrie“
dann in der zweiten Hälfte der DDR-Geschichte an Bedeutung verloren und
auch die Zahl der industriellen Lohnarbeiter ging langsam aber stetig
zurück. Das ist von Sozialtheoretikern als Verschwinden der
Arbeiterklasse wie auch als deren Wandel interpretiert worden.
Gleichwie – rückblickend bleibt zu fragen, ob damit das Ende des auf
die Arbeiterklasse fixierten sozialistischen Experiments im Osten
ebenso zusammenhängt wie das inzwischen viel beschworene "Ende des
sozialdemokratischen Zeitalters" im Westen. Vielleicht kann eine nähere
Betrachtung des Projekts „Bitterfelder Weg“ auch etwas dazu beitragen,
die einmal gegebenen historischen Chancen eines
Arbeiterbewegungssozialismus realistischer abzuschätzen.
Offenbar keine Aussicht, vergleichend nach den Chancen deutscher Geschichte zu fragen
Voraussetzung für einen solchen Rückblick wäre eine Art
Perspektivenwechsel. Denn in der offiziösen Geschichts- und
Sozialwissenschaft der Bundesrepublik ist es bei Betrachtung der
ostdeutschen Teilgeschichte üblich, das eigene Gesellschaftssystem (und
seine je für wichtig gehaltenen Vorzüge) zum Maßstab der Methodik wie
der historischen Bewertung zu machen. Solcherart Befangenheit sollte
nicht verwundern, sie ist der kulturelle Normalfall, der "fremde Blick"
taugt nicht für das Alltagsgeschäft bürgerlicher Wissenschaft, und so
blieben die vielen inzwischen vorliegenden Untersuchungen zur
DDR-Geschichte alle im Rahmen der lange bewährten Analysemodelle.
Überdies lag den Wissenschaftlern ja der politische Auftrag zur
Delegitimierung des SED-Regimes vor. Formuliert von einer politischen
Klasse, die sich selbst als Verteidiger zivilisatorischer Grundwerte
begreift. So wird das Ende der DDR als endliche und erstaunlich
schwierige Rückkehr zur Normalität begriffen und dieser Vorgang
möglichst neutral benannt: Von „Transformation“ wird gesprochen, obwohl
es um die Wiedereinsetzung einer alten Logik, um eine Restauration "auf
höherem Niveau" geht. Mit diesem Bild vom Gang der Welt kann eine
andersartige Gesellschaft gar nicht vorgestellt werden und so musste
wissenschaftlich bislang offen bleiben, welcher Art denn das
ostdeutsche Gesellschaftssystem war. Jedenfalls - aber auch das wird
selten expliziert - wird es als unvereinbar mit der eigenen Systemlogik
wahrgenommen. Kapitalistische Marktwirtschaft, Vertretungsdemokratie
und bürgerliches Rechtssystem gelten als der Normalfall, alles andere
als Abweichung. Und zu erklären ist die Abirrung nur aus den
Machtgelüsten radikaler politischer Außenseiter. Ganz folgerichtig ist
die Fokussierung auf die diktatorische Herrschaftsform der ostdeutschen
Gesellschaft, die jede nähere Betrachtung ihrer sozialistischen
Verfasstheit weitgehend verbaut. Es könnte aufschlussreich und vor
allem angemessener sein, gerade auf die alternativen Züge der
ostdeutschen Gesellschaftsverfassung näher einzugehen.
Allerdings verlangte dies, die antikapitalistischen Ziele der
Arbeiterbewegungen etwas ernster zu nehmen und aufzuhören, das Bild von
linksextremen machtbesessenen Bösewichten zu zeichnen, obwohl sie das –
von der bürgerlichen Mitte her gesehen – wohl auch waren und sind.
Solch vordergründige Distanzierung lässt es dann gar nicht mehr zu, den
aus der deutschen Arbeiterbewegung hervorgegangenen "Arbeiter- und
Bauernstaat" (wie auch die SED-Führung) an dieser historischen
Programmatik zu messen.
Das scheint aber perspektivisch wie historisch geboten. Es ist ja der
Zusammenbruch dieser Alternativkonstruktion gewesen, der die aktuelle
Ratlosigkeit über die mögliche Zukunft des obsiegenden
Gesellschaftssystems verursacht hat. Und der Rückblick zeigt, dass
diese Arbeiterorganisationen zusammen eine der großen
geschichtsprägenden und wertsetzenden Kräfte des 19. und 20.
Jahrhunderts waren. Bemerkenswert auch, weil sie kulturgeschichtlich
die ersten großen Bewegungen von nichtbesitzenden arbeitenden Menschen
waren, die für sich die gleichen Rechte und Entwicklungsmöglichkeiten
einforderten, wie sie Besitzende hatten und haben.
Arbeiterkultur und hegemoniale Nationalkultur bei den Deutschen
Auf dieser Betrachtungsebene bliebe zunächst festzuhalten, dass die
hier in Rede stehende Arbeiterkultur wie die daraus hervorgehenden
Arbeiterbewegungskulturen im 19. und 20. Jahrhundert die entscheidenden
Sub- und Gegenkulturen in den klassengespaltenen europäischen Nationen
waren. Sie waren (und sind) dies aber als Teil einer generellen
kulturellen Großstruktur moderner Industriegesellschaften, die
übergreifende, alle einbeziehende Verkehrsformen hervorgebracht haben.
