Text | Kulturation 1/2003 | Irene Dölling | Geschlechtervertrag und Geschlechterarrangements in den neuen Bundesländern[1]
| Im
Rückblick auf mehr als 10 Jahre deutsche Einheit wird deutlich, was am
Beginn weder von Politikern noch von (Sozial-) Wissenschaftlern so klar
gesehen wurde: die für die neuen Länder unter dem Stichwort der
„nachholenden Modernisierung“ prognostizierte und in Gang gesetzte
Transformation ist nicht als schlichte Adaptation an Strukturen und
Institutionen der „alten“ Bundesrepublik zu verstehen. Vielmehr ist sie
in ihrer Dynamik und Richtung zunehmend durch Umbrüche und Prozesse des
Umbaus im Organisationsgefüge moderner Gesellschaften gekennzeichnet,
die in der Soziologie unter „zweiter“ oder „reflexiver“ Moderne bzw.
Modernisierung firmieren. Es liegt auf der Hand, dass in diesen
Umbauprozessen bisherige Formen sozialer Regulierung und Steuerung
tendenziell dysfunktional werden und dass dies auch die
Geschlechterarrangements betrifft. Bisherige Institutionalisierungen
des modernen (hierarchischen) Geschlechterverhältnisses geraten in
„Unordnung“ und erscheinen gemessen an den sich abzeichnenden
Entwicklungen als „veraltet“: bislang geläufige Trennlinien zwischen
öffentlich und privat werden aufgebrochen, die Erosion des sogenannten
„Normalarbeitsverhältnisses“ untergräbt die „männliche Ernährerrolle“
und damit verknüpfte familien- und steuerrechtliche Regelungen, mit der
wachsenden Zahl von Alleinerziehenden wie von Singles wird das
normative und institutionalisierte Modell der geschlechtsspezifischen
Teilungen zwischen „produktiven“ und „reproduktiven“ Bereichen und
Tätigkeiten fragwürdig usw.[2] Wie die re-strukturierten
Geschlechterverhältnisse als Ergebnis des Umbaus moderner
Gesellschaften aussehen werden - ob sich die Geschlechterarrangements
durch (mehr) Gerechtigkeit und Chancengleichheit auszeichnen oder die
In- und Exklusionen entlang der Geschlechterlinie eher verstärkt
werden[3] bzw. ganz neue Formierungen des Geschlechterverhältnisses
entstehen, ist m.E. derzeit kaum definitiv zu sagen - eben weil wir
erst am Anfang dieser Umbrüche stehen. Für eine sozialwissenschaftliche
Beobachtung und Analyse dieser Umbrüche aus einer genderkritischen
Perspektive ist aber auf jeden Fall notwendig, die unterschiedlichen
Bedingungen in den alten und neuen Bundesländern, nicht zuletzt in
bezug auf Geschlechterarrangements zur Kenntnis zu nehmen. Das wiederum
hat zwei Dimensionen: neben dem empirisch gesättigten Wissen um die
feststellbaren Unterschiede, die ohne den Prozess ihres historischen
Werdens in zwei unterschiedlichen Gesellschaftssystemen nicht
angemessen zu erklären sind, ist auch ein gesellschaftstheoretisch
fundiertes Verständnis des Geschlechterverhältnisses in der
kapitalistischen wie sozialistischen Variante moderner Gesellschaften
notwendig. In meinem Vortrag möchte ich auf diese beiden Dimensionen eingehen. Ich werde
- Erstens auf Veränderungen/Modifikationen in der Situation von
ostdeutschen Frauen bzw. allgemeiner von in Ostdeutschland
praktizierten Geschlechterarrangements eingehen, die sich als Resultat
der Transformationen nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten
ausmachen lassen. Meine Frage ist, welche ambivalenten Wirkungen diese
Geschlechterarrangements im veränderten gesellschaftlichen Kontext,
insbesondere im Kontext der Umbauprozesse moderner Gesellschaften
haben. Ich gehe dabei von der These aus, dass die Besonderheiten
ostdeutscher Geschlechterarrangements ganz entscheidend aus dem
Weiterwirken des Geschlechtervertrages der DDR herrühren. -
Zweitens möchte ich deshalb versuchen, das Geschlechterverhältnis der
realsozialistischen DDR, den darauf gründenden Geschlechtervertrag bzw.
seine Institutionalisierungen gesellschaftstheoretisch zu umreißen. Ich
denke, dass dies notwendig ist, um über sozialwissenschaftlich wenig
befriedigende Feststellungen wie „Es war ja nicht alles schlecht in der
DDR“ oder aber: „Das Patriarchat gab es auch im Sozialismus“
hinauszukommen. I. „Wer sich nicht
wehrt, kommt an den Herd“ – das war eine der Losungen, mit denen die
rasch entstandene ostdeutsche Frauenbewegung in der „Wende-Zeit“
(Herbst 1989) bekannt wurde. Zu diesem Zeitpunkt war diese Losung vor
allem eine Antwort auf die deutlich beobachtbaren Tendenzen in der
politischen Arena, Frauen und die Veränderung von
Geschlechterverhältnissen bei den damals noch angestrebten Reformen und
Umgestaltungen der DDR außer acht zu lassen. Schon bald zeigte sich,
dass diese Losung nicht nur auf Gefahren eines politisches Ausschlusses
von Frauen hinwies, sondern auf Exklusionen aus Bereichen bzw. auf
Veränderungen von Lebensbedingungen, die bis dahin selbstverständlich
für DDR-Frauen waren: Arbeitslosigkeit, die Schließung von
betrieblichen Einrichtungen zur Kinderbetreuung und der Wegfall anderer
Bedingungen zur Vereinbarung von Beruf und Familie, die explizite
Zweitrangigkeit von Frauen auf dem Arbeitsmarkt u.a. gehörten schon
seit Ende 1989 zu den neuen Erfahrungen von Frauen. Nach der
politischen Vereinigung kamen hinzu: der Wegfall bisheriger
sozialpolitischer Maßnahmen zur Subventionierung z.B. von
Kinderbetreuungseinrichtungen, die Übernahme einer Rechtsprechung und
eines sozialstaatlichen Regimes, denen das (modernisierte) Modell der
Ernährer-Hausfrau-Familie zugrunde liegt, die zunächst aufgeschobene,
aber absehbare Einschränkung des Rechts auf Abtreibung ohne
Vorbedingungen, die Bezahlung von Kontrazeptiva u.a.. Je mehr die
Frauenbewegung an politischem Einfluss verlor und der Enthusiasmus der
ersten Phase verloren ging, je mehr sich die negativen Seiten des
Übergangs in die Marktwirtschaft für die bisherigen Lebenszusammenhänge
von Frauen zeigten, desto mehr rückte die Losung von den Frauen als den
Verliererinnen der deutschen Einheit in den Vordergrund. Auch wenn die
neuen gesellschaftlichen Verhältnisse durchaus auch neue
Handlungsmöglichkeiten für Frauen (z.B. im politischen Raum)
eröffneten, brachte diese Losung doch anschaulich auf den Begriff, dass
für die neuen gesellschaftlichen Bedingungen und Strukturen
Geschlechterregime und -arrangements kennzeichnend sind, die auf andere
und sozial stärker hierarchisierende und benachteiligende Weise für
Frauen wirken, als dies in der „realsozialistischen“ DDR der Fall war.
Sie brachte auf anschauliche Weise zum Ausdruck, dass mit dem Übergang
in die moderne Gesellschaft kapitalistischen Typs die
Geschlechterdifferenz stärker als in der DDR als Faktor sozialer
Differenzierung wirkt und die Zugehörigkeit zu einer Genusgruppe auf
eine bis dahin unbekannte bzw. vergessene Weise bedeutsam für die
Wahrnehmung sozialer Chancen und für die Realisierung von
Lebensansprüchen und -plänen ist. Andererseits aber machte diese Losung
Frauen insgesamt als Gruppe zu Opfern und verdeckte die wachsenden
sozialen Differenzierungen unter Frauen auch in Ostdeutschland, die
gemeinhin als Zeichen von „Individualisierung“ gelesen werden. Am
massivsten haben die ostdeutschen Frauen die neuartige Weise ihrer
Diskriminierung wie auch ihre wachsende soziale Differenzierung seit
1990 auf dem Arbeitsmarkt erfahren[4]. Ein Blick auf die
Entwicklungen des ostdeutschen Arbeitsmarktes seit der Vereinigung
zeigt sowohl geschlechtsneutrale als auch ausgeprägt
geschlechtsspezifische Tendenzen. Eher geschlechtsneutral ist die
Erfahrung von Arbeitslosigkeit. Wie schon der „Sozialreport 1996“
feststellt, ist seit 1990 „Arbeitslosigkeit (...) für über die Hälfte
aller Bürger zwischen 18 und 60 Jahren in den neuen Bundesländern
bereits zur eigenen Erfahrung geworden“ (Winkler, 1996: 24) – die
Situation hat sich seither kaum zum Positiven verändert. Auch das
Entlassungsrisiko ist für Frauen nicht größer als für Männer - es
gingen nicht mehr Frauen- als Männerarbeitsplätze verloren.
Geschlechtsspezifisch dagegen ist die Chance, wieder eine Beschäftigung
zu finden. Die Statistiken weisen seit 1990 deutliche
geschlechtsspezifische Unterschiede bezüglich Arbeitslosigkeit und
Wiederbeschäftigung auf. Kontinuierlich stellen Frauen einen
überproportional hohen Anteil an den Arbeitslosen, sie sind weitaus
häufiger als Männer langzeitarbeitslos und sie haben geringere Chancen,
ein Angebot auf Umschulung bzw. für einen Job auf dem zweiten
Arbeitsmarkt zu bekommen. Hierzu stichwortartig einige Daten:
- Die Arbeitslosenstruktur im Vergleich Ost – West bzw. Männer- Frauen
(1996) weist aus: eine höhere Arbeitslosenquote im Osten; Frauen im
Osten haben eine höhere Erwerbsquote als Frauen im Westen (allerdings:
die Quote der tatsächlich beschäftigten ostdeutschen Frauen ist
mittlerweile unter die der alten Bundesländer gesunken) - Es gab
eine Entwertung der beruflichen Qualifikationen (vor allem
Facharbeiter), weil ganze Industrien verschwanden bzw. weil sie nicht
kompatibel zu bundesdeutschen Qualifikationen und Zertifikaten waren
(vor allem im Bereich Erziehung/Kinderbetreuung); es gab Entwertung der
beruflichen Erfahrungen einer ganzen Altersgruppe: diejenigen, die 1990
zwischen Ende vierzig und Ende fünfzig waren, wurden arbeitslos oder in
den vorzeitigen Ruhestand gedrängt (auch hier waren Frauen
überproportional betroffen) - Der Umbau der ostdeutschen Wirtschaft
hat zu einer Umverteilung von Frauen auf die verschiedenen
Wirtschaftssektoren geführt die Zahl der in der Industrieproduktion
beschäftigten Frauen ist stark zurückgegangen – sie sind heute stärker
in Dienstleistungsbereichen wie Handel, Gastgewerbe, Verkehr, als
mithelfende Angehörige in Familienunternehmen oder als
(Schein-)Selbständige tätig. - Neben Tendenzen, Frauen aus
bestimmten Branchen zu verdrängen bzw. auch bisher frauentypische
Beschäftigungsfelder stärker für Männer zu öffnen (vgl. Nickel/Schenk
1994) ist unübersehbar, dass (neue) Arbeitsmöglichkeiten für Frauen vor
allem Teilzeitjobs sind. - Geschlechtsspezifisch ist auch, dass
berufliche Qualifikation bzw. das Niveau beruflicher Qualifikation für
ostdeutsche Frauen das entscheidende Kriterium dafür sind, erwerbstätig
zu bleiben (vgl. Schenk 1995b, Nickel 1997). Zur
Überraschung von SoziologInnen hat die konkrete Familiensituation
(Familienphase, Anzahl und Alter der Kinder) relativ wenig
Erklärungskraft für die Erwerbsintegration ostdeutscher Frauen: die
markante Differenzierungslinie ist das Qualifikationsniveau und
–potential der Frauen. Während die Erwerbsintegration von Männern
relativ unabhängig von ihrer beruflichen Ausbildung ist, hängt sie für
Frauen entscheidend von ihrer Qualifikation ab. Nickel/Hüning
konstatieren in einem aktuellen Aufsatz: „Es lässt sich eine
qualifikationsspezifische Verdrängung von Frauen aus dem ostdeutschen
Arbeitsmarkt konstatieren, die vornehmlich unter Frauen ausgetragen
wird. Sie hat den Effekt, dass un- und angelernte Frauen und Frauen mit
einem Facharbeiterabschluss die schlechtesten Karten im
Verteilungskampf um Erwerbsarbeit haben...“ (Nickel/Hüning 2001, 32).
Untersuchungen zum Erwerbsstatus von Paaren zeigen, dass Paare, bei
denen beide Partner eine hohe berufliche (in der Regel akademische)
Qualifikation haben, am erfolgreichsten am Doppel-Verdiener-Modell
festhalten konnten, während Frauen mit Facharbeiterabschluss deutlich
unterrepräsentiert sind sowohl bei den vollzeit- wie bei den
teilzeitbeschäftigten Frauen (vgl. Bericht der Zukunftskommission der
Friedrich-Ebert-Stiftung 1998). Die beobachtbare Ausdifferenzierung im
Lebensstandard von Haushalten hat entscheidende Ursachen in den
Beschäftigungschancen von unterschiedlich qualifizierten Gruppen von
Frauen. (Anders formuliert: die Erwerbsintegration von Frauen wird im
Osten zum entscheidenden Kriterium für stabile soziale Lagen von
Familien, da die Männer in der Regel keine Einkommen haben, mit denen
eine Familie ernährt werden kann). Das bedeutet auch, dass sich die
Positionen von Frauen innerhalb ihrer Familien/Haushalte
ausdifferenzieren - unter anderem bedingt durch ihren Beitrag zum
Haushaltseinkommen. Bislang allerdings tragen ostdeutsche Frauen im
Durchschnitt immer noch - wie zu DDR-Zeiten - ca. 43% zum
Haushaltseinkommen bei und immer noch - wenn auch zahlenmäßig
zurückgegangen - sind in der Mehrzahl der Haushalte beide Partner
vollzeitbeschäftigt (vgl. ebd.: 322). Zu den bemerkenswerten
Phänomenen des Transformationsprozesses zählt zweifelsohne das
Festhalten der ostdeutschen Frauen an dem in der DDR praktizierten
Modell der Vereinbarung von (Vollzeit)-Erwerbsarbeit und Familie[5].
Als „Eigensinn“ ostdeutscher Frauen oder auch als „ungebrochene
Erwerbsneigung“ [6] ist dieses Phänomen in den Medien wie in der
soziologischen Literatur beschrieben worden. Im Gegensatz zu Annahmen
in der „Wende-Zeit“, dass Erwerbstätigkeit von den Frauen in der DDR
vor allem als staatlich verordneter Zwang erfahren und bewertet wurde
und die Mehrzahl von ihnen schnell und freiwillig die „Doppelbelastung“
aufgeben würde, zeigen die Statistiken über die Jahre einen unverändert
hohen Wunsch ostdeutscher Frauen (vollzeit)-erwerbstätig zu sein bzw.
zu bleiben (vgl. Winkler 1996: 20). Bis heute ist für die übergroße
Mehrheit ostdeutscher Frauen (Vollzeit-) Erwerbsarbeit ein fester
Bestandteil ihrer Lebensplanung. Die Gründe, die ostdeutsche Frauen
haben, an diesen Plänen auch unter den veränderten Bedingungen
festzuhalten, sind selbstverständlich sehr komplex. Materielle Faktoren
sollten dabei nicht unterschätzt werden - Gehälter und Löhne sind
wesentlich niedriger als in Westdeutschland (je nach Branche 10 bis
35%), so dass eine Familie in Ostdeutschland selten mit nur einem
Einkommen ihren Lebensstandard erhalten bzw. verbessern kann. Reale
ökonomische Notwendigkeiten sind allerdings eng verknüpft mit einer von
der Mehrzahl ostdeutscher Frauen (und Männer) internalisierten Norm der
(Vollzeit-)Erwerbstätigkeit von Frauen und der Vereinbarkeit von Beruf
und Familie. Diese normative Selbstverständlichkeit prägt bis heute das
Selbstbild vieler ostdeutscher Frauen und wird auch mehrheitlich von
den ostdeutschen Männern akzeptiert. Wichtiger noch: Selbstbild
ostdeutscher Frauen und weibliche Lebensverläufe sind Ausdruck eines
für die DDR charakteristischen „Geschlechtervertrages“, der – als
habituell verankerte longue durée - bis in die Gegenwart wirksam ist.
Mit dem Terminus „Geschlechtervertrag“ wird in der Soziologie
umschrieben, dass es „in allen modernen Gesellschaften einen historisch
gewachsenen sozio-kulturellen Konsens über die jeweilige Ausprägung der
Verkehrsformen der Geschlechter, ein gemeinsam von Männern und Frauen
getragenes Leitbild und Lebensmuster über die ‘richtige’ Form der
geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, die Familienform und die Art
und Weise der Integration der beiden Geschlechter in die Gesellschaft
über den Arbeitsmarkt und/oder über die Familie gibt“ (Schenk 1995a:
478). Der Geschlechtervertrag, der in der DDR praktiziert und
institutionalisiert wurde, gründet auf dem Doppel-Verdiener-Modell.
D.h. für beide Geschlechter gilt, dass die Integration in die
Gesellschaft primär durch die Beteiligung am Erwerbssystem hergestellt
wird. Dieser Geschlechtervertrag hat in der DDR zu
Geschlechterarrangements geführt, die durch das Verschwinden der
männlichen Ernährerrolle, durch die tendenzielle ökonomische
Selbständigkeit der Frauen und ihre entsprechend starke Position in der
Familie, sowie durch eine staatliche Verantwortung für Kinderbetreuung
gekennzeichnet ist. Obwohl das Doppel-Verdiener-Modell in
Ostdeutschland seit 1990 erodierte, halten ostdeutsche Frauen (und
Männer) bis heute an den darauf gegründeten Geschlechterarrangements
fest. Zwar kann bei den jüngeren Alterskohorten ein Ansteigen der Zahl
von Männern festgestellt werden, die - zumindest solange kleine Kinder
im Haushalt sind - für die Nichterwerbstätigkeit der Frau plädieren.
Auch der Anteil der Frauen, die unter diesen Voraussetzungen nur einer
Teilzeitarbeit nachgehen möchten, steigt an – nicht zuletzt auf Grund
der schlechten Arbeitsmarktlage (vgl. Keiser 1997: 219-222). Dennoch
sieht auch in diesen Altersgruppen wie in den älteren Jahrgängen die
Mehrheit der Männer und Frauen (Vollzeit-)Erwerbsarbeit von Frauen als
selbstverständlich an. Allerdings ist zu beachten, dass dieser
DDR-typische Geschlechtervertrag immer auch die Hauptverantwortung der
Frauen für die Hausarbeit und die Erziehung der Kinder einschloss und
die große Mehrzahl der ostdeutschen Frauen diese Norm auch
verinnerlicht hatte. Die auch diesem Geschlechtervertrag
zugrundeliegende strukturelle Trennung von Produktion und Reproduktion
und die damit verbundene Norm der Vereinbarung von Beruf und Familie
für Frauen stellt ein wichtiges „Anschlussstück“ an den westdeutschen
Geschlechtervertrag mit seinen vergleichsweise stärker hierarchischen
Geschlechterarrangements dar. Es ist davon auszugehen, dass der aus der
DDR überkommene Geschlechtervertrag auch auf absehbare Zeit
mehrheitlich von ostdeutschen Männern und Frauen praktiziert wird.
Weder ist eine Rückkehr zum - zunehmend veraltenden, traditionellen -
Ernährer-Hausfrau-Modell auch in Ostdeutschland sehr wahrscheinlich,
noch die Durchsetzung seiner „modernisierten“ Variante (männlicher
Ernährer/“Hauptverdiener“ - teilzeitarbeitende, „dazuverdienende“
Hausfrau). Das nicht zuletzt deshalb, weil in Ostdeutschland die
Transformation ökonomisch von Anbeginn an unter dem Zeichen des
„entfesselten“, neoliberalen Kapitalismus stand. In Ostdeutschland ist
heute bereits eine Flexibilisierung von Arbeitsverträgen, Arbeitsformen
und Arbeitszeiten erreicht, die als „zukunftsweisend“ im Sinne einer
neoliberalen Deregulierung und eines Abbaus des Sozialstaates angesehen
wird. So wird in vielen privaten Unternehmen Ostdeutschlands
heute schon nicht mehr nach dem zwischen Arbeitgeberverbänden und
Gewerkschaften ausgehandelten Branchentarif bezahlt. So gibt es für den
öffentlichen Dienst spezielle Klauseln, die bis Ende 2000 den Abschluss
von Tarifverträgen ermöglichten, die für ganze Berufsgruppen die (z. T.
unbezahlte) Absenkung ihrer Wochenarbeitszeit aus Gründen einer
„sozialen Umverteilung von Arbeit“ bedeuten (vgl. Kühnlein 1997: 32).
Zudem werden in Ostdeutschland weniger Verbeamtungen vorgenommen, was
wiederum die Einrichtung von Einstellungskorridoren mit zwangsweiser
Verkürzung von Arbeitszeit und Gehalt für die Angestellten einschließt
(vgl. ebd.: 114). Mit der Privatisierung von vormals öffentlichen
Dienstleistungen ist oftmals die Entstehung von tariflich
unterbezahlten, wenig gesicherten und/oder Teilzeitjobs verbunden. Der
große Verlust von Arbeitsplätzen im primären und sekundären Sektor der
Wirtschaft hat rasch zum Entstehen eines tertiären Sektors geführt
(non-profit, ABM-Maßnahmen), für den die bisherigen Standards von
„Normalarbeitsverhältnissen“ nur noch bedingt gelten. Diese
Entwicklungen wirken sowohl geschlechtsneutral als auch
geschlechtsspezifisch. Sie sind u.a. mit dem Terminus „Feminisierung
der Erwerbsarbeit“ beschrieben worden, um anzuzeigen, dass unter diesen
Bedingungen das „Normalarbeitsverhältnis“ auch für Männer immer weniger
gilt. Es ist eine spannende und derzeit kaum beantwortbare Frage, ob
und wie der überkommene und bislang praktizierte Geschlechtervertrag
aus der DDR diese Entwicklungen beeinflusst. Ostdeutsche Frauen üben
mit ihrem Festhalten an der vollzeitlichen Erwerbsarbeit einen starken
Druck auf den Arbeitsmarkt aus. Vermittelt darüber tragen sie auch dazu
bei, dass Kindereinrichtungen mit entsprechenden Öffnungszeiten
erhalten bleiben. Die Vorstöße in Ländern wie Brandenburg und
Sachsen-Anhalt, das Kita-Gesetz zu novellieren, d.h. tendenziell
westdeutschen Bedingungen und Standards anzupassen, machen es
ostdeutschen Frauen schwerer, an ihren Lebensplänen festzuhalten. Offen
ist auch, ob die „Erwerbsneigung“ ostdeutscher Frauen unter diesen
Bedingungen weiterhin „ungebrochen“ bleibt und vor allem die Ausweitung
von (schlecht bezahlten, ungesicherten) Teilzeitjobs in Ostdeutschland
auf Dauer verhindern kann. Offen ist, ob die auf dem
Doppel-Verdiener-Modell beruhenden Geschlechterarrangements Tendenzen
in Richtung auf eine mehr geschlechterneutrale Verteilung von „knapper“
Arbeit stärken können. Die Tatsache, dass - im Unterschied zu den alten
Ländern - der Arbeitsmarkt in Ostdeutschland nicht eine
geschlechterspezifische Aufspaltung in männliche, qualifizierte
Vollzeitarbeit einerseits und weibliche, un- oder niedrig qualifizierte
Teilzeitarbeit gekennzeichnet ist, könnte sich als vorteilhaft für die
Neuordnung des Arbeitsmarktes und für die Entwicklung neuer
Beschäftigungsverhältnisse erweisen. Schwer zu beantworten ist derzeit
auch die Frage, ob und wie die eher „flachen“ Geschlechterhierarchien
der praktizierten ostdeutschen Geschlechterarrangements betriebliche
Rationalisierungsmaßnahmen und die Einführung neuer Formen der
Arbeitsorganisation beeinflussen. Die Frage ist, ob sie ein günstiger
Faktor dafür sein können, dass z.B. die angestrebten „flachen
Hierarchien“ in betrieblichen Arbeitsabläufen oder in der öffentlichen
Verwaltung auch zum Abbau oder zur Minimierung von bisher gängigen
hierarchischen Arbeitsteilungen entlang der Geschlechterdifferenz
führen. Ein Automatismus besteht hier jedenfalls nicht – schon deshalb,
weil betriebliche Hierarchien und Hierarchien qua Geschlecht differente
Machtverhältnisse sind. Fazit: Mehr als 10 Jahre nach der
Vereinigung der beiden deutschen Staaten erweisen sich die
Geschlechterverhältnisse in Ostdeutschland als eine höchst ambivalente
Figuration. Zum einen haben die Transformationen und neoliberalen
Deregulierungen dazu geführt, dass „Geschlecht“ als sozialer
Differenzierungsfaktor an Bedeutung zugenommen und Ungleichheiten
entlang der Geschlechterdifferenz sich vertieft haben. Zum anderen
sind, trotz unübersehbarer Angleichung an westdeutsche Verhältnisse,
die Unterschiede durch das Festhalten ostdeutscher Frauen an der
Vollzeiterwerbstätigkeit und durch die praktizierten und vom
überkommenen Geschlechtervertrag aus der DDR bis heute beeinflussten
Geschlechterarrangements ebenfalls unübersehbar. Die aus der DDR
überkommenen, eher „flachen“ Geschlechterhierarchien können - im
Kontext krisenhafter bzw. sich neu figurierender ökonomischer Zustände
- durchaus neoliberale Deregulierungen begünstigen: z.B. Tendenzen
einer „Feminisierung“ der Erwerbsarbeit, weil ostdeutsche Männer eher
ausnahmsweise die alleinigen Ernährer ihrer Familien sind. Das
Festhalten von Frauen an der Vereinbarkeit von Beruf und Familie bzw.
an Vollzeiterwerbsarbeit kann in den veränderten Zusammenhängen aber
auch Flexibilisierungen von Arbeitszeiten und von Formen der
Arbeitsorganisation sowie das Unterlaufen von Tarifverträgen
erleichtern und damit zur Reproduktion geschlechtsspezifischer
Segregationen des Arbeitsmarktes beitragen. Das „emanzipatorische
Potential“ das dem Selbstentwurf ostdeutscher Frauen zu DDR-Zeiten
zugesprochen werden kann, erweist sich in den veränderten
gesellschaftlichen Kontexten als höchst widersprüchlich. II.
Um aktuelle ostdeutsche Geschlechterarrangements und die bis heute in
ihnen nachwirkenden Einflüsse des DDR-Geschlechtervertrages
soziologisch zu „verstehen“, ist ein gesellschaftstheoretisches Konzept
des Geschlechterverhältnisses im Sozialismus notwendig. In den
sozialwissenschaftlichen Debatten um eine gesellschaftstheoretische
Charakterisierung und Einordnung des „realexistierenden Sozialismus“
gehen die Meinungen weit auseinander: am häufigsten wird Sozialismus
als das „ganz Andere“ im Vergleich zur kapitalistischen
Gesellschaftsform gesehen oder als vormodern, quasi-feudal, ständisch
u.ä.. In der feministischen Diskussion finden sich zwar etliche
Versuche, das Ost- bzw. West-Patriarchat auf Gemeinsamkeiten und
Unterschiede zu befragen, aber bis auf wenige Ansätze (z. B.
Beer/Chalupsky 1993) fallen sie wenig überzeugend bzw. konsistent aus –
aus meiner Sicht, weil sie gesellschaftstheoretisch unterkomplex sind.
Ich maße mir nicht an, einen ausgereiften Vorschlag für die Überwindung
dieser Unterkomplexität vorlegen zu können, ich kann hier nur einige
Anregungen geben. Für die Konzeptualisierung des
Geschlechterverhältnisses im realexistierenden Sozialismus (der DDR)
halte ich es für anregend, Peter Wagners (1995) und Zygmunt Baumans
(1991) entwickelten Gedanken, Sozialismus als eine Variante moderner
Gesellschaften zu verstehen, aufzugreifen und mit feministischen
Konzepten des modernen Geschlechterverhältnisses zu vermitteln. Damit
könnte ein heuristisches Instrument entwickelt werden, das einen
theoretischen Erklärungsrahmen für Geschlechterregime und praktizierte
–arrangements, für (sich wandelnde) Leitbilder bzw. für
(sozial)politische Maßnahmen, oder generell: Spannungsverhältnisse
zwischen (hegemonialen) kulturellen Vorstellungen,
Institutionalisierungen des Geschlechterverhältnisses und individuellem
Handeln abgibt. In seinem Buch „Soziologie der Moderne“ (dt.
1995), das er als Versuch einer historischen Neubestimmung der Moderne
versteht, unterscheidet Peter Wagner 3 Phasen der Moderne : - die restringiert liberale Moderne (Entstehung der industriegesellschaftlichen Moderne)
- die organisierte Moderne
(entwickelte Industriegesellschaft, Wohlfahrtsstaat, Höhepunkt: die
„goldene Zeit des Kapitalismus“ vom Ende des 2.WK bis 60er Jahre)
- die erweitert liberale Moderne („Postmoderne“).
Nach Wagner ist die Moderne durch einen Grundkonflikt gekennzeichnet:
Das Projekt ist einerseits egalitär, universalistisch (universale
Menschenrechte), andererseits ist für seine praktische Lebensfähigkeit
unabdingbar, dass diese sozial gefährliche Offenheit durch
Grenzziehungen in Raum und Zeit (die Wilden, Barbaren/die Fremden oder
die Frauen/Verrückten) bzw. durch In- und Exklusionen (Nationalstaat)
eingedämmt wird. Die drei Phasen des Projekts der Moderne lassen sich unterscheiden hinsichtlich (a) der intellektuellen Mittel
(das meint die kulturellen Deutungsmuster, die eine Eindämmung
legitimieren, als selbstverständlich, „natürlich“ erscheinen lassen); (b) der institutionellen Formen und Praktiken der Eindämmung,
die als zeitweilig legitime und funktionierende Lösungen des
Grundkonflikts und daraus abgeleiteter Konflikte wirken, zugleich aber
mit diesen Lösungen neue Konflikte erzeugen, die wiederum neue
intellektuelle Mittel und institutionelle Formen erzwingen; und (c) von substantiellen Ausschließungen
(das meint die Weisen der Externalisierung von sozialen Problemen, die
mit den intellektuellen Mitteln und den institutionellen Formen
innerhalb einer Phase der Moderne nicht gehandhabt werden können). Im Zusammenwirken dieser drei Dimensionen entstehen Dynamiken, die auch als Krisen der Moderne wahrgenommen werden. Die Phase der organisierten Moderne,
die eine kapitalistische und eine sozialistische Variante aufweist, ist
nach Wagner gekennzeichnet durch eine tendenzielle Schließung. D.h.
individuelle Freiheit und Autonomie wird im Namen eines Kollektivs
beschränkt – wenn auch in den verschiedenen gesellschaftlichen
Bereichen in unterschiedlichem Ausmaß. (zu den intellektuellen Mitteln
dieser Phase gehört u.a. das Konstrukt der zwei Klassen und der
Nationalstaat, der alle StaatsbürgerInnen inkludiert; zu den
institutionellen Praktiken gehören: Klassenparteien, Taylorismus,
Homogenisierung der Mitglieder der Gesellschaft nach Alter, Beruf,
Familienstand und Erwerbsstatus durch den Sozialstaat,
„Normalbiografie“, soziale „Milieus“, feine Unterschiede, formelle
Hierarchisierungen/Arbeitsteilungen). Sozialismus ist für
Wagner (wie für Bauman) „geradezu der Inbegriff der organisierten
Moderne“, die kapitalistische und die sozialistische Variante der
organisierten Moderne unterscheiden sich im Ausmaß der Unterordnung der
individuellen Autonomie unter die kollektiven Arrangements.
Wagners Versuch einer „historischen Neubeschreibung der Moderne“ und
seine vorgeschlagene Phaseneinteilung bieten m.E. Anschlussstücke für
vorliegende Versuche der Frauen- und Geschlechterforschung, das
Geschlechterverhältnis der Moderne theoretisch zu bestimmen.
Auf einer allgemeinen strukturtheoretischen Ebene hat z.B. Ursula Beer
(1990) die Trennung von Produktion und Reproduktion, von
marktvermittelter und Versorgungsökonomie als grundlegend für das
moderne Geschlechterverhältnis herausgearbeitet. Zwar argumentiert Beer
primär in marxistischer Tradition und erweitert den Begriff der
Produktionsweise, indem sie Wirtschafts- und Bevölkerungsweise (Arbeit
und Generativität) einer Gesellschaft zueinander ins Verhältnis setzt.
Dennoch kann m.E. eine Vermittlung zu Wagners Vorstellung der
Eindämmung des Projekts der Moderne hergestellt werden: die von Beer
vor allem ökonomisch, aus der Logik kapitalistisch-marktvermittelter
Wirtschaft begründete strukturelle Trennung von Produktion und
Reproduktion lässt sich mit Wagner auch genereller als Weise der
Eindämmung des universalistischen Projekts der Moderne verstehen, die
sich in jeweils konkreten Formen in den verschiedenen Phasen der
Moderne realisiert. Ausgehend von der Trennung von Produktion
und Reproduktion als strukturellem Merkmal moderner Gesellschaften sind
von der Frauen- und Geschlechterforschung eine Reihe weiterer
theoretischer Bestimmungen des modernen Geschlechterverhältnisses
erarbeitet worden (Stichworte: Institutionenstrukturiertheit des
Geschlechterverhältnisses, geschlechtsspezifische Arbeitsteilungen,
Arbeitsmarktsegregation, Vergeschlechtlichung von Tätigkeiten und
Berufen, geschlechtsspezifische Ausgestaltungen und Wirkungen des
Wohlfahrtsstaates usw.), die auf Modifikationen in den Genderregimen
und –arrangements im historischen Verlauf bei gleichzeitiger
Reproduktion des Geschlechterverhältnisses aufmerksam machen, ohne dass
unbedingt die Zuordnung zu Phasen der Moderne erfolgt. Im Anschluß an
Wagners Unterscheidungen lassen sich die – bezogen auf die
Institutionalisierung des Geschlechterverhältnisses –
phasensspezifischen Denkmuster (intellektuelle Mittel),
Institutionalisierten Formen und Ausschliessungen präzisieren. Ich möchte dies im folgenden für die sozialistische Variante der organisierten Moderne aufzeigen:
Legt man die Annahme zugrunde, dass der Sozialismus eine Variante der
Moderne, genauer: ihrer organisierten Phase ist, ist mit Blick auf das
Geschlechterverhältnis zu schlussfolgern, dass dieses a) generell
durch die strukturelle Trennung von Produktion und Reproduktion sowie
die zweigeschlechtliche, hierarchisierende Geschlechterordnung
gekennzeichnet ist und b) Merkmale im Geschlechtervertrag, in den
Genderregimen und –arrangements aufweist, die aus der Art und Weise
resultieren, mit denen die Konflikte der organisierten Moderne in der
sozialistischen Variante intellektuell und institutionell-praktisch
bewältigt wurden. Der Sozialismus (im folgenden: DDR-Prägung –
auf Differenzen zwischen den sozialistischen Ländern kann hier nicht
eingegangen werden) verstand sich als Versuch, durch soziale
Nivellierung und Homogenisierung Gleichheit herzustellen. Das Primat
kollektiver Arrangements gegenüber der Autonomie und Freiheit des
Individuums, die Emanzipation von differenzierenden
Vergemeinschaftungsformen und sozialen Zuordnungen (wie Religion,
Vereinswesen, Geschlecht, Nationalität), der Staat als Repräsentant
(homogener) individueller Interessen waren Ausdrucks- und
Realisierungsformen dieser Zielstellung. Die intellektuellen Mittel, die dafür entwickelt wurden, waren unter anderem: - Die Idee der gesetzmäßigen gesellschaftlichen Entwicklung und des Fortschritts
- Die Idee der sozialen Gleichheit und Gerechtigkeit (als Gegenbild zur
ungleichen Verteilung und privaten Aneignung des gesellschaftlichen
Reichtums, was zu Konkurrenz, Neid und sozialer Ungerechtigkeit führt)
- Die Idee, dass produktive Arbeit (Erwerbsarbeit) der entscheidende
gesellschaftliche Integrationsmodus sei und das emanzipatorische
Potential für den Abbau bestehender sozialer Differenzierungen (auch
qua Geschlecht) enthalte – verbunden mit der Idee der
Vergesellschaftung aller existenznotwendigen Tätigkeiten (z.b.
Hausarbeit, Kindererziehung, Altenbetreuung etc.). Wolfgang Engler hat
dies mit dem Terminus der „arbeiterlichen Gesellschaft“ (Engler
1999:173ff) gefasst[7]. Diese intellektuellen Mittel gingen
orientierend und normativ in die institutionellen Praktiken ein, wobei
selbstverständlich von einem Spannungsverhältnis zwischen Ideen,
ideologischen Verklärungen und Verschleierungen und objektiven Zwängen
auszugehen ist (intern z.B. Arbeitskräftemangel, extern die
Konfrontation der beiden Systeme, das Gefälle im Wohlstand und den
politischen Freiheiten der Individuen, Abhängigkeiten von den
kapitalistisch dominierten Weltmärkten). Für das
Geschlechterverhältnis hatte dies Konsequenzen: Obwohl Sozialismus
durch die moderne Trennung von Produktion und Reproduktion
gekennzeichnet ist und auch die sozialistische Variante der
organisierten Moderne nicht auf eine Versorgungsökonomie verzichten
konnte, hat die Aufhebung der Trennung von Wirtschaft und Politik, d.h.
die Unterordnung der Wirtschaft unter die politischen Ziele und ihre
zentrale Planung sowie Steuerung durch politische Zielvorgaben zu einer
tendenziellen Verschiebung im Verhältnis von Produktion und
Reproduktion geführt. Vorrang hatten tendenziell die Existenzsicherung
und die Befriedigung der Bedürfnisse der Bevölkerung (auf niedrigem
Niveau, konterkariert durch beständige Mängel und Engpässe,
nivellierend, weil unabgängig von Leistung, aber eben auch nicht
bestimmt durch die Schwankungen in Angebot und Nachfrage der
Wirtschaft: es gab weder einen Arbeits- noch einen Wohnungsmarkt).
Beer/Chalupsky stellen in diesem Zusammenhang zur Diskussion, „ob der
ostdeutsche Realsozialismus in seiner Wirtschafts- und
Bevölkerungsweise das den Kapitalismus kennzeichnende
Dominanzverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage nicht geradezu
umkehrt: Vorrang besitzt die Existenzgarantie gegenüber seinen
Mitgliedern und zwar unabhängig von den Schwankungen im
Wirtschaftsgeschehen“ (Beer/Chalupsky 1993:197). Auch wenn man soweit
nicht gehen will, lässt sich aus dem tendenziellen Vorrang der
Existenzsicherung der Gesellschaftsmitglieder erklären, weshalb der
Realsozialismus ein beträchtliches (und seine ökonomischen Potenzen bei
weitem überschreitendes) Maß der verfügbaren Mittel eingesetzt hat für
sozialpolitische Maßnahmen, hohe Subventionierungen von z.B.
Grundnahrungsmitteln, Mieten, Kinderkleidung, gesundheitlicher
Betreuung usw., die für alle galten – jenseits von beruflicher Position
und Einkommen, Alter und Geschlecht. Diese Verschiebung im Verhältnis
von Produktion und Reproduktion hat – im Zusammenwirken mit anderen
Normativen – zu einem spezifischen Geschlechtervertrag und zu
spezifischen Genderregimen und –arrangements geführt, in denen sich die
Abschwächungen in der Hierarchie zwischen Produktion und Reproduktion,
in den sozialen Differenzierungen (Klassenunterschieden, Milieus und
Lebensstilen – vgl. Engler 1992;1999) homolog als Abflachen von
Geschlechterhierarchien niederschlagen. Die Idee von der
Teilhabe an der Gesellschaft über die produktive Arbeit (in der
Verfassung als Recht auf und Pflicht zur Arbeit festgeschrieben) schlug
sich in einem Geschlechtervertrag nieder, der die Angehörigen
beider Genusgruppen gleichermaßen durch Erwerbs- bzw. Berufsarbeit in
die Gesellschaft integrierte – die Garantie einer beruflichen
Ausbildung und eines Arbeitsplatzes und damit die auf eigene
Arbeitsleistung gegründete ökonomische Existenzsicherheit galt für
Männer und Frauen gleichermaßen. Der Geschlechtervertrag war in sich
widersprüchlich: integrierte er einerseits quasi geschlechtsneutral die
erwachsenen Mitglieder beider Genusgruppen via lebenslange,
vollzeitliche Erwerbsarbeit in die Gesellschaft, setzte er andererseits
die normative und praktische Verantwortung von Frauen für die in der
Familie verbliebenen Elemente der Versorgungsökonomie und die
„generativ-reproduktiven Leistungen“ (Beer/Chalupsky 1993:198) nicht
außer Kraft. Realisierte er einerseits den Zugang von Frauen zu dem
gesellschaftlichen Bereich, der in modernen Gesellschaften entscheidend
ist für soziale Positionierung und Zugang zu Ressourcen (und zwar,
indem Frauen als formal gleiche Mitglieder der – tendenziell
angestrebten klassenlosen – Gesellschaft in die Erwerbsarbeit
integriert werden), ignorierte er andererseits Ungleichheiten qua
Geschlecht, die Frauen durch ihre generativ-reproduktiven
Verantwortlichkeiten in den verschiedenen gesellschaftlichen
Tätigkeitsfeldern erfahren. Zwar konnte der Staat durch die zentrale
Steuerung mit einer Vielzahl von Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf
und Familie lenkend und mildern eingreifen, zugleich machte er Frauen
zu Objekten der Wirtschafts- wie der Bevölkerungspolitik. Generell
gilt, dass der Geschlechtervertrag dem Projekt der Gleichheit
untergeordnet ist, d.h. er zielt nicht in erster Linie auf den Abbau
von Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern - so folgen aus ihm z. B.
eine Reihe von Maßnahmen zur Bewältigung der Doppel- und
Dreifachbelastung durch Frauen, Männer werden aber „stillschweigend“
(Beer/Chalupsky 1993:201) aus dem Modell der Doppel- und
Mehrfachbelastung ausgeklammert - sondern primär auf Nivellierung
sozialer Differenzen und der Homogenisierung von Verhaltensweisen (die
Abflachung von Geschlechterhierarchien sozusagen als Lösung eines
„Nebenwiderspruchs“). Die „allumfassende Nivellierung sämtlicher
Lebensformen“ (Engler 1999:175) hatte aber auch zur Folge, dass die
Geschlechterdifferenz als sozialer Hierarchisierungsmodus normativ wie
praktisch an Bedeutung verlor. Die Ambivalenzen des Geschlechtervertrages manifestieren sich in widersprüchlichen Genderregimes in den unterschiedlichen Institutionen. Hier seien nur einige beispielhaft genannt:
- Formal hatten Frauen den gleichen Zugang wie Männer zu Bildung,
beruflichen Qualifikationen und Berufen. Real wurde ihre Arbeitskraft
einerseits den „männlichen“ Normen unterworfen und andererseits wurde
sie – nicht zuletzt durch ausschließlich für Frauen angebotene, auf die
Vereinbarkeit von Beruf und Familie gerichteten staatlichen wie
betrieblichen Maßnahmen – als „anders“, abweichend usw. wahrgenommen
und bewertet (die ganz alltäglich-praktische Möglichkeit z.B., in
Betrieben einkaufen zu können oder zum Friseur zugehen oder bei
Krankheit der Kinder bezahlten Betreuungsurlaub nehmen zu können), hat
Frauen sicher die Doppelbelastungen erleichtert, aber gewiss auch dazu
beigetragen, dass sie praktisch-alltäglich als nicht vollwertige
Arbeitskräfte angesehen wurden. - Auch wenn – zum Teil massiv
gefördert – Frauen in sog. „Männerberufe“ gingen, war die Erwerbssphäre
geschlechtsspezifisch segregiert: Ausbildungsberufe, Berufe und
Tätigkeiten, Entgelt wiesen geschlechtsspezifische Differenzierungen
auf; „typische Frauenberufe“ wurden mit Rekurs auf
Geschlechterstereotype und generativ-reproduktive Verantwortlichkeiten
von Frauen als solche eingestuft und bezahlt. - Wurden einerseits
generativ-reproduktive Leistungen – allerdings wiederum nur für Frauen
– gesellschaftlich anerkannt, z.b. durch Gewährung eines monatlichen
bezahlten Haushaltstages, durch bezahlte Arbeitszeitverkürzungen für
Mütter mit Kindern, die Anrechnung von Kinderbetreuungszeiten auf die
Rente u.a., waren andererseits sozialpolitische Maßnahmen oder die
Öffnungszeiten von Kinderbetreuungseinrichtungen ausschließlich auf die
Erfordernisse der Erwerbssphäre ausgerichtet – es ging um die
Arbeitskraft der Frauen, nicht darum, ihnen mehr Freizeit oder Raum für
die Befriedigung eigener Bedürfnisse zu schaffen. Für die praktizierten Geschlechterarrangements möchte ich es mit einem Hinweis belassen:
Geschlechtervertrag und Genderregime in den verschiedenen Institutionen
lassen keine unmittelbaren Schlüsse auf die praktizierten
Geschlechterarrangements in den Familien oder den Betrieben bzw.
Arbeitskollektiven zu. Die bisher dargestellten Merkmale des
Geschlechterverhältnisses in der sozialistischen Variante der
organisierten Moderne und ihren Ausprägungen in Geschlechtervertrag und
Genderregimen können nur als vor- strukturierender Rahmen verstanden
werden, in dem sich eigen-sinniges individuelles Handeln realisierte –
in Übereinstimmung oder in einem widersprüchlichen Verhältnis zu diesen
Vor-Strukturierungen. Um dem forschend nachzugehen, sind
Konkretisierungen vorzunehmen, die über verschiedene Etappen der
DDR-Geschichte, sozialstrukturelle Differenzierungen bis zur
individuellen Biografie reichen. Als allgemeiner Hinweis sollte
beachtet werden, was Thomas Lindenberger, in teilweise überzogener
Polemik gegen Engler aber in der Tendenz durchaus beachtenswert
hervorgehoben hat: gegenüber aktuell beobachtbaren Tendenzen in der
Sozialwissenschaft, die im Sozialismus so stark angezielten
Homogenisierungen fortzusetzen und fortzuschreiben, indem
undifferenziert von ostdeutscher Kultur oder ostdeutschen Biografien
gesprochen wird, betont er, den Blick auf Differenzierungen zu werfen
und auch diejenigen in den Blick zu nehmen, die den hegemonialen Normen
(z.B. vollerwerbstätige, verheiratete Doppelverdiener, 2
Kinder-Haushalt) nicht entsprachen (vgl. Lindenberger 2000).
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Eastern German Women. In: Patricia J. Smith (ed.): After the Wall.
Eastern Germany since 1989. Bolder: Westview Press, S. 183-202 Dölling, Irene
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Drei Ziele - ein Weg. Bonn: Verl. J.H.W. Dietz Nachf.
Anmerkungen [1] Manuskript eines Vortrages, gehalten am 6. Februar 2001 in Hannover.
[2] Diese „Auflösungstendenzen“ bzw. eher Verschiebungen müssen
keineswegs mit einem Abbau von Geschlechterhierarchien bzw. von
Benachteiligungen qua Geschlecht verbunden sein. So hat z.B. Simone
Odierna aufgezeigt, dass einkommensstarke Familien oder Singles
Aufgaben der Kinderbetreuung bzw. reproduktive (Haus-) Arbeiten als
private Arbeitgeber an Dritte (d.h. in der Regel - immigrierte -
Frauen) delegieren und auf diese Weise den Anspruch beider Partner auf
eine (qualifizierte) Berufsarbeit realisieren bzw. den Anforderungen an
eine flexible, allzeit verfügbare Arbeitskraft gerecht werden (vgl.
Odierna 2000). [3] Die Diskussionen darüber sind in der Frauen- und
Geschlechterforschung noch nicht sehr weit fortgeschritten, es hat z.B.
längere Zeit gedauert, bis die unter dem Stichwort „Globalisierung“
geführten Debatten über die Deutung und Bewertung sich abzeichnender
ökonomischer und sozialer Prozesse neoliberaler Deregulierung überhaupt
Eingang in die feministische Debatte fanden (beispielhaft wäre hier das
PROKLA-Heft 111/1998 mit dem Themenschwerpunkt „Globalisierung und
Gender“ zu nennen). Je nach makro- bzw. mikrosoziologischer Perspektive
bzw. je nachdem, ob der Fokus eher Deutschland oder Veränderungen in
der sog.„Dritten Welt sind, werden die Chancen und Möglichkeiten für
einen „geschlechterdemokratischen“ Umbau der Geschlechterverhältnisse
höchst unterschiedlich gesehen. [4] Ich konzentriere mich in meinen
folgenden Bemerkungen auf die Erwerbssphäre – und zwar nicht allein aus
aktuellen Gründen, sondern auch, weil die Beteiligung an der
Erwerbsarbeit in der DDR ein entscheidender gesellschaftlicher
Integrationsmodus für beide Genusgruppen war – s.u.. Für eine
ausführlichere Darstellung der Situation von Frauen nach der deutschen
Vereinigung (vgl. Dölling, 1998, 2001; Nickel, 1997) [5] Die
Einbeziehung fast aller arbeitsfähigen Frauen in die Erwerbssphäre
führte zu einer Homogenisierung; dem korrespondierte auch eine
Homogenisierung im „generativ-reproduktiven“ Verhalten: 1989 hatten in
der DDR 90% aller Frauen im gebährfähigen Alter mindestens ein Kind
geboren – dies sind wesentliche Kennzeichen der „weiblichen
Normalbiografie“ in der DDR. [6] Interessanterweise wird der
Begriff der „Erwerbsneigung“ nur in bezug auf Frauen angewendet; von
einer Erwerbsneigung von Männern habe ich noch nie gelesen -
wahrscheinlich wird auch in der Soziologie das kulturelle Denkmuster
bislang weitgehend unreflektiert angewendet, wonach „Mann“ und
„Erwerbsarbeit“ per se zusammengehören. [7] Dass diese
intellektuellen Mittel keineswegs nur ideologische Phrasen der
Funktionärselite waren, sondern in die soziale Selbstverortung der
Individuen einflossen, zeigt Engler an Daten, wonach sich die übergroße
Mehrheit der Angehörigen ausdifferenzierter Funktionsgruppen zur
Arbeiterklasse zählten. (Vgl. Engler 1999:176-77)
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