Text | Kulturation 1/2006 | Dietrich Staritz | Forschungen zur DDR-Geschichte seit 1990
| Nachfolgender
Text ist die überarbeitete und erweiterte Fassung eines Vortrages, der
am 4. April 2006 auf dem Workshop „Die Geschichte der DDR.
Forschungsstand - Defizite - Projekte“ (veranstaltet vom Berliner
Verein „Helle Panke e. V.“) gehalten worden ist.
Text Dietrich Staritz als pdf
Eingeladen wurde ich, um über den Gang der historischen DDR - Forschung
seit 1990 zu sprechen, über die Deutungsmuster, die Kontroversen,
Desiderata und auch über die unterschiedlichen Hinsichten derjenigen,
die diese Forschung betreiben. Um das aber einigermaßen einlösen zu
können, müsste einer wenigstens den größeren Teil des seit 1990 in
nahezu schwindelerregende Höhen gewachsenen Textberges erstiegen haben
und dann ein sehr langes Referat halten dürfen. Doch weil ich das eine
nicht tat, und das andere mir nicht gestattet würde, kann ich nicht
mehr anbieten als meinen Blick auf einige Aspekte und einige Texte und
verlasse mich für das Übrige auf neuere sachverständige Darstellungen
des Forschungsstandes.
Von diesen nenne ich drei: den mehr als 550 Seiten starken Band Bilanz
und Perspektiven der DDR-Forschung, der 2003 von Rainer Eppelmann,
Bernd Faulenbach und Ulrich Mählert im Auftrage der Stiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur[1]
herausgegeben wurde. In ihm präsentierten 50 Spezialisten Überblicke
über die Forschungsstände auf beinahe ebenso vielen Teilgebieten und
sichteten insgesamt 2066 Titel, von denen die Mehrzahl nach der Wende
veröffentlicht wurde. Im selben Jahr erschien in der Reihe Enzyklopädie Deutscher Geschichte
eine Zusammenfassung zur Innenpolitik der DDR von Günther Heydemann[2],
die 524 Titel nennt, und 2005 in derselben Reihe Arndt Bauernkämpers
summierende Studie zur Sozialgeschichte der DDR[3], die auf 315 Titel
verweist. Ich habe nicht gezählt, wie viele Texte in diesen Bänden
doppelt, womöglich dreifach erwähnt werden, doch deutlich machen die
Zahlen auch so, wie intensiv über die DDR geforscht wurde und wird.
Noch ein paar Arbeiten mehr – insgesamt 7700 - fand Jürgen Kocka 2003
in einer „einschlägigen Datenbank“[4], und Klaus Dietmar Henke teilte
mit [5], dass schon 1999 etwa 45 Prozent aller Studien über die
deutsche Geschichte zwischen Kapitulation und Wiedervereinigung der SBZ
bzw. der DDR galten. Das ließ manche fürchten, die DDR sei
„überforscht“, womöglich intensiver analysiert worden als die alte
Bundesrepublik, Weimar oder die Nazizeit. Das trifft jedoch nicht,
zumal ja auch nicht alle Texte schlüssige Analysen bieten, vielmehr,
wie es Jürgen Kocka freundlich formulierte, „neben viel Getreide auch
einiges an Spreu“.[6]
***
Gehe ich von meiner Lektüre[7]und den genannten Bänden aus, zeigt sich
beim Blick auf die erkenntnisleitenden Annahmen und die aus ihnen
resultierenden Deutungsmuster ein deutlicher Wandel. Dominierten
anfangs Texte, die die DDR als stalinistische Diktatur analysierten,
waren es später Arbeiten, die sie als „zweite deutsche Diktatur“
zumeist totalitarismustheoretisch neben die NS-Diktatur stellten,
während gegenwärtig intensiver nach den Spezifika der SED-Diktatur,
nach ihrer Reichweite und ihren Grenzen gefragt wird. Für die frühen
Jahre bot sich ein Stalinismus-Ansatz durchaus an - sowohl in
Anbetracht der Politik der Besatzungsmacht als auch beim Blick auf die
ideologische wie materielle Abhängigkeit der deutschen Kommunisten von
der Stalinschen Sowjetunion, auf ihr Selbstverständnis oder ihre
Zielprojektionen. Und von Stalinscher Herrschaft erst recht nicht
abzutrennen waren in diesen Jahren die massive Verfolgung tatsächlicher
oder vermeintlicher Gegner, die Internierungslager, die Strafjustiz
sowie das Entstehen der Partei neuen Typs und der parteietatistischen
bürokratischen Strukturen, die Parteisäuberungen oder die
zentralistische Detailplanung und ebenfalls nicht die Shdanowsche
Ästhetik oder der Stalinkult samt Stalinschem ML.
Die Mehrzahl der hierzu vorgelegten Untersuchungen[8] – für die
politische Justiz nenne ich die von Falco Werkenthin, für die SED die
von Andreas Malycha, für die Lager die von Alexander v. Plato, für die
Kulturpolitik die von Gerd Dietrich, für die Wirtschaft die von Jörg
Roesler und André Steiner - unterstreichen diesen Kontext denn auch
gebührend. Vorsichtig, aber immerhin angedeutet wurde er schon in
einigen der Studien, die im letzten Jahr der DDR erschienen. Erinnert
sei an den unter DDR-Historikern seinerzeit als Blockadebrecher
empfundenen Band 9 der Deutschen Geschichte [9]oder an Rolf Badstübners
Friedenssicherung und deutsche Frage[10],
in deren Einleitung er den „Stalinismus“ immerhin als eine Kraft
erwähnte, die die Entwicklung der SBZ/DDR seit 1948/1949 „verstärkt“
beeinflusste. Später hat Badstübner zudem auf ein Arbeitspapier des
Bereichs DDR-Geschichte im Zentralinstitut der Akademie aufmerksam
gemacht, das in der Vorbereitungsphase des geplanten 12.
SED-Parteitages erarbeitet wurde und erhebliche Korrekturen des
offiziellen Geschichtsbildes jener Jahre einforderte, von der
Institutsleitung aber zurückgewiesen wurde.[11]
Nun wandelten sich aber nach Stalins Tod nicht nur die Formen der
Parteidiktatur, sondern partiell auch ihre Intentionen. Man orientierte
sich wieder stärker am ursprünglich Leninschen
Politikvermittlungs-Verständnis, an einem Konzept, das demokratische
Verfahren allerdings auch erst für den Tag nach der Weltrevolution in
Aussicht stellte. Dennoch blieben viele Autoren, die zur DDR-Geschichte
der späteren Jahre publizierten, beim Stalinismus als
erkenntnisleitender Kategorie. Dabei nahmen sie allerdings in Kauf,
dass ihre Forschungsgegenstände mit dieser Begrifflichkeit nur noch
schwer zu erfassen waren. Selbst wenn sie sich verbal um
Differenzierung bemühten und etwa von Post-, Spätstalinismus oder,
ersatzweise, von einem spätem Totalitarismus sprachen, blieben die so
etikettierten Zusammenhänge schon deshalb unscharf, weil nicht deutlich
wurde, ob oder inwieweit sich diese Herrschaftsformen von der „exzessiv
machtorientierten Ordnung der Innen- und Außenbeziehungen in einer
Gesellschaft des erklärten Übergangs zum Sozialismus“ abhoben, von
jenen Merkmalen, die seit Werner Hofmann[12] als für den Stalinismus
zentral gelten können.
Derart zu differenzieren, war freilich auch nur selten das Ziel dieser
Autoren. Viele benutzten das Wort vielmehr so, wie es üblicherweise
benutzt wird, als politische Kampfvokabel, mit der in
Rechts-Links-Kontroversen ebenso zugeschlagen werden kann wie in
Auseinandersetzungen innerhalb der Linken. Zwar war von Hermann Weber
schon vor dem Ende der DDR vorgeschlagen worden, zwischen einem
stalinzeitgenössischen und einem strukturellen Stalinismus zu
unterscheiden, der den Diktator in den Strukturen der Machtapparate
überdauerte.[13] Und in der Wende publizierte Wolfgang Ruge seine noch
immer anregenden Überlegungen zu Genesis und Wandel des
Stalinismus[14], an deren Anfang sich der Verweis auf die barbarischen
Traditionen des vorrevolutionären Russland ebenso findet wie der (in
der „linken“ Literatur bis dahin eher seltene) Nachweis, dass es
bereits unter Lenin äußerst kräftige Tendenzen zu Despotie,
Bürokratismus und ideologischer Orthodoxie gab, die dann, ab 1928
(Schachty-Prozesse), als Massenterror, Bürokratismus und Byzantinismus
zu Kernelementen im Machtsystem des „klassischen Stalinismus“ wurden.
Auf den „klassischen“ lässt Ruge den „Poststalinismus“ folgen, der
(nach dem Scheitern der Chruschtschowschen Reformversuche) durch
Ultrabürokratisierung und erhebliche Gewaltbereitschaft gekennzeichnet
gewesen sei, und er konstatiert, in der DDR habe sich der „klassische“
schon aufgrund ihrer Grenzlage nicht voll ausprägen können, ihre
Strukturen seien daher bis zu ihrem Ende weitgehend von einem
„epigonalen Poststalinismus“ geprägt gewesen, durch eine deutsche Form
der Bürokratie und latenter Gewalt also.
Schroffer als Ruge, der nur den „klassischen“ Stalinismus mit dem Tode
seines Patrons enden lässt, argumentiert der Berliner
Osteuropa-Historiker Jörg Barberowski, der in seiner Geschichte des
Stalinismus[15]gegen Stéphane Courtois’ Vorwort zum Schwarzbuch des Kommunismus
schreibt: „Der stalinistische Terror war eine kommunistische Tat, aber
nicht jede Form kommunistischer Herrschaft war terroristisch. Der
Stalinismus war eine Zivilisation, die aus dem sowjetischen Imperium
kam und mit ihm zugrunde ging. Von Stalinismus sollte also nicht
sprechen, wer vorgibt, die nachstalinsche Sowjetunion oder die
sozialistischen Staaten Ostmitteleuropas zu beschreiben“.
Es lag nahe, dass Arbeiten dieses Zuschnitts kurz nach dem Ende der DDR
reüssierten und mehr noch Studien, die sich von Totalitarismus-Theorien
leiten ließen, die SED-Herrschaft als „totalitäre Diktatur“ begriffen,
oder als „zweite deutsche Diktatur“ nach der nationalsozialistischen.
Und es überraschte auch nicht, dass viele von ostdeutschen Autoren
stammten. Da gab es zum einen das Bedürfnis, Anschluss an die
vermeintlich herrschende Lehre in der nun gesamtdeutsch dominanten
westdeutschen Interpretenzunft zu finden, zum anderen aber auch die bei
manchen durchaus verständliche Neigung, es den eben noch herrschenden
Antifaschisten auch wissenschaftlich heimzuzahlen, wozu sich nichts
besser eignete, als sie in die Nähe der Nazis zu schreiben.
***
Dabei hätte recht eigentlich gerade das Ende der DDR zu einer
kritischen Prüfung der herkömmlichen Totalitarismus-Ansätze
herausfordern müssen. Jedenfalls dann, wenn man ihr Zusammenbrechen mit
dem Inferno von 1945 verglich. Phänomene, die sich so wenig demselben
Herrschaftstyp zuordnen lassen wie die Charakteristika der NS- und der
SED-Herrschaft: der militaristische Expansionismus und mörderische
Rassismus auf der einen Seite und auf der anderen die im Innern geübte
Repression von „Klassenfeinden“ und Regimegegnern aller Couleurs. Diese
Differenz der Ziele und Mittel lässt sich auch nicht unter dem Dach der
ins Spiel gebrachten „modernen Diktatur“ aufheben, die ebenfalls
(allerdings mit Blick auf industriegesellschaftlicher
Modernisierungsprozesse) auf einen Vergleich von Diktaturen zielt.[16]
Natürlich war die SED-Herrschaft Diktatur. Es gab es weder Koalitions-
noch Meinungsfreiheit, weder Verfahren, die allen die Chance boten, an
politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen teilzuhaben,
noch einen funktionstüchtigen Rechtsstaat samt Verwaltungs- und
Verfassungsgerichtsbarkeit, vielmehr die stets wache Bereitschaft,
„feindlich-negative Elemente“ zu „bearbeiten“ und „auszuschalten“. Und
tatsächlich herrschte die SED–Führung ohne eine explizite, in
kompetitiven Wahlen ermittelte Zustimmung der Gesellschaft; sie stand
noch nicht einmal unter der Kontrolle der Parteimitglieder, konnte
jedoch mit Hilfe ihres Staates über alle materiellen Ressourcen der
Gesellschaft verfügen.
Und dennoch bleibt bei ihrer Subsumtion unter den Großbegriff
„Diktatur“ offen, was die Diktatur der SED-Führer - außer der Tatsache,
ebenfalls keine Demokratie gewesen zu sein - mit der Herrschaft der
NS-Eliten gemein hatte, zumal diese - auch um besser zu verstehen,
warum sie so lange, so grausam funktionierