KULTURATIONOnline Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik
Nr. 24 • 2021 • Jg. 44 [19] • ISSN 1610-8329
Herausgeberin: Kulturinitiative 89
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TextKulturation 1/2003
Irene Dölling
Geschlechtervertrag und Geschlechterarrangements in den neuen Bundesländern[1]
Im Rückblick auf mehr als 10 Jahre deutsche Einheit wird deutlich, was am Beginn weder von Politikern noch von (Sozial-) Wissenschaftlern so klar gesehen wurde: die für die neuen Länder unter dem Stichwort der „nachholenden Modernisierung“ prognostizierte und in Gang gesetzte Transformation ist nicht als schlichte Adaptation an Strukturen und Institutionen der „alten“ Bundesrepublik zu verstehen. Vielmehr ist sie in ihrer Dynamik und Richtung zunehmend durch Umbrüche und Prozesse des Umbaus im Organisationsgefüge moderner Gesellschaften gekennzeichnet, die in der Soziologie unter „zweiter“ oder „reflexiver“ Moderne bzw. Modernisierung firmieren. Es liegt auf der Hand, dass in diesen Umbauprozessen bisherige Formen sozialer Regulierung und Steuerung tendenziell dysfunktional werden und dass dies auch die Geschlechterarrangements betrifft. Bisherige Institutionalisierungen des modernen (hierarchischen) Geschlechterverhältnisses geraten in „Unordnung“ und erscheinen gemessen an den sich abzeichnenden Entwicklungen als „veraltet“: bislang geläufige Trennlinien zwischen öffentlich und privat werden aufgebrochen, die Erosion des sogenannten „Normalarbeitsverhältnisses“ untergräbt die „männliche Ernährerrolle“ und damit verknüpfte familien- und steuerrechtliche Regelungen, mit der wachsenden Zahl von Alleinerziehenden wie von Singles wird das normative und institutionalisierte Modell der geschlechtsspezifischen Teilungen zwischen „produktiven“ und „reproduktiven“ Bereichen und Tätigkeiten fragwürdig usw.[2] Wie die re-strukturierten Geschlechterverhältnisse als Ergebnis des Umbaus moderner Gesellschaften aussehen werden - ob sich die Geschlechterarrangements durch (mehr) Gerechtigkeit und Chancengleichheit auszeichnen oder die In- und Exklusionen entlang der Geschlechterlinie eher verstärkt werden[3] bzw. ganz neue Formierungen des Geschlechterverhältnisses entstehen, ist m.E. derzeit kaum definitiv zu sagen - eben weil wir erst am Anfang dieser Umbrüche stehen. Für eine sozialwissenschaftliche Beobachtung und Analyse dieser Umbrüche aus einer genderkritischen Perspektive ist aber auf jeden Fall notwendig, die unterschiedlichen Bedingungen in den alten und neuen Bundesländern, nicht zuletzt in bezug auf Geschlechterarrangements zur Kenntnis zu nehmen. Das wiederum hat zwei Dimensionen: neben dem empirisch gesättigten Wissen um die feststellbaren Unterschiede, die ohne den Prozess ihres historischen Werdens in zwei unterschiedlichen Gesellschaftssystemen nicht angemessen zu erklären sind, ist auch ein gesellschaftstheoretisch fundiertes Verständnis des Geschlechterverhältnisses in der kapitalistischen wie sozialistischen Variante moderner Gesellschaften notwendig.

In meinem Vortrag möchte ich auf diese beiden Dimensionen eingehen.
Ich werde
- Erstens auf Veränderungen/Modifikationen in der Situation von ostdeutschen Frauen bzw. allgemeiner von in Ostdeutschland praktizierten Geschlechterarrangements eingehen, die sich als Resultat der Transformationen nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten ausmachen lassen. Meine Frage ist, welche ambivalenten Wirkungen diese Geschlechterarrangements im veränderten gesellschaftlichen Kontext, insbesondere im Kontext der Umbauprozesse moderner Gesellschaften haben. Ich gehe dabei von der These aus, dass die Besonderheiten ostdeutscher Geschlechterarrangements ganz entscheidend aus dem Weiterwirken des Geschlechtervertrages der DDR herrühren.
- Zweitens möchte ich deshalb versuchen, das Geschlechterverhältnis der realsozialistischen DDR, den darauf gründenden Geschlechtervertrag bzw. seine Institutionalisierungen gesellschaftstheoretisch zu umreißen. Ich denke, dass dies notwendig ist, um über sozialwissenschaftlich wenig befriedigende Feststellungen wie „Es war ja nicht alles schlecht in der DDR“ oder aber: „Das Patriarchat gab es auch im Sozialismus“ hinauszukommen.


I.

„Wer sich nicht wehrt, kommt an den Herd“ – das war eine der Losungen, mit denen die rasch entstandene ostdeutsche Frauenbewegung in der „Wende-Zeit“ (Herbst 1989) bekannt wurde. Zu diesem Zeitpunkt war diese Losung vor allem eine Antwort auf die deutlich beobachtbaren Tendenzen in der politischen Arena, Frauen und die Veränderung von Geschlechterverhältnissen bei den damals noch angestrebten Reformen und Umgestaltungen der DDR außer acht zu lassen. Schon bald zeigte sich, dass diese Losung nicht nur auf Gefahren eines politisches Ausschlusses von Frauen hinwies, sondern auf Exklusionen aus Bereichen bzw. auf Veränderungen von Lebensbedingungen, die bis dahin selbstverständlich für DDR-Frauen waren: Arbeitslosigkeit, die Schließung von betrieblichen Einrichtungen zur Kinderbetreuung und der Wegfall anderer Bedingungen zur Vereinbarung von Beruf und Familie, die explizite Zweitrangigkeit von Frauen auf dem Arbeitsmarkt u.a. gehörten schon seit Ende 1989 zu den neuen Erfahrungen von Frauen. Nach der politischen Vereinigung kamen hinzu: der Wegfall bisheriger sozialpolitischer Maßnahmen zur Subventionierung z.B. von Kinderbetreuungseinrichtungen, die Übernahme einer Rechtsprechung und eines sozialstaatlichen Regimes, denen das (modernisierte) Modell der Ernährer-Hausfrau-Familie zugrunde liegt, die zunächst aufgeschobene, aber absehbare Einschränkung des Rechts auf Abtreibung ohne Vorbedingungen, die Bezahlung von Kontrazeptiva u.a.. Je mehr die Frauenbewegung an politischem Einfluss verlor und der Enthusiasmus der ersten Phase verloren ging, je mehr sich die negativen Seiten des Übergangs in die Marktwirtschaft für die bisherigen Lebenszusammenhänge von Frauen zeigten, desto mehr rückte die Losung von den Frauen als den Verliererinnen der deutschen Einheit in den Vordergrund. Auch wenn die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse durchaus auch neue Handlungsmöglichkeiten für Frauen (z.B. im politischen Raum) eröffneten, brachte diese Losung doch anschaulich auf den Begriff, dass für die neuen gesellschaftlichen Bedingungen und Strukturen Geschlechterregime und -arrangements kennzeichnend sind, die auf andere und sozial stärker hierarchisierende und benachteiligende Weise für Frauen wirken, als dies in der „realsozialistischen“ DDR der Fall war. Sie brachte auf anschauliche Weise zum Ausdruck, dass mit dem Übergang in die moderne Gesellschaft kapitalistischen Typs die Geschlechterdifferenz stärker als in der DDR als Faktor sozialer Differenzierung wirkt und die Zugehörigkeit zu einer Genusgruppe auf eine bis dahin unbekannte bzw. vergessene Weise bedeutsam für die Wahrnehmung sozialer Chancen und für die Realisierung von Lebensansprüchen und -plänen ist. Andererseits aber machte diese Losung Frauen insgesamt als Gruppe zu Opfern und verdeckte die wachsenden sozialen Differenzierungen unter Frauen auch in Ostdeutschland, die gemeinhin als Zeichen von „Individualisierung“ gelesen werden. Am massivsten haben die ostdeutschen Frauen die neuartige Weise ihrer Diskriminierung wie auch ihre wachsende soziale Differenzierung seit 1990 auf dem Arbeitsmarkt erfahren[4].

Ein Blick auf die Entwicklungen des ostdeutschen Arbeitsmarktes seit der Vereinigung zeigt sowohl geschlechtsneutrale als auch ausgeprägt geschlechtsspezifische Tendenzen. Eher geschlechtsneutral ist die Erfahrung von Arbeitslosigkeit. Wie schon der „Sozialreport 1996“ feststellt, ist seit 1990 „Arbeitslosigkeit (...) für über die Hälfte aller Bürger zwischen 18 und 60 Jahren in den neuen Bundesländern bereits zur eigenen Erfahrung geworden“ (Winkler, 1996: 24) – die Situation hat sich seither kaum zum Positiven verändert. Auch das Entlassungsrisiko ist für Frauen nicht größer als für Männer - es gingen nicht mehr Frauen- als Männerarbeitsplätze verloren. Geschlechtsspezifisch dagegen ist die Chance, wieder eine Beschäftigung zu finden. Die Statistiken weisen seit 1990 deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede bezüglich Arbeitslosigkeit und Wiederbeschäftigung auf. Kontinuierlich stellen Frauen einen überproportional hohen Anteil an den Arbeitslosen, sie sind weitaus häufiger als Männer langzeitarbeitslos und sie haben geringere Chancen, ein Angebot auf Umschulung bzw. für einen Job auf dem zweiten Arbeitsmarkt zu bekommen.

Hierzu stichwortartig einige Daten:
- Die Arbeitslosenstruktur im Vergleich Ost – West bzw. Männer- Frauen (1996) weist aus: eine höhere Arbeitslosenquote im Osten; Frauen im Osten haben eine höhere Erwerbsquote als Frauen im Westen (allerdings: die Quote der tatsächlich beschäftigten ostdeutschen Frauen ist mittlerweile unter die der alten Bundesländer gesunken)
- Es gab eine Entwertung der beruflichen Qualifikationen (vor allem Facharbeiter), weil ganze Industrien verschwanden bzw. weil sie nicht kompatibel zu bundesdeutschen Qualifikationen und Zertifikaten waren (vor allem im Bereich Erziehung/Kinderbetreuung); es gab Entwertung der beruflichen Erfahrungen einer ganzen Altersgruppe: diejenigen, die 1990 zwischen Ende vierzig und Ende fünfzig waren, wurden arbeitslos oder in den vorzeitigen Ruhestand gedrängt (auch hier waren Frauen überproportional betroffen)
- Der Umbau der ostdeutschen Wirtschaft hat zu einer Umverteilung von Frauen auf die verschiedenen Wirtschaftssektoren geführt die Zahl der in der Industrieproduktion beschäftigten Frauen ist stark zurückgegangen – sie sind heute stärker in Dienstleistungsbereichen wie Handel, Gastgewerbe, Verkehr, als mithelfende Angehörige in Familienunternehmen oder als (Schein-)Selbständige tätig.
- Neben Tendenzen, Frauen aus bestimmten Branchen zu verdrängen bzw. auch bisher frauentypische Beschäftigungsfelder stärker für Männer zu öffnen (vgl. Nickel/Schenk 1994) ist unübersehbar, dass (neue) Arbeitsmöglichkeiten für Frauen vor allem Teilzeitjobs sind.
- Geschlechtsspezifisch ist auch, dass berufliche Qualifikation bzw. das Niveau beruflicher Qualifikation für ostdeutsche Frauen das entscheidende Kriterium dafür sind, erwerbstätig zu bleiben (vgl. Schenk 1995b, Nickel 1997).

Zur Überraschung von SoziologInnen hat die konkrete Familiensituation (Familienphase, Anzahl und Alter der Kinder) relativ wenig Erklärungskraft für die Erwerbsintegration ostdeutscher Frauen: die markante Differenzierungslinie ist das Qualifikationsniveau und –potential der Frauen. Während die Erwerbsintegration von Männern relativ unabhängig von ihrer beruflichen Ausbildung ist, hängt sie für Frauen entscheidend von ihrer Qualifikation ab. Nickel/Hüning konstatieren in einem aktuellen Aufsatz: „Es lässt sich eine qualifikationsspezifische Verdrängung von Frauen aus dem ostdeutschen Arbeitsmarkt konstatieren, die vornehmlich unter Frauen ausgetragen wird. Sie hat den Effekt, dass un- und angelernte Frauen und Frauen mit einem Facharbeiterabschluss die schlechtesten Karten im Verteilungskampf um Erwerbsarbeit haben...“ (Nickel/Hüning 2001, 32).

Untersuchungen zum Erwerbsstatus von Paaren zeigen, dass Paare, bei denen beide Partner eine hohe berufliche (in der Regel akademische) Qualifikation haben, am erfolgreichsten am Doppel-Verdiener-Modell festhalten konnten, während Frauen mit Facharbeiterabschluss deutlich unterrepräsentiert sind sowohl bei den vollzeit- wie bei den teilzeitbeschäftigten Frauen (vgl. Bericht der Zukunftskommission der Friedrich-Ebert-Stiftung 1998). Die beobachtbare Ausdifferenzierung im Lebensstandard von Haushalten hat entscheidende Ursachen in den Beschäftigungschancen von unterschiedlich qualifizierten Gruppen von Frauen. (Anders formuliert: die Erwerbsintegration von Frauen wird im Osten zum entscheidenden Kriterium für stabile soziale Lagen von Familien, da die Männer in der Regel keine Einkommen haben, mit denen eine Familie ernährt werden kann). Das bedeutet auch, dass sich die Positionen von Frauen innerhalb ihrer Familien/Haushalte ausdifferenzieren - unter anderem bedingt durch ihren Beitrag zum Haushaltseinkommen. Bislang allerdings tragen ostdeutsche Frauen im Durchschnitt immer noch - wie zu DDR-Zeiten - ca. 43% zum Haushaltseinkommen bei und immer noch - wenn auch zahlenmäßig zurückgegangen - sind in der Mehrzahl der Haushalte beide Partner vollzeitbeschäftigt (vgl. ebd.: 322).

Zu den bemerkenswerten Phänomenen des Transformationsprozesses zählt zweifelsohne das Festhalten der ostdeutschen Frauen an dem in der DDR praktizierten Modell der Vereinbarung von (Vollzeit)-Erwerbsarbeit und Familie[5]. Als „Eigensinn“ ostdeutscher Frauen oder auch als „ungebrochene Erwerbsneigung“ [6] ist dieses Phänomen in den Medien wie in der soziologischen Literatur beschrieben worden. Im Gegensatz zu Annahmen in der „Wende-Zeit“, dass Erwerbstätigkeit von den Frauen in der DDR vor allem als staatlich verordneter Zwang erfahren und bewertet wurde und die Mehrzahl von ihnen schnell und freiwillig die „Doppelbelastung“ aufgeben würde, zeigen die Statistiken über die Jahre einen unverändert hohen Wunsch ostdeutscher Frauen (vollzeit)-erwerbstätig zu sein bzw. zu bleiben (vgl. Winkler 1996: 20). Bis heute ist für die übergroße Mehrheit ostdeutscher Frauen (Vollzeit-) Erwerbsarbeit ein fester Bestandteil ihrer Lebensplanung. Die Gründe, die ostdeutsche Frauen haben, an diesen Plänen auch unter den veränderten Bedingungen festzuhalten, sind selbstverständlich sehr komplex. Materielle Faktoren sollten dabei nicht unterschätzt werden - Gehälter und Löhne sind wesentlich niedriger als in Westdeutschland (je nach Branche 10 bis 35%), so dass eine Familie in Ostdeutschland selten mit nur einem Einkommen ihren Lebensstandard erhalten bzw. verbessern kann. Reale ökonomische Notwendigkeiten sind allerdings eng verknüpft mit einer von der Mehrzahl ostdeutscher Frauen (und Männer) internalisierten Norm der (Vollzeit-)Erwerbstätigkeit von Frauen und der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Diese normative Selbstverständlichkeit prägt bis heute das Selbstbild vieler ostdeutscher Frauen und wird auch mehrheitlich von den ostdeutschen Männern akzeptiert. Wichtiger noch: Selbstbild ostdeutscher Frauen und weibliche Lebensverläufe sind Ausdruck eines für die DDR charakteristischen „Geschlechtervertrages“, der – als habituell verankerte longue durée - bis in die Gegenwart wirksam ist. Mit dem Terminus „Geschlechtervertrag“ wird in der Soziologie umschrieben, dass es „in allen modernen Gesellschaften einen historisch gewachsenen sozio-kulturellen Konsens über die jeweilige Ausprägung der Verkehrsformen der Geschlechter, ein gemeinsam von Männern und Frauen getragenes Leitbild und Lebensmuster über die ‘richtige’ Form der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, die Familienform und die Art und Weise der Integration der beiden Geschlechter in die Gesellschaft über den Arbeitsmarkt und/oder über die Familie gibt“ (Schenk 1995a: 478). Der Geschlechtervertrag, der in der DDR praktiziert und institutionalisiert wurde, gründet auf dem Doppel-Verdiener-Modell. D.h. für beide Geschlechter gilt, dass die Integration in die Gesellschaft primär durch die Beteiligung am Erwerbssystem hergestellt wird. Dieser Geschlechtervertrag hat in der DDR zu Geschlechterarrangements geführt, die durch das Verschwinden der männlichen Ernährerrolle, durch die tendenzielle ökonomische Selbständigkeit der Frauen und ihre entsprechend starke Position in der Familie, sowie durch eine staatliche Verantwortung für Kinderbetreuung gekennzeichnet ist. Obwohl das Doppel-Verdiener-Modell in Ostdeutschland seit 1990 erodierte, halten ostdeutsche Frauen (und Männer) bis heute an den darauf gegründeten Geschlechterarrangements fest. Zwar kann bei den jüngeren Alterskohorten ein Ansteigen der Zahl von Männern festgestellt werden, die - zumindest solange kleine Kinder im Haushalt sind - für die Nichterwerbstätigkeit der Frau plädieren. Auch der Anteil der Frauen, die unter diesen Voraussetzungen nur einer Teilzeitarbeit nachgehen möchten, steigt an – nicht zuletzt auf Grund der schlechten Arbeitsmarktlage (vgl. Keiser 1997: 219-222). Dennoch sieht auch in diesen Altersgruppen wie in den älteren Jahrgängen die Mehrheit der Männer und Frauen (Vollzeit-)Erwerbsarbeit von Frauen als selbstverständlich an. Allerdings ist zu beachten, dass dieser DDR-typische Geschlechtervertrag immer auch die Hauptverantwortung der Frauen für die Hausarbeit und die Erziehung der Kinder einschloss und die große Mehrzahl der ostdeutschen Frauen diese Norm auch verinnerlicht hatte. Die auch diesem Geschlechtervertrag zugrundeliegende strukturelle Trennung von Produktion und Reproduktion und die damit verbundene Norm der Vereinbarung von Beruf und Familie für Frauen stellt ein wichtiges „Anschlussstück“ an den westdeutschen Geschlechtervertrag mit seinen vergleichsweise stärker hierarchischen Geschlechterarrangements dar. Es ist davon auszugehen, dass der aus der DDR überkommene Geschlechtervertrag auch auf absehbare Zeit mehrheitlich von ostdeutschen Männern und Frauen praktiziert wird. Weder ist eine Rückkehr zum - zunehmend veraltenden, traditionellen - Ernährer-Hausfrau-Modell auch in Ostdeutschland sehr wahrscheinlich, noch die Durchsetzung seiner „modernisierten“ Variante (männlicher Ernährer/“Hauptverdiener“ - teilzeitarbeitende, „dazuverdienende“ Hausfrau). Das nicht zuletzt deshalb, weil in Ostdeutschland die Transformation ökonomisch von Anbeginn an unter dem Zeichen des „entfesselten“, neoliberalen Kapitalismus stand. In Ostdeutschland ist heute bereits eine Flexibilisierung von Arbeitsverträgen, Arbeitsformen und Arbeitszeiten erreicht, die als „zukunftsweisend“ im Sinne einer neoliberalen Deregulierung und eines Abbaus des Sozialstaates angesehen wird.

So wird in vielen privaten Unternehmen Ostdeutschlands heute schon nicht mehr nach dem zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften ausgehandelten Branchentarif bezahlt. So gibt es für den öffentlichen Dienst spezielle Klauseln, die bis Ende 2000 den Abschluss von Tarifverträgen ermöglichten, die für ganze Berufsgruppen die (z. T. unbezahlte) Absenkung ihrer Wochenarbeitszeit aus Gründen einer „sozialen Umverteilung von Arbeit“ bedeuten (vgl. Kühnlein 1997: 32). Zudem werden in Ostdeutschland weniger Verbeamtungen vorgenommen, was wiederum die Einrichtung von Einstellungskorridoren mit zwangsweiser Verkürzung von Arbeitszeit und Gehalt für die Angestellten einschließt (vgl. ebd.: 114). Mit der Privatisierung von vormals öffentlichen Dienstleistungen ist oftmals die Entstehung von tariflich unterbezahlten, wenig gesicherten und/oder Teilzeitjobs verbunden. Der große Verlust von Arbeitsplätzen im primären und sekundären Sektor der Wirtschaft hat rasch zum Entstehen eines tertiären Sektors geführt (non-profit, ABM-Maßnahmen), für den die bisherigen Standards von „Normalarbeitsverhältnissen“ nur noch bedingt gelten. Diese Entwicklungen wirken sowohl geschlechtsneutral als auch geschlechtsspezifisch. Sie sind u.a. mit dem Terminus „Feminisierung der Erwerbsarbeit“ beschrieben worden, um anzuzeigen, dass unter diesen Bedingungen das „Normalarbeitsverhältnis“ auch für Männer immer weniger gilt. Es ist eine spannende und derzeit kaum beantwortbare Frage, ob und wie der überkommene und bislang praktizierte Geschlechtervertrag aus der DDR diese Entwicklungen beeinflusst. Ostdeutsche Frauen üben mit ihrem Festhalten an der vollzeitlichen Erwerbsarbeit einen starken Druck auf den Arbeitsmarkt aus. Vermittelt darüber tragen sie auch dazu bei, dass Kindereinrichtungen mit entsprechenden Öffnungszeiten erhalten bleiben. Die Vorstöße in Ländern wie Brandenburg und Sachsen-Anhalt, das Kita-Gesetz zu novellieren, d.h. tendenziell westdeutschen Bedingungen und Standards anzupassen, machen es ostdeutschen Frauen schwerer, an ihren Lebensplänen festzuhalten. Offen ist auch, ob die „Erwerbsneigung“ ostdeutscher Frauen unter diesen Bedingungen weiterhin „ungebrochen“ bleibt und vor allem die Ausweitung von (schlecht bezahlten, ungesicherten) Teilzeitjobs in Ostdeutschland auf Dauer verhindern kann. Offen ist, ob die auf dem Doppel-Verdiener-Modell beruhenden Geschlechterarrangements Tendenzen in Richtung auf eine mehr geschlechterneutrale Verteilung von „knapper“ Arbeit stärken können. Die Tatsache, dass - im Unterschied zu den alten Ländern - der Arbeitsmarkt in Ostdeutschland nicht eine geschlechterspezifische Aufspaltung in männliche, qualifizierte Vollzeitarbeit einerseits und weibliche, un- oder niedrig qualifizierte Teilzeitarbeit gekennzeichnet ist, könnte sich als vorteilhaft für die Neuordnung des Arbeitsmarktes und für die Entwicklung neuer Beschäftigungsverhältnisse erweisen. Schwer zu beantworten ist derzeit auch die Frage, ob und wie die eher „flachen“ Geschlechterhierarchien der praktizierten ostdeutschen Geschlechterarrangements betriebliche Rationalisierungsmaßnahmen und die Einführung neuer Formen der Arbeitsorganisation beeinflussen. Die Frage ist, ob sie ein günstiger Faktor dafür sein können, dass z.B. die angestrebten „flachen Hierarchien“ in betrieblichen Arbeitsabläufen oder in der öffentlichen Verwaltung auch zum Abbau oder zur Minimierung von bisher gängigen hierarchischen Arbeitsteilungen entlang der Geschlechterdifferenz führen. Ein Automatismus besteht hier jedenfalls nicht – schon deshalb, weil betriebliche Hierarchien und Hierarchien qua Geschlecht differente Machtverhältnisse sind.

Fazit: Mehr als 10 Jahre nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten erweisen sich die Geschlechterverhältnisse in Ostdeutschland als eine höchst ambivalente Figuration. Zum einen haben die Transformationen und neoliberalen Deregulierungen dazu geführt, dass „Geschlecht“ als sozialer Differenzierungsfaktor an Bedeutung zugenommen und Ungleichheiten entlang der Geschlechterdifferenz sich vertieft haben. Zum anderen sind, trotz unübersehbarer Angleichung an westdeutsche Verhältnisse, die Unterschiede durch das Festhalten ostdeutscher Frauen an der Vollzeiterwerbstätigkeit und durch die praktizierten und vom überkommenen Geschlechtervertrag aus der DDR bis heute beeinflussten Geschlechterarrangements ebenfalls unübersehbar. Die aus der DDR überkommenen, eher „flachen“ Geschlechterhierarchien können - im Kontext krisenhafter bzw. sich neu figurierender ökonomischer Zustände - durchaus neoliberale Deregulierungen begünstigen: z.B. Tendenzen einer „Feminisierung“ der Erwerbsarbeit, weil ostdeutsche Männer eher ausnahmsweise die alleinigen Ernährer ihrer Familien sind. Das Festhalten von Frauen an der Vereinbarkeit von Beruf und Familie bzw. an Vollzeiterwerbsarbeit kann in den veränderten Zusammenhängen aber auch Flexibilisierungen von Arbeitszeiten und von Formen der Arbeitsorganisation sowie das Unterlaufen von Tarifverträgen erleichtern und damit zur Reproduktion geschlechtsspezifischer Segregationen des Arbeitsmarktes beitragen. Das „emanzipatorische Potential“ das dem Selbstentwurf ostdeutscher Frauen zu DDR-Zeiten zugesprochen werden kann, erweist sich in den veränderten gesellschaftlichen Kontexten als höchst widersprüchlich.


II.

Um aktuelle ostdeutsche Geschlechterarrangements und die bis heute in ihnen nachwirkenden Einflüsse des DDR-Geschlechtervertrages soziologisch zu „verstehen“, ist ein gesellschaftstheoretisches Konzept des Geschlechterverhältnisses im Sozialismus notwendig.

In den sozialwissenschaftlichen Debatten um eine gesellschaftstheoretische Charakterisierung und Einordnung des „realexistierenden Sozialismus“ gehen die Meinungen weit auseinander: am häufigsten wird Sozialismus als das „ganz Andere“ im Vergleich zur kapitalistischen Gesellschaftsform gesehen oder als vormodern, quasi-feudal, ständisch u.ä.. In der feministischen Diskussion finden sich zwar etliche Versuche, das Ost- bzw. West-Patriarchat auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu befragen, aber bis auf wenige Ansätze (z. B. Beer/Chalupsky 1993) fallen sie wenig überzeugend bzw. konsistent aus – aus meiner Sicht, weil sie gesellschaftstheoretisch unterkomplex sind.

Ich maße mir nicht an, einen ausgereiften Vorschlag für die Überwindung dieser Unterkomplexität vorlegen zu können, ich kann hier nur einige Anregungen geben. Für die Konzeptualisierung des Geschlechterverhältnisses im realexistierenden Sozialismus (der DDR) halte ich es für anregend, Peter Wagners (1995) und Zygmunt Baumans (1991) entwickelten Gedanken, Sozialismus als eine Variante moderner Gesellschaften zu verstehen, aufzugreifen und mit feministischen Konzepten des modernen Geschlechterverhältnisses zu vermitteln. Damit könnte ein heuristisches Instrument entwickelt werden, das einen theoretischen Erklärungsrahmen für Geschlechterregime und praktizierte –arrangements, für (sich wandelnde) Leitbilder bzw. für (sozial)politische Maßnahmen, oder generell: Spannungsverhältnisse zwischen (hegemonialen) kulturellen Vorstellungen, Institutionalisierungen des Geschlechterverhältnisses und individuellem Handeln abgibt.

In seinem Buch „Soziologie der Moderne“ (dt. 1995), das er als Versuch einer historischen Neubestimmung der Moderne versteht, unterscheidet Peter Wagner 3 Phasen der Moderne :
- die restringiert liberale Moderne (Entstehung der industriegesellschaftlichen Moderne) - die organisierte Moderne (entwickelte Industriegesellschaft, Wohlfahrtsstaat, Höhepunkt: die „goldene Zeit des Kapitalismus“ vom Ende des 2.WK bis 60er Jahre) - die erweitert liberale Moderne („Postmoderne“).

Nach Wagner ist die Moderne durch einen Grundkonflikt gekennzeichnet: Das Projekt ist einerseits egalitär, universalistisch (universale Menschenrechte), andererseits ist für seine praktische Lebensfähigkeit unabdingbar, dass diese sozial gefährliche Offenheit durch Grenzziehungen in Raum und Zeit (die Wilden, Barbaren/die Fremden oder die Frauen/Verrückten) bzw. durch In- und Exklusionen (Nationalstaat) eingedämmt wird.

Die drei Phasen des Projekts der Moderne lassen sich unterscheiden hinsichtlich
(a) der intellektuellen Mittel (das meint die kulturellen Deutungsmuster, die eine Eindämmung legitimieren, als selbstverständlich, „natürlich“ erscheinen lassen);
(b) der institutionellen Formen und Praktiken der Eindämmung, die als zeitweilig legitime und funktionierende Lösungen des Grundkonflikts und daraus abgeleiteter Konflikte wirken, zugleich aber mit diesen Lösungen neue Konflikte erzeugen, die wiederum neue intellektuelle Mittel und institutionelle Formen erzwingen; und
(c) von substantiellen Ausschließungen (das meint die Weisen der Externalisierung von sozialen Problemen, die mit den intellektuellen Mitteln und den institutionellen Formen innerhalb einer Phase der Moderne nicht gehandhabt werden können).

Im Zusammenwirken dieser drei Dimensionen entstehen Dynamiken, die auch als Krisen der Moderne wahrgenommen werden.

Die Phase der organisierten Moderne, die eine kapitalistische und eine sozialistische Variante aufweist, ist nach Wagner gekennzeichnet durch eine tendenzielle Schließung. D.h. individuelle Freiheit und Autonomie wird im Namen eines Kollektivs beschränkt – wenn auch in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen in unterschiedlichem Ausmaß. (zu den intellektuellen Mitteln dieser Phase gehört u.a. das Konstrukt der zwei Klassen und der Nationalstaat, der alle StaatsbürgerInnen inkludiert; zu den institutionellen Praktiken gehören: Klassenparteien, Taylorismus, Homogenisierung der Mitglieder der Gesellschaft nach Alter, Beruf, Familienstand und Erwerbsstatus durch den Sozialstaat, „Normalbiografie“, soziale „Milieus“, feine Unterschiede, formelle Hierarchisierungen/Arbeitsteilungen).

Sozialismus ist für Wagner (wie für Bauman) „geradezu der Inbegriff der organisierten Moderne“, die kapitalistische und die sozialistische Variante der organisierten Moderne unterscheiden sich im Ausmaß der Unterordnung der individuellen Autonomie unter die kollektiven Arrangements.

Wagners Versuch einer „historischen Neubeschreibung der Moderne“ und seine vorgeschlagene Phaseneinteilung bieten m.E. Anschlussstücke für vorliegende Versuche der Frauen- und Geschlechterforschung, das Geschlechterverhältnis der Moderne theoretisch zu bestimmen.

Auf einer allgemeinen strukturtheoretischen Ebene hat z.B. Ursula Beer (1990) die Trennung von Produktion und Reproduktion, von marktvermittelter und Versorgungsökonomie als grundlegend für das moderne Geschlechterverhältnis herausgearbeitet. Zwar argumentiert Beer primär in marxistischer Tradition und erweitert den Begriff der Produktionsweise, indem sie Wirtschafts- und Bevölkerungsweise (Arbeit und Generativität) einer Gesellschaft zueinander ins Verhältnis setzt. Dennoch kann m.E. eine Vermittlung zu Wagners Vorstellung der Eindämmung des Projekts der Moderne hergestellt werden: die von Beer vor allem ökonomisch, aus der Logik kapitalistisch-marktvermittelter Wirtschaft begründete strukturelle Trennung von Produktion und Reproduktion lässt sich mit Wagner auch genereller als Weise der Eindämmung des universalistischen Projekts der Moderne verstehen, die sich in jeweils konkreten Formen in den verschiedenen Phasen der Moderne realisiert.

Ausgehend von der Trennung von Produktion und Reproduktion als strukturellem Merkmal moderner Gesellschaften sind von der Frauen- und Geschlechterforschung eine Reihe weiterer theoretischer Bestimmungen des modernen Geschlechterverhältnisses erarbeitet worden (Stichworte: Institutionenstrukturiertheit des Geschlechterverhältnisses, geschlechtsspezifische Arbeitsteilungen, Arbeitsmarktsegregation, Vergeschlechtlichung von Tätigkeiten und Berufen, geschlechtsspezifische Ausgestaltungen und Wirkungen des Wohlfahrtsstaates usw.), die auf Modifikationen in den Genderregimen und –arrangements im historischen Verlauf bei gleichzeitiger Reproduktion des Geschlechterverhältnisses aufmerksam machen, ohne dass unbedingt die Zuordnung zu Phasen der Moderne erfolgt. Im Anschluß an Wagners Unterscheidungen lassen sich die – bezogen auf die Institutionalisierung des Geschlechterverhältnisses – phasensspezifischen Denkmuster (intellektuelle Mittel), Institutionalisierten Formen und Ausschliessungen präzisieren.

Ich möchte dies im folgenden für die sozialistische Variante der organisierten Moderne aufzeigen:
Legt man die Annahme zugrunde, dass der Sozialismus eine Variante der Moderne, genauer: ihrer organisierten Phase ist, ist mit Blick auf das Geschlechterverhältnis zu schlussfolgern, dass dieses
a) generell durch die strukturelle Trennung von Produktion und Reproduktion sowie die zweigeschlechtliche, hierarchisierende Geschlechterordnung gekennzeichnet ist und
b) Merkmale im Geschlechtervertrag, in den Genderregimen und –arrangements aufweist, die aus der Art und Weise resultieren, mit denen die Konflikte der organisierten Moderne in der sozialistischen Variante intellektuell und institutionell-praktisch bewältigt wurden.

Der Sozialismus (im folgenden: DDR-Prägung – auf Differenzen zwischen den sozialistischen Ländern kann hier nicht eingegangen werden) verstand sich als Versuch, durch soziale Nivellierung und Homogenisierung Gleichheit herzustellen. Das Primat kollektiver Arrangements gegenüber der Autonomie und Freiheit des Individuums, die Emanzipation von differenzierenden Vergemeinschaftungsformen und sozialen Zuordnungen (wie Religion, Vereinswesen, Geschlecht, Nationalität), der Staat als Repräsentant (homogener) individueller Interessen waren Ausdrucks- und Realisierungsformen dieser Zielstellung.

Die intellektuellen Mittel, die dafür entwickelt wurden, waren unter anderem:
- Die Idee der gesetzmäßigen gesellschaftlichen Entwicklung und des Fortschritts
- Die Idee der sozialen Gleichheit und Gerechtigkeit (als Gegenbild zur ungleichen Verteilung und privaten Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums, was zu Konkurrenz, Neid und sozialer Ungerechtigkeit führt)
- Die Idee, dass produktive Arbeit (Erwerbsarbeit) der entscheidende gesellschaftliche Integrationsmodus sei und das emanzipatorische Potential für den Abbau bestehender sozialer Differenzierungen (auch qua Geschlecht) enthalte – verbunden mit der Idee der Vergesellschaftung aller existenznotwendigen Tätigkeiten (z.b. Hausarbeit, Kindererziehung, Altenbetreuung etc.). Wolfgang Engler hat dies mit dem Terminus der „arbeiterlichen Gesellschaft“ (Engler 1999:173ff) gefasst[7].

Diese intellektuellen Mittel gingen orientierend und normativ in die institutionellen Praktiken ein, wobei selbstverständlich von einem Spannungsverhältnis zwischen Ideen, ideologischen Verklärungen und Verschleierungen und objektiven Zwängen auszugehen ist (intern z.B. Arbeitskräftemangel, extern die Konfrontation der beiden Systeme, das Gefälle im Wohlstand und den politischen Freiheiten der Individuen, Abhängigkeiten von den kapitalistisch dominierten Weltmärkten).

Für das Geschlechterverhältnis hatte dies Konsequenzen: Obwohl Sozialismus durch die moderne Trennung von Produktion und Reproduktion gekennzeichnet ist und auch die sozialistische Variante der organisierten Moderne nicht auf eine Versorgungsökonomie verzichten konnte, hat die Aufhebung der Trennung von Wirtschaft und Politik, d.h. die Unterordnung der Wirtschaft unter die politischen Ziele und ihre zentrale Planung sowie Steuerung durch politische Zielvorgaben zu einer tendenziellen Verschiebung im Verhältnis von Produktion und Reproduktion geführt. Vorrang hatten tendenziell die Existenzsicherung und die Befriedigung der Bedürfnisse der Bevölkerung (auf niedrigem Niveau, konterkariert durch beständige Mängel und Engpässe, nivellierend, weil unabgängig von Leistung, aber eben auch nicht bestimmt durch die Schwankungen in Angebot und Nachfrage der Wirtschaft: es gab weder einen Arbeits- noch einen Wohnungsmarkt). Beer/Chalupsky stellen in diesem Zusammenhang zur Diskussion, „ob der ostdeutsche Realsozialismus in seiner Wirtschafts- und Bevölkerungsweise das den Kapitalismus kennzeichnende Dominanzverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage nicht geradezu umkehrt: Vorrang besitzt die Existenzgarantie gegenüber seinen Mitgliedern und zwar unabhängig von den Schwankungen im Wirtschaftsgeschehen“ (Beer/Chalupsky 1993:197). Auch wenn man soweit nicht gehen will, lässt sich aus dem tendenziellen Vorrang der Existenzsicherung der Gesellschaftsmitglieder erklären, weshalb der Realsozialismus ein beträchtliches (und seine ökonomischen Potenzen bei weitem überschreitendes) Maß der verfügbaren Mittel eingesetzt hat für sozialpolitische Maßnahmen, hohe Subventionierungen von z.B. Grundnahrungsmitteln, Mieten, Kinderkleidung, gesundheitlicher Betreuung usw., die für alle galten – jenseits von beruflicher Position und Einkommen, Alter und Geschlecht. Diese Verschiebung im Verhältnis von Produktion und Reproduktion hat – im Zusammenwirken mit anderen Normativen – zu einem spezifischen Geschlechtervertrag und zu spezifischen Genderregimen und –arrangements geführt, in denen sich die Abschwächungen in der Hierarchie zwischen Produktion und Reproduktion, in den sozialen Differenzierungen (Klassenunterschieden, Milieus und Lebensstilen – vgl. Engler 1992;1999) homolog als Abflachen von Geschlechterhierarchien niederschlagen.

Die Idee von der Teilhabe an der Gesellschaft über die produktive Arbeit (in der Verfassung als Recht auf und Pflicht zur Arbeit festgeschrieben) schlug sich in einem Geschlechtervertrag nieder, der die Angehörigen beider Genusgruppen gleichermaßen durch Erwerbs- bzw. Berufsarbeit in die Gesellschaft integrierte – die Garantie einer beruflichen Ausbildung und eines Arbeitsplatzes und damit die auf eigene Arbeitsleistung gegründete ökonomische Existenzsicherheit galt für Männer und Frauen gleichermaßen. Der Geschlechtervertrag war in sich widersprüchlich: integrierte er einerseits quasi geschlechtsneutral die erwachsenen Mitglieder beider Genusgruppen via lebenslange, vollzeitliche Erwerbsarbeit in die Gesellschaft, setzte er andererseits die normative und praktische Verantwortung von Frauen für die in der Familie verbliebenen Elemente der Versorgungsökonomie und die „generativ-reproduktiven Leistungen“ (Beer/Chalupsky 1993:198) nicht außer Kraft. Realisierte er einerseits den Zugang von Frauen zu dem gesellschaftlichen Bereich, der in modernen Gesellschaften entscheidend ist für soziale Positionierung und Zugang zu Ressourcen (und zwar, indem Frauen als formal gleiche Mitglieder der – tendenziell angestrebten klassenlosen – Gesellschaft in die Erwerbsarbeit integriert werden), ignorierte er andererseits Ungleichheiten qua Geschlecht, die Frauen durch ihre generativ-reproduktiven Verantwortlichkeiten in den verschiedenen gesellschaftlichen Tätigkeitsfeldern erfahren. Zwar konnte der Staat durch die zentrale Steuerung mit einer Vielzahl von Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie lenkend und mildern eingreifen, zugleich machte er Frauen zu Objekten der Wirtschafts- wie der Bevölkerungspolitik. Generell gilt, dass der Geschlechtervertrag dem Projekt der Gleichheit untergeordnet ist, d.h. er zielt nicht in erster Linie auf den Abbau von Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern - so folgen aus ihm z. B. eine Reihe von Maßnahmen zur Bewältigung der Doppel- und Dreifachbelastung durch Frauen, Männer werden aber „stillschweigend“ (Beer/Chalupsky 1993:201) aus dem Modell der Doppel- und Mehrfachbelastung ausgeklammert - sondern primär auf Nivellierung sozialer Differenzen und der Homogenisierung von Verhaltensweisen (die Abflachung von Geschlechterhierarchien sozusagen als Lösung eines „Nebenwiderspruchs“). Die „allumfassende Nivellierung sämtlicher Lebensformen“ (Engler 1999:175) hatte aber auch zur Folge, dass die Geschlechterdifferenz als sozialer Hierarchisierungsmodus normativ wie praktisch an Bedeutung verlor.
Die Ambivalenzen des Geschlechtervertrages manifestieren sich in widersprüchlichen Genderregimes in den unterschiedlichen Institutionen. Hier seien nur einige beispielhaft genannt:
- Formal hatten Frauen den gleichen Zugang wie Männer zu Bildung, beruflichen Qualifikationen und Berufen. Real wurde ihre Arbeitskraft einerseits den „männlichen“ Normen unterworfen und andererseits wurde sie – nicht zuletzt durch ausschließlich für Frauen angebotene, auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie gerichteten staatlichen wie betrieblichen Maßnahmen – als „anders“, abweichend usw. wahrgenommen und bewertet (die ganz alltäglich-praktische Möglichkeit z.B., in Betrieben einkaufen zu können oder zum Friseur zugehen oder bei Krankheit der Kinder bezahlten Betreuungsurlaub nehmen zu können), hat Frauen sicher die Doppelbelastungen erleichtert, aber gewiss auch dazu beigetragen, dass sie praktisch-alltäglich als nicht vollwertige Arbeitskräfte angesehen wurden.
- Auch wenn – zum Teil massiv gefördert – Frauen in sog. „Männerberufe“ gingen, war die Erwerbssphäre geschlechtsspezifisch segregiert: Ausbildungsberufe, Berufe und Tätigkeiten, Entgelt wiesen geschlechtsspezifische Differenzierungen auf; „typische Frauenberufe“ wurden mit Rekurs auf Geschlechterstereotype und generativ-reproduktive Verantwortlichkeiten von Frauen als solche eingestuft und bezahlt.
- Wurden einerseits generativ-reproduktive Leistungen – allerdings wiederum nur für Frauen – gesellschaftlich anerkannt, z.b. durch Gewährung eines monatlichen bezahlten Haushaltstages, durch bezahlte Arbeitszeitverkürzungen für Mütter mit Kindern, die Anrechnung von Kinderbetreuungszeiten auf die Rente u.a., waren andererseits sozialpolitische Maßnahmen oder die Öffnungszeiten von Kinderbetreuungseinrichtungen ausschließlich auf die Erfordernisse der Erwerbssphäre ausgerichtet – es ging um die Arbeitskraft der Frauen, nicht darum, ihnen mehr Freizeit oder Raum für die Befriedigung eigener Bedürfnisse zu schaffen.

Für die praktizierten Geschlechterarrangements möchte ich es mit einem Hinweis belassen:
Geschlechtervertrag und Genderregime in den verschiedenen Institutionen lassen keine unmittelbaren Schlüsse auf die praktizierten Geschlechterarrangements in den Familien oder den Betrieben bzw. Arbeitskollektiven zu. Die bisher dargestellten Merkmale des Geschlechterverhältnisses in der sozialistischen Variante der organisierten Moderne und ihren Ausprägungen in Geschlechtervertrag und Genderregimen können nur als vor- strukturierender Rahmen verstanden werden, in dem sich eigen-sinniges individuelles Handeln realisierte – in Übereinstimmung oder in einem widersprüchlichen Verhältnis zu diesen Vor-Strukturierungen. Um dem forschend nachzugehen, sind Konkretisierungen vorzunehmen, die über verschiedene Etappen der DDR-Geschichte, sozialstrukturelle Differenzierungen bis zur individuellen Biografie reichen. Als allgemeiner Hinweis sollte beachtet werden, was Thomas Lindenberger, in teilweise überzogener Polemik gegen Engler aber in der Tendenz durchaus beachtenswert hervorgehoben hat: gegenüber aktuell beobachtbaren Tendenzen in der Sozialwissenschaft, die im Sozialismus so stark angezielten Homogenisierungen fortzusetzen und fortzuschreiben, indem undifferenziert von ostdeutscher Kultur oder ostdeutschen Biografien gesprochen wird, betont er, den Blick auf Differenzierungen zu werfen und auch diejenigen in den Blick zu nehmen, die den hegemonialen Normen (z.B. vollerwerbstätige, verheiratete Doppelverdiener, 2 Kinder-Haushalt) nicht entsprachen (vgl. Lindenberger 2000).




Literatur

Bauman, Zygmunt (1992): Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Hamburg: Junius Verlag
Beer, Ursula (1990): Geschlecht, Struktur, Geschichte. Soziale Konstituierung des Geschlechterverhältnisses. Frankfurt/Main, New York: Campus Verlag
Beer, Ursula/ Chalupsky, Jutta (1993): Vom Realsozialismus zum Privatkapitalismus. Formierungstendenzen im Geschlechterverhältnis. In: Aulenbacher, Brigitte/ Goldmann, Monika (Hrg.): Transformationen im Geschlechterverhältnis. Frankfurt/Main, New York: Campus Verlag, S. 184-230
Dölling, Irene (1998): Structure and Eigensinn: Transformation Processes and Continuities of Eastern German Women. In: Patricia J. Smith (ed.): After the Wall. Eastern Germany since 1989. Bolder: Westview Press, S. 183-202
Dölling, Irene (2001): Ten Years After: Gender Relations in a Changed World – New Challenges for Women’s and Gender Studies. In: Jähnert, Gabriele et al. (Ed.): Gender in Transition in Eastern and Central Europe Proceedings. Berlin: trafo Verlag 2001, S. 57-66
Engler, Wolfgang (1992): Die zivilisatorische Lücke. Versuche über den Staatssozialismus. Frankfurt/Main: Suhrkamp
Engler, Wolfgang (1999): Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land. Berlin: Aufbau-Verlag
Keiser, Sarina (1997): Ostdeutsche Frauen zwischen Individualisierung und Re-Traditionalisierung. Ein Generationenvergleich. Hamburg: Kovacs
Kühnlein, Gertrud (1997): Verwaltungspersonal in den neuen Ländern. Fortbildung und Personalpolitik in ostdeutschen Kommunen. Berlin: Ed. Sigma
Lindenberger, Thomas (2000): „Kultur“, „Biographie“ und die Erfindung des Ostdeutschen: Einwände aus sozialhistorischer Sicht. In: Potsdamer Bulletin für Zeithistorische Studien, Nr. 18/19, Juni 2000, S. 22-31
Nickel, Hildegard-Maria1997): Der Transformationsprozess in Ost- und Westdeutschland und seine folgen für das Geschlechterverhältnis. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 51, S. 20-29 [Beilage zur Wochenschrift “Das Parlament”], Bonn
Nickel, Hildegard-Maria/ Hüning, Hasko 2001): Modernisierung mit oder gegen Frauen? Betriebliche Reorganisation und ambivalente Chancenstrukturen. In: Supplement der Zeitschrift Sozialismus Nr. 2/2001, S. 29-45
Nickel, Hildegard-Maria/ Schenk, Sabine (1994): Prozesse geschlechtsspezifischer Differenzierung im Erwerbssystem. In: Nickel, Hildegard-Maria/ Kühl, Jürgen/ Schenk, Sabine (Hrg.): Erwerbsarbeit und Beschäftigung im Umbruch. Berlin: Akademie Verlag , S. 259-282
Odierna, Simone (2000): Die heimliche Rückkehr der Dienstmädchen. Bezahlte Arbeit im privaten Haushalt. Opladen: Leske+Budrich
Schenk, Sabine (1995a): Neu- oder Restrukturierung des Geschlechterverhältnisses in Ostdeutschland? In: Berliner Journal für Soziologie, Jg.5 (1995), H. 4, S. 475-488
Schenk, Sabine (1995b): Erwerbsverläufe im Transformationsprozess. In: Bertram, Hans (Hrg.): Ostdeutschland im Wandel: Lebensverhältnisse – politische Einstellungen. Opladen: Leske+Budrich, S. 69-97
Wagner, Peter (1995): Soziologie der Moderne. Freiheit und Disziplin. Frankfurt/Main, New York: Campus Verlag
Winkler, Gunnar (1996): Sozialreport 1996. Sonderheft 1+2: Zur sozialen Situation und deren subjektive Reflexion in den neuen Bundesländern. Brandenburg: Sozialwissenschaftliches Forschungszentrum e.V.
Zukunftskommission der Friedrich-Ebert-Stiftung (1998): Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, sozialer Zusammenhalt, ökologische Nachhaltigkeit. Drei Ziele - ein Weg. Bonn: Verl. J.H.W. Dietz Nachf.




Anmerkungen

[1] Manuskript eines Vortrages, gehalten am 6. Februar 2001 in Hannover.
[2] Diese „Auflösungstendenzen“ bzw. eher Verschiebungen müssen keineswegs mit einem Abbau von Geschlechterhierarchien bzw. von Benachteiligungen qua Geschlecht verbunden sein. So hat z.B. Simone Odierna aufgezeigt, dass einkommensstarke Familien oder Singles Aufgaben der Kinderbetreuung bzw. reproduktive (Haus-) Arbeiten als private Arbeitgeber an Dritte (d.h. in der Regel - immigrierte - Frauen) delegieren und auf diese Weise den Anspruch beider Partner auf eine (qualifizierte) Berufsarbeit realisieren bzw. den Anforderungen an eine flexible, allzeit verfügbare Arbeitskraft gerecht werden (vgl. Odierna 2000).
[3] Die Diskussionen darüber sind in der Frauen- und Geschlechterforschung noch nicht sehr weit fortgeschritten, es hat z.B. längere Zeit gedauert, bis die unter dem Stichwort „Globalisierung“ geführten Debatten über die Deutung und Bewertung sich abzeichnender ökonomischer und sozialer Prozesse neoliberaler Deregulierung überhaupt Eingang in die feministische Debatte fanden (beispielhaft wäre hier das PROKLA-Heft 111/1998 mit dem Themenschwerpunkt „Globalisierung und Gender“ zu nennen). Je nach makro- bzw. mikrosoziologischer Perspektive bzw. je nachdem, ob der Fokus eher Deutschland oder Veränderungen in der sog.„Dritten Welt sind, werden die Chancen und Möglichkeiten für einen „geschlechterdemokratischen“ Umbau der Geschlechterverhältnisse höchst unterschiedlich gesehen.
[4] Ich konzentriere mich in meinen folgenden Bemerkungen auf die Erwerbssphäre – und zwar nicht allein aus aktuellen Gründen, sondern auch, weil die Beteiligung an der Erwerbsarbeit in der DDR ein entscheidender gesellschaftlicher Integrationsmodus für beide Genusgruppen war – s.u.. Für eine ausführlichere Darstellung der Situation von Frauen nach der deutschen Vereinigung (vgl. Dölling, 1998, 2001; Nickel, 1997)
[5] Die Einbeziehung fast aller arbeitsfähigen Frauen in die Erwerbssphäre führte zu einer Homogenisierung; dem korrespondierte auch eine Homogenisierung im „generativ-reproduktiven“ Verhalten: 1989 hatten in der DDR 90% aller Frauen im gebährfähigen Alter mindestens ein Kind geboren – dies sind wesentliche Kennzeichen der „weiblichen Normalbiografie“ in der DDR.
[6] Interessanterweise wird der Begriff der „Erwerbsneigung“ nur in bezug auf Frauen angewendet; von einer Erwerbsneigung von Männern habe ich noch nie gelesen - wahrscheinlich wird auch in der Soziologie das kulturelle Denkmuster bislang weitgehend unreflektiert angewendet, wonach „Mann“ und „Erwerbsarbeit“ per se zusammengehören.
[7] Dass diese intellektuellen Mittel keineswegs nur ideologische Phrasen der Funktionärselite waren, sondern in die soziale Selbstverortung der Individuen einflossen, zeigt Engler an Daten, wonach sich die übergroße Mehrheit der Angehörigen ausdifferenzierter Funktionsgruppen zur Arbeiterklasse zählten. (Vgl. Engler 1999:176-77)