Die milieugestützten oder klasseneigenen "Sonderkulturen" waren und
sind zugleich immer auch Ausprägungen einer übergreifenden Kultur.
Diese verbindende Kultur, wie sie mit dem Nationalstaat entstand, war
auch in Deutschland mindestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts
bürgerlich geprägt. Doch bald entstanden mit dem Anwachsen der
städtischen Arbeiterschaft proletarische Kulturformen von
gesamtgesellschaftlicher Geltung. Die national operierenden
Interessenverbände und die politischen Parteien dieser
gesellschaftlichen Großgruppe waren ihr deutlichster Ausdruck. Auf der
anderen Seite erhielten die arbeiterlichen Kulturformen ihren stärksten
Antrieb wohl durch die kommerzielle Verwertung der Bedürfnisse dieser
sozialen Klasse auf der Grundlage industrieller Massenproduktionen
aller Art. Eine durchaus ambivalente Situation mit entsprechenden
kulturellen Folgen. Einerseits lösten sich - und das begann schon vor
dem 1. Weltkrieg - milieutypische Arbeiterkulturen unter dem Einfluss
des Marktes und der expandierenden massenkulturellen Formen langsam
auf. Das schwächte die Arbeiterkulturbewegung, die nach 1945 in keiner
der deutschen Teilgesellschaften richtig wiederbelebt werden konnte und
bewirkte einen Rückgang der möglichen Einflüsse von
Arbeiterbewegungskultur auf Arbeiter. Die deutschen Arbeiterparteien
reagierten auf den Wandel ihrer Herkunftsmilieus zwiespältig. Verbal
blieben sie ihnen zwar verbunden, doch schon 1958 erklärte sich die SED
zur Interessenvertreterin einer „sozialistischen Menschengemeinschaft“.
Ein Jahr später folgte die SPD in Westdeutschland und wandelte sich mit
dem Godesberger Programm zu einer "Volkspartei", links, aber
"unideologisch".
Andererseits (und kulturell nicht weniger bedeutsam) führte das
ständige Anwachsen der an Arbeiterbedürfnissen profilierten
massenkulturellen Formen zu einem immer stärkeren Einfluss
proletarischer Lebensformen auf die Gesamtkultur und auf die
Teilkulturen fast aller anderen Milieus. Für die DDR war das wegen der
egalisierenden sozialstrukturellen Veränderungen ein durchgreifender
kultureller Wandel, der zu einer „arbeiterlichen“ Gesellschaft führte,
die aus bürgerlicher Perspektive als schäbige Kleine-Leute-Gesellschaft
erscheint. In anderer Verarbeitungsform war das in Westdeutschland (und
anderswo) zu beobachten und wurde doppelt interpretiert: als
Verbürgerlichung der Arbeiter (die sich nun selbst mehrheitlich als der
Mittelschicht zugehörig betrachteten) und als eine Proletarisierung der
Gesellschaft - die die Besitz-, Macht- und Bildungseliten einschloss.
Letzteres wurde vielfältig mit kulturkritischem Impetus als Hegemonie
der Konsum- und Massenkultur beklagt.
Vor diesem Groß-Szenarium spielte sich die kurze Kulturgeschichte der
ostdeutschen Sezessionisten ab. Soll ein Rückblick darauf Sinn machen,
wäre zuerst zu prüfen, welche Chancen es hatte, unter den gegebenen
sog. "objektiven Bedingungen", ein sozialistisches Projekt in
Teildeutschland erfolgreich zu gestalten. Schnell wird man darauf
stoßen, dass Beginn, Verlauf und Ende des ostdeutschen Sozialismus gar
nicht von seinen Protagonisten und Kontrahenten in der SBZ/DDR
entschieden worden sind. Das ist zwar unbestritten, doch der immer
wieder aufbrausende Festjubel über den Sieg einer friedlichen
Revolution lässt es vergessen. Sachlich liegt der Schluss nahe, dass es
sich hier nur bedingt um ein historisches Experiment handelte, weil die
Akteure des gesellschaftlichen Umbaus mehrere der entscheidende
Bedingungen dauerhaft nicht beeinflussen konnten und ihr Scheitern
darum einen zwangsläufigen Charakter haben musste. „Hinter ihrem
Rücken“ hatten die Alliierten der Anthitlerkoalition ihre
Einflussgebiete in Deutschland abgesteckt und hinter ihrem Rücken ist
ausgehandelt worden, wie die DDR zu enden habe. Denn tatsächlich war
die SBZ/DDR im Weltkonflikt des 20. Jahrhunderts nur ein kleiner
Akteur, dessen Überleben letztlich davon abhing, wie es der Moskauer
Führung gelang, ihr sowjetisches Großreich erfolgreich zu dynamisieren
und so zu erhalten.
Doch diese Annahme völliger Chancenlosigkeit ließe die eigentlich zu
untersuchende Leistung außer Acht: das bewusste Gegensteuern, das
Abarbeiten an diesen unüberwindlichen Hindernissen bei dem Versuch,
eine lebensfähige Gesellschaft ohne soziale Gegensätze und ohne starkes
soziales Gefälle zu schaffen. Und gerade diese Anstrengungen könnten
sich als das kulturell Innovative, das Erfinderische und als das
vielleicht tiefer und länger Wirksame erweisen. Sicher ist jede
Niederlage ein Gleichnis, doch die Nachgeborenen dürften sich dafür nur
interessieren, wenn sich der Einsatz trotz aller Vergeblichkeit auch
irgendwie gelohnt hatte und das Ziel der Anstrengung nicht von Anfang
an illusionär war. Die Antwort ist offen. Dass es lohnte, gerade dies
aufzuklären, scheinen jene Umfragen zu bestätigen, nach denen (beinahe
konstant über die Jahre) drei Viertel der Ostdeutschen (und ein Viertel
der Westdeutschen) den Sozialismus bis heute für eine gute Idee halten.
Wie wären die Chancen einer sozialistischen Gesellschaftsalternative zu prüfen?
Die Frage nach den Chancen, die das gescheiterte ostdeutsche
"Gesellschaftsexperiment" hatte, dürfte in den künftigen Debatten um
Reformziele und tragfähige Systemalternativen vor allem in der
politischen Sphäre kontrovers diskutiert werden. Doch die kulturelle
Perspektive sollte darüber nicht vernachlässigt werden und
kulturgeschichtlich könnte solches Nachforschen in drei Richtungen
gehen.
Einmal wäre zu prüfen, ob eine politische Bewegung, die sich dauerhaft
auf die sozialkulturellen Milieus der Arbeiter zu stützen
beabsichtigte, daraus überhaupt die nötigen Antriebe und Kräfte ziehen
und entwickeln konnte, die für einen gesellschaftlichen Umbau der
anvisierten Dimension nötig waren. Für die Kulturgeschichte hieße das,
den Zusammenhang von "Arbeiterkultur" und Arbeiterbewegung näher zu
beleuchten.
Dann wäre spezieller zu fragen, auf welche Weise und wie weit die
politischen Akteure - also jene organisierten Kräfte, die tatsächlich
am Werke waren - die Dimension ihrer selbst gestellten Aufgabe
begriffen hatten und ihr auch subjektiv gewachsen waren. Zu prüfen wäre
also, ob sie die kulturelle Kompetenz für eine solche Unternehmung
besaßen oder mit der Zeit erworben haben. Günter Benser kam zu dem
Ergebnis, dass es nicht nur an den "in vielem ungünstigen, widrigen
Rahmenbedingungen" und der "in vielem gegenläufigen Praxis" gelegen
habe, dass das sozialistische Experiment DDR scheiterte. "Auch die
gedanklichen Vorleistungen reichten nicht aus." (Benser, a.a.O. S. 37)
Die nähere Untersuchung der "Arbeiterbewegungskultur" könnte die
Lernprozesse der Akteure transparent machen und jene Vorgänge ins Licht
rücken, bei denen Erfahrungen gemacht worden sind, die für die Debatten
über sozialistische Zukunftsprojektionen interessant sein dürften.
Und schließlich wäre nach der tatsächlichen Wirksamkeit von Elementen
der Arbeiterkultur in der DDR-Gesellschaft zu fragen und dabei auch
festzustellen, welchen Einfluss sie auf Zuschnitt und Struktur wie auf
Stabilität und Dynamik des Gesellschaftssystems hatten. Ist es
zusammengebrochen, weil eine arbeiterlich geprägte Gesellschaft nicht
lebensfähig sein kann? Kulturgeschichtlich ist das die Frage nach den
Potenzen der Arbeiter- wie der "Arbeiterklassenkulturen". Alles das ist
bei dem gegenwärtigen Stand der Forschung nicht zu entscheiden, doch
lässt er einige problematisierende Überlegungen zu.
Arbeiterinteressen einerseits und politische Arbeiterbewegung andrerseits
Bekanntlich wurde die Abhängigkeit der politischen Arbeiterbewegung von
der tatsächlichen Ausprägung der Arbeiterkultur unter den politischen
Kräften, die sich 1917/18 in Russland durchgesetzt hatten, nach Lenins
"Aprilthesen" nicht mehr diskutiert. Mit diesen Thesen war er 1917 der
prophetischen Warnung seines Lehrers Georgi Plechanows
entgegengetreten, Russland brauche vor einer sozialistischen Revolution
noch hundert Jahre Kapitalismus – dies auch, meinte Plechanow, damit
sich eine wirkliche Arbeiterklasse in Russland erst bilden könne. Aber
während Lenin noch meinte, das bolschewistische Wagnis könne in
Russland (nur) gelingen, weil auch die Arbeiter im kapitalistisch
fortgeschrittene Westen revolutionär siegreich sind, musste der
revolutionäre Flügel der deutschen Arbeiterbewegung nun die
Blickrichtung ändern: von da an galt die Oktoberrevolution den
deutschen Kommunisten als der Beweis für das Dogma von der "siegreichen
Partei der Arbeiterklasse".
Tatsächlich entstand dann nach Stalins Konzept vom möglichen Aufbau des
Sozialismus in einem (unterentwickelten) Lande ein recht spezifischer
Typ von sozialistischer Gesellschaftsorganisation, der aber dann für
das in der Kriegsfolge nach 1945 entstandene "sozialistische Lager"
verbindlich gemacht worden ist. In Ostdeutschland wurden alle
Verfechter eines eigenen deutschen Weges zum Sozialismus ausgeschaltet.
Anton Ackermann war da der erste Prominente bis es schließlich auch
Walter Ulbricht traf, den Breshnew nicht mehr für folgsam genug hielt.
Wegen dieser konzeptionellen wie realen Bindung ist auch der
DDR-Sozialismus folgerichtig mit dem Zusammenbruch des Sowjetsystems
untergegangen. Als die Führung der KPdSU ihre Geschäftsfähigkeit
beendete, hat sie schnell noch ihr ostdeutsches Protektorat
unvorteilhaft abgestoßen. Und ostdeutsche Arbeiter haben kaum den
Versuch gemacht, dieses Ende zu verhindern. Es gab auch keine wirkliche
politische Kraft, die dies hätte durchzusetzen können.
Konnte das überraschen? In der politischen Ideologie der SED (wie ihrer
„Bruderparteien“) hatte die These von der "historischen Mission" der
Klasse die kleinliche Frage, was denn die „realen“ Arbeiter mit der
politischen Bewegung verbindet und welche Kräfte ihr aus deren
sozial-kulturellen Milieus zufließen können, gar nicht mehr zugelassen.
Zwar gab es immer mal wieder einen Funktionärsstreit über die zu
mobilisierende Basis. Generell aber wurde "von oben" her gedacht und im
Realverhalten der Arbeiter voluntaristisch ein Problem der politischen
Bewusstheit und des erreichten Organisationsgrades gesehen – ganz
charakteristisch in dieser Hinsicht war die Verarbeitung der
Arbeiterunruhen um den 17. Juni 1953 durch die SED-Führung.
Im Grunde waren die realen Arbeiter zwar immer irgendwie ein
empirisches Problem, doch grundsätzlich entschied in der politischen
Sphäre die so genannte theoretische Erkenntnis. Es schien einfach
evident zu sein, dass die Abschaffung der kapitalistischen Lohnarbeit
im „objektiven Klasseninteresse“ der Arbeiter liege. Daran zu zweifeln
wäre Häresie gewesen, folgerichtig gab und gibt es auch keine größere
Untersuchung und grundsätzliche Darstellung der Zusammenhänge von
Arbeiterklasse und Arbeiterbewegung in Deutschland, und dies auch nicht
für die Geschichte der DDR-Gesellschaft.
Wie konnte das Verhältnis von Berufs- und Laienkunst zu einem politischen Problem werden?
Vor diesem Hintergrund gesehen hat die in den frühen sechziger Jahren
geführte und heute recht seltsam anmutende Diskussion über das
Verhältnis von Berufs- und Laienkünstlern eine Bedeutung, die nicht auf
den ersten Blick zu erkennen ist. Am Beispiel der künstlerischen
Produktion wurde hier nämlich indirekt aber ganz grundsätzlich nach den
gesellschaftspolitischen Potenzen der Arbeiter gefragt. Diese
Diskussion nahm eine Debatte wieder auf, die am Ende der Zwanziger
Jahre im Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller geführt worden
ist. Damals war es um die Frage gegangen, ob „die sozialistische
Literatur“ von den Arbeitern selbst geschrieben werde - also
vornehmlich von den Arbeiterkorrespondenten der linken Presse und von
den Arbeiterautobiographen. Oder aber – und das war die Gegenposition –
ob sie von jenen ehemals bürgerlichen Literaturspezialisten geschrieben
wird, die sich der revolutionären Bewegung angeschlossen haben. Am
Beispiel literarischer Textproduktion waren damals konträre
Vorstellungen darüber entwickelt worden, wie sozialistische Kultur sich
bilde und wer als ihr Schöpfer anzusehen wären.
Als im Zusammenhang mit dem „Bitterfelder Weg“ der Streit um die Rolle
der Arbeiterkorrespondenten und um die Leistungsfähigkeit der
Laienkunst wieder aufgenommenen wurde, ging es primär nicht um
Kunstfragen. Denn zur Debatte stand damit zugleich, welche Rolle der
„wirkliche Arbeiter“, der nicht in die Politik oder die Funktionseliten
aufgestiegen war, im Herrschaftssystem spielt und worin seine
Beteiligung an der "Planung und Leitung" (nicht nur der Produktion)
bestehen könnte.
Zeitgleich wurde bekanntlich erwogen, ob die Leitung der
sozialistischen Betriebe nicht besser in die Hände der kooperierender
Arbeiterbrigaden, also einer Versammlung der Brigadiere, zu legen wäre.
Weil solche Art der Verbindung von Selbstverwaltung und Planung so ganz
und gar nicht in das in Grundzügen übernommene sowjetische Modell
zentralistischer Planwirtschaft passte, hat Ulbricht nach kurzer
Irritation solche Gedanken schnell als syndikalistische Verirrung
verworfen. Auch an solcher Unsicherheit wird das widersprüchliche
Verhältnis zwischen Partei und Arbeitern sichtbar. Hier manövrierte
sich die politische Elite immer wieder in eine schwierige Lage und war
nicht in der Lage, die systemimmanenten Möglichkeiten einer
„Arbeiterdemokratie“, einer Demokratie der Werktätigen in der
Planwirtschaft zu realisieren.
Das da etwas vertan wurde, scheinen viele zu spüren. Denn wenn die
Mehrheit der Ostdeutschen heute meint, dass die gute sozialistische
Idee in der DDR nur schlecht umgesetzt worden sei, dann steht dahinter
die Überzeugung, dass bei den politischen Akteuren die subjektiven
Voraussetzungen nicht ausgereicht haben, die geschichtlich völlig neue
Herausforderung zu bewältigen, eine ganze Gesellschaft umzubauen und zu
dirigieren. Man mag zugutehalten, dass es für ein solches
revolutionäres Unterfangen keine wirklich brauchbaren Vorbilder gegeben
hatte, und einmal begonnen, war entschlossenes Handeln sicher
entschieden wichtiger als Selbstzweifel. Dennoch ist festzuhalten, dass
nach den eigenen Voraussetzungen für dieses Projekt von den
Funktionären dieser Fraktion der Arbeiterbewegung mehrmals zwar
andeutungsweise, aber nie grundsätzlich gefragt worden ist.
Es soll und kann hier nicht entschieden werden, ob der grundsätzliche
Gesellschaftsumbau überhaupt eine sinnvolle Zielsetzung sein kann. Es
ist aber zu vermuten, dass die eigene Konditionierung für das Vorhaben
nicht ausreichte. Hier könnte man sich dem Urteil der Spezialisten für
ostdeutschen Parteiengeschichte über die im Osten hegemoniale Fraktion
der Arbeiterbewegung anschließen. Auch wissen wir aus eigener
Erfahrung, dass die Führung der SED wenig davon hielt, ihre eigene
Befähigung zum Gegenstand wissenschaftlicher Analysen (heute: einer
Supervision) machen zu lassen. Die Wissenschaften wurden von ihr nicht
als autonome Institutionen verstanden. Sie sollten als
Erkenntnisinstrumente für die Strategie der Partei dienen;
Manöverkritik und Prüfung von Alternativen waren kaum erlaubt.
Nachhaltig prägend für dieses Spannungsverhältnis waren die frühen 50er
Jahre. Als es 1952 überraschend hieß, die Arbeiterklasse wäre nun fähig
und bereit, den Aufbau der Grundlagen des Sozialismus zu beginnen, war
das nicht nur eine Floskel ohne Absicherung, es war - bei allen
Illusionen - auch eine bewusste Unwahrheit. Und nicht nur deshalb, weil
gar keine analytische Arbeit geleistet worden war, sondern weil über
"die Arbeiter" auch von dieser politischen Führung anders gedacht
worden ist. Mit dem 17. Juni 1953 erhielt sie darauf prompt die
Antwort.
Genau betrachtet ist das Verhältnis der deutschen Arbeiterbewegungen zu
"den Arbeitern" von Anfang an recht kompliziert. Und dies mindestens
seit Ferdinand Lassalle („Was wir am meisten hassen ist der Unverstand
der Massen“). In Deutschland hatten wohl alle Abteilungen und
Richtungen der politischen Arbeiterbewegung ein recht negatives Bild
vom kulturellen Zustand der Arbeiter. Neben der immerwährenden Distanz
der (wenigen) Organisierten zu den (vielen) Nichtorganisierten waren es
vor allem die Grundsätze ihrer politischen Ideologie, die sie vom
Alltagsverhalten der Arbeiter trennten. Zu diesen Grundsätzen gehörte
die Überzeugung, dass Arbeiter hart an der Armutsgrenze leben, ihr
Dasein durch zunehmende Verelendung geprägt ist, sie als Arbeiter
keinen Gestaltungsspielraumhaben und sie ihrer eigenen Arbeit
entfremdet sind. Sie bilden nur lokale Arbeiterkulturen, sie denken aus
eigener Anstrengung bestenfalls gewerkschaftlich und ihr politisches
Handeln bleibt spontan. Meinten die einen, der Arbeiter werde durch
Höherbildung zum mündigen Bürger, setzten die anderen dagegen, dass
Arbeiter zur Erkenntnis ihrer Klasseninteressen aus eigener Kraft nicht
gelangen können, Arbeiter sind also allein vermittelt durch ihre
politische Klassenorganisation zum Handeln in eigenem Interesse fähig.
Es soll hier nicht der Realitätsgehalt dieser politischen Ideologien
abgewogen werden. Es kann aber jenseits aller Debatten darüber aber als
sicher angenommen werden, dass politischer Einfluss und
gesellschaftliche Durchsetzungsfähigkeit nichtbesitzender Gruppen und
Schichten tatsächlich von ihrer Vernetzung und Organisiertheit
abhängen. Dies sollte bedacht werden, wenn hier darauf hingewiesen
wird, dass das „Eigene“ der Arbeiter von den Ideologen der
Arbeiterorganisationen nicht gerade hoch veranschlagt worden ist und
sie dies dazu verführt hat, die politische Arbeiterbewegung als eine
Avantgarde zu überhöhen und zu überschätzen. Diese Gefahr war in
Ostdeutschland besonders groß. Nach der Demoralisierung durch die
nationalsozialistische Herrschaft und den Krieg musste sich die relativ
kleine Gruppe der antifaschistischen Aktivisten von KPD und SPD als
eine fortschrittliche Elite im großen Heer der Depravierten, Verführten
und Indifferenten fühlen und schon daraus Entscheidungsberechtigungen
im Interesse aller Arbeiter ableiten.
Aber auch die Kultur der politisch Organisierten wurde damals nicht
hoch veranschlagt. Sie kam eher negativ zur Sprache, als Walter
Ulbricht 1958 auf dem V. Parteitag der SED resümierte und dabei
zunächst hervorhob, dass einige hunderttausend Arbeiter ohne
entsprechende Vorbildung in Führungsfunktionen von Staat und Wirtschaft
aufgestiegen sind, die oftmals nur über so viel Kultur verfügten, wie
ihnen die Arbeiterbewegung hatte geben können. Damit redete Ulbricht
zumindest indirekt von der deutschen Arbeiterbewegungskultur. Nun
sollten die Arbeiter allgemein - und die in Leitungsfunktionen
aufgestiegenen ganz besonders - "auch die Höhen der Kultur stürmen und
von ihnen Besitz ergreifen" (Walter Ulbricht, Der Kampf für den
Frieden, für den Sieg des Sozialismus und für die nationale
Wiedergeburt Deutschlands als friedliebender, demokratischer Staat.
Referat auf dem V. Parteitag der SED, Berlin 1958, S. 120). Mangelnde
Befähigung zur politischen und wirtschaftlichen Führung wurde - mit
Blick auf die mittleren und unteren Funktionäre - als ein kulturelles
Problem gesehen. Walter Ulbricht sprach vom „Zurückbleiben des
subjektiven Faktors" (gegenüber objektiven Anforderungen).
Tatsächlich waren zu dieser Zeit (auch als eine Folge der
Entnazifizierung) bereits in allen gesellschaftlichen Bereichen viele
der Führungspositionen mit Menschen aus bildungsfernen sozialen
Schichten besetzt worden. Es hatte einen massenhafter Aufstieg gegeben,
der in dieser Form durchaus einmalig war und bei dem man wohl von einer
kulturellen Revolution sprechen könnte. Die neu entstehende
Bildungsschicht wie die Funktionseliten setzten sich nun mehrheitlich
aus ehemaligen Arbeitern, Bauern und kleinen Angestellten zusammen, die
bis dahin nicht nur sozial benachteiligt gewesen waren, sondern ihre
Prägung auch in Milieus erfahren hatten, die über keine
Gruppen-Kulturen verfügten, die der Hegemonialkultur der entmachteten
herrschenden Eliten ebenbürtig gewesen wären.
Volkspädagogik als "Kulturrevolution"
Das positive Programm zur Überwindung der schwierigen kulturellen
Situation, in der sich der "Staat der kleinen Leute" befand, wurde dann
in Anlehnung an ein sowjetisches Modell die „sozialistische
Kulturrevolution“ genannt. Es war keine Kopie, denn in Russland ist
etwas anderes unter Kulturrevolution verstanden worden. Für Leo
Trotzki, den Begründer des Konzepts, war das Volksaufklärung mit Hilfe
der modernen Medien (Verdrängung der Kirche durch das Kino). Bogdanows
Organisation "Proletarische Kultur" wollte neu rekrutierten Arbeitern
modernes Produktionsdenken vermitteln und Lenin drängte auf
Alphabetisierung der bäuerlichen Bevölkerungsmehrheit. In
Ostdeutschland stand keine vergleichbare Aufgabe an.
Neben dieser Differenz zur sowjetischen Situation gab es weitere Gründe
für ein anderes Verständnis der „eigenen Kulturrevolution“. Es war vor
allem das Bildungsverständnis der alten Sozialdemokratie der Grund
dafür, dass nun die eigene Kulturhöhe ausgerechnet am Kernbereich
deutscher bürgerlicher Kultur des 19. Jahrhunderts gemessen worden ist:
an ihrem ästhetischen Empfindungs- und Ausdrucksvermögen. Genau dies
meinte Walter Ulbricht, als er auf der ersten Bitterfelder Konferenz
ganz im Geiste der Bildungsideen der alten Sozialdemokratie vor den
versammelten Schriftstellern erklärte: „Wir wollen der Arbeiterklasse,
der herrschenden Klasse, die im Bündnis mit den werktätigen Bauern und
anderen werktätigen Schichten die politische Macht ausübt, helfen, die
Höhen der Kultur zu erstürmen. Wir wollen mit Hilfe der Schriftsteller
und Künstler und der Talente aus dem arbeitenden Volk die Kultur des
neuen Deutschland gestalten, jene Kultur, die ihrer Form nach national
und ihrem Inhalt nach eine sozialistische Kultur ist.“ (Walter
Ulbricht, Fragen der Entwicklung der sozialistischen Literatur und
Kultur. In: Sonntag Nr. 20 v. 17. Mai 1959, S. 9.)
War es bei den sowjetrussischen Konzepten von Kulturrevolution um
elementare Aufgaben „nachholender Modernisierung“ gegangen - im Kern um
die Alphabetisierung der bäuerlichen Massen - sollte es bei den
ostdeutschen Arbeitern und Arbeiterfunktionären um die Hebung des
Kunstverstandes gehen. An dieser Fixierung auf die Künste hat sicher
die bis 1933 ständig expandierende Arbeiterkulturbewegung ihren Anteil.
Sicher war es auch der für viele autodidaktische Aufsteiger
charakteristischen Bildungsehrfurcht geschuldet, dass kein
Arbeiterfunktionär an den veredelnden Wirkungen der Kunst zu zweifeln
wagte. Es muss dennoch erstaunen, dass eine ganze politische Führung
sich nun immer wieder in Kunstdebatten verstrickte. Die sogenannte
Formalismus-Debatte anfangs der 50er Jahre war nur einer der vielen
Höhepunkte dieser bemerkenswerten Neigung. Offenbar wurde ernsthaft
angenommen, dass ausgerechnet jene Künste, die ihre Blüte als
Diskursmedien des Bildungsbürgertums erlebt hatten, nun gleichermaßen
als Medien für das geistige Leben des modernen Industrieproletariats
tauglich sein könnten. Ein Irrtum mit negativen kulturpolitischen
Folgen. Dennoch bleibt festzuhalten, dass diese Politiker die Künste
tatsächlich als eine gesellschaftliche Macht gesehen haben, und damit
als Chance und Gefahr zugleich.
Arbeiterfunktionären mag man einschichtige Kunstvorstellungen
zubilligen, wenn sich aber ein einflussreicher Kulturpolitiker und
Kulturwissenschaftler wie der bereits zitierte Hans Koch 1959 geradezu
hymnisch über die veredelnde Wirkung von Kunst auf Arbeiter äußert,
dann kann eine solche Annahme wohl nur auf der völligen
Ahnungslosigkeit darüber beruhen, wie in Arbeitermilieus gelebt und
gedacht wird. In gründlicher Verkennung der Arbeiterkultur - vom
modernen Produktionsdenken über massenkulturellen Umgang bis zur
urbanen Lebensweise - fragte er nämlich, was sich wohl ereigne, wenn
ein Arbeiter den Faust lese, eine Brigade in die Oper gehe, in der
Arbeitersiedlung ein Händel-Konzert geboten werde, junge Werktätige
eine Agitpropgruppe bildeten, wenn ein Arbeiter sein erstes Gedicht
schriebe. Und antwortet selbst: in Einzelschicksalen „prägt sich das
Antlitz der neuen herrschenden Klasse, die aus dem einstmals
unterdrückten und ausgebeuteten, von der Kultur ausgeschlossenen
Proletariat hervorging, vollständig aus. Damit erst wird die
Arbeiterklasse vollständig zum Herren der gesellschaftlichen
Entwicklung, vollzieht sie vollständig ihre historische Mission: als
die historisch letzte Klasse alles Gute und Edle, alles Große und
Schöne der ganzen Menschheitsgeschichte in sich aufzunehmen, an ihm
sich selbst zu bereichern und es, bereichert um ihre eigenen
Erfahrungen und Leistungen, der klassenlosen Gesellschaft
entgegenzutragen.“ (Hans Koch, ebenda, S. 34)
Soziale Sicherheit und bescheidene kulturelle Differenzierung
Die große Distanz zwischen diesem Hymnus und der gesellschaftlichen
Realität wird offenbar, wenn man die damalige Lage der ostdeutschen
Arbeitermilieus denkt. Sie waren nach schweren Kriegsschäden durch
radikale Reparationsleistungen und anhaltende Kriegsgefangenschaft im
Kern beschädigt. Die historisch entstandene Arbeiterkultur war
geschwächt, verzerrt oder ganz beseitigt worden. Neben den
depravierenden Wirkungen von Faschismus und Krieg war das die nun
folgende Einbindung ihrer einst tragenden Kräfte in den
Gesellschaftsaufbau. Was da von der großen Arbeiterbewegung noch übrig
war, bildete sich nun zum Staat um. Die enorme Rekrutierungs- und
Aufstiegsmobilität hatte den Arbeitermilieus bald so gut wie alle ihrer
organisierten Kräfte entzogen.
Die Träger der Arbeiterbewegungskultur wurden dringend in leitenden
Funktionen benötigt und gerieten dabei in andere kommunikative
Strukturen. Diese Aufgestiegenen bildeten relativ schnell eigene
sozial-kulturelle Milieus mit eigenen kommunikativen Netzen, eigenen
Sprachen und Wertvorstellungen. Sie blieben allerdings in vielen
Äußerlichkeiten, in der Denkweise und in ihren Ansichten noch stark mit
den Herkunftsmilieus verbunden. Vor allem, weil sie sich als Aufsteiger
nicht an ein bereits kulturell ausgeformtes Milieu anpassen mussten,
sondern dort mehrheitlich ihresgleichen vorfanden. Auch dies war ein
mögliches Motiv, sich am zweifelsfrei Wertvollen, an den propagierten
bürgerlichen Kulturwerten zu orientieren. Allerdings bleibt auch zu
bedenken, dass die Interessenlage bei diesen professionellen Vertretern
der Arbeiterinteressen nun deutlich anders war als in ihrem
Herkunftsmilieu. Und dieses Milieu der gehobenen Funktionärsschicht
stabilisierte sich mit den Jahren auch kulturell. Günter Benser hat als
ihr Kenner viele Hinweise dazu gegeben, aber eine Analyse der
Wertvorstellungen, Denkweisen, Vorurteile usw. dieser hegemonialen
"Teilkultur" steht noch aus.
Allerdings: sie blieben dabei doch weitgehend „arbeiterlich“, die
ausgebildete Distanz zum Alltag der „übrigen Werktätigen“ war weit
geringer als der Abstand der Besitz- und Bildungsbürger zu den
handarbeitenden Gruppen. Doch entscheidender für den "arbeiterlichen"
Charakter der ostdeutschen Gesellschaft war die Besser- und
Sicherstellung der Arbeiter durch weitgehende Beseitigung aller Formen
des Privatbesitzes, aus denen Einkünfte jenseits eigener Hände Arbeit
zufließen. Damit war die Beseitigung der großen sozialen Gegensätze und
eine Vergütungspolitik verbunden, in deren Praxis die Unterschiede
zwischen den "Werktätigen" möglichst klein gehalten wurden. Mit dieser
grundsätzlichen Veränderung wurden zweifellos arbeiterliche
Vorstellungen von Gerechtigkeit durchgesetzt und Anliegen des
"Arbeiterbewegungssozialismus" verwirklicht.
Das hatte länger anhaltende Wirkung. Nachweislich sind sich die
Ostdeutschen über die Jahre in vielen Positionen recht ähnlich
geworden. In Arbeitsbewertung, Zeitrhythmus, Versorgung, Wohnweise,
Familientyp, Gesellungsformen, Kunstauffassung, Sprache und Habitus
haben sich bei ihnen arbeiterliche Tendenzen durchgesetzt. In
sozialistischer Perspektive kann der erreichte Grad an Egalität nur
positiv bewertet werden. Auch angesichts der heute weiter wachsenden
Unterschiede zwischen Reichen und Armen liegt das sehr nahe. Und dies
nicht nur vordergründig. Denn wenn nach Alternativen zur
Konkurrenzgesellschaft gesucht wird, dürfte solche Egalität,
ausgerichtet am Anspruchsniveau arbeitender Menschen, wieder ein Thema
sein.
Es müsste selbstverständlich gleichfalls bedacht werden, ob in der
damit verbundenen Tendenz zu kultureller Homogenisierung nicht eine
Ursache für das Verschwinden dieses Gesellschaftstyps liegt, der allen
Menschen gleiche Chancen geben sollte. Denn in dieser sozialkulturellen
Absicht vor allem hat er seine Mittel eingesetzt und dabei über die
Verhältnisse gelebt. Schon zehn Milliarden Dollar Schulden im Westen
brachten ihn ins Wanken. Wohl ungenügend wurde mit diesem sozialen
Egalisierungskonzept der auch in der ostdeutschen Gesellschaft
anhaltenden Tendenz zu kultureller Differenzierung entsprochen. Die
Pflege kultureller Eigenheiten der sozialen Gruppen und Milieus wie der
einzelnen Menschen wurde mit den Jahren zwar immer weniger behindert,
sie wurde aber auch nicht stimuliert und kaum als Entwicklungsfaktor
verstanden. Dass diese Mängel zu den inneren Ursachen seiner Schwäche
gehören, ist zu vermuten.
Allerdings ist es im Osten nicht sehr populär, das Scheitern der DDR
auf kulturelle Defizite zurückzuführen, allzu gern werden gerade die
Pflege und die Demokratisierung bürgerlichen Kulturguts wie die
Wertschätzung der Künste als ihre eigentliche Stärke angeführt. Das hat
einen realen Hintergrund. Die mit dem „Bitterfelder Weg“ versuchte
Verbindung der Arbeiter mit den traditionellen Künsten erwies sich zwar
als wenig gangbar. Doch die damit zugleich eingeleitete Hinwendung zu
den kulturellen Bedürfnissen der arbeitenden Menschen aller Schichten
war moderne Kulturpolitik. Die reale Folge war ein System kultureller
Versorgung, das alle sozialen Gruppen und Schichten ebenso erreichte,
wie es überkommene Unterschiede zwischen Stadt und Dorf, zwischen
industriellen und ländlichen Regionen abbaute. Das ist inzwischen
Geschichte, auf die vor allem Angehörige der älteren Generationen der
ostdeutschen Bildungsschicht wehmutsvoll zurückblicken, sahen viele
doch gerade darin ihre Lebensleistung.
So scheint denn das kulturelle Großprojekt "Bitterfelder Weg" wohl doch
Erfolg versprechend an der richtigen Stelle angesetzt zu haben: im
Arbeitsalltag der wirklichen Arbeiterinnen und Arbeiter. Dieser
Versuch, Arbeit und Kunst zu versöhnen, spricht - bei aller Verkennung
des real Möglichen und bei allen Missgriffen im Umgang mit den Künsten
– mindestens für den hohen kulturellen Anspruch des gescheiterten
sozialistischen Projekts. Nachwirkungen werden noch heute von der
Meinungsforschung und in Studien zur Mentalität der Deutschen
ausgewiesen: bei Übereinstimmung in vielen Werten legen Westdeutsche
einen stärkeren Akzent auf wirtschaftliche Aspekte, für Ostdeutsche
dagegen hat das Kulturelle eine höhere Geltung.
Vier vorläufig abschließende Sätze
Offenbar hat es eine geschichtliche Phase gegeben, in der die
industrielle städtische Arbeiterklasse der fortgeschrittenen
kapitalistischen Länder die Chance hatte, die Staatsmacht (vielleicht
sogar demokratisch) zu majorisieren und die Gesellschaften dieser
Länder in einem sozialistischen Sinne umzugestalten. Die historischen
Konstellationen führten nur im sowjetischen Machtbereich dazu. Darum
ist auch nur hier und zu diesem Zeitpunkt - so meine Vermutung - belegt
worden, dass weder der kulturelle Horizont der Arbeitermilieus noch die
Kulturvorstellungen der daraus hervorgegangenen Arbeiterbewegungen
ausgereicht haben, die kulturelle Ausdifferenzierung der modernen
industriellen Gesellschaften zu begreifen und angemessen zu handeln.
Das minderte ihre Potenzen beträchtlich und wurde vollends zum
Verhängnis, als kulturelle Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit
weltweit als produktive Kräfte immer gewichtiger geworden waren.
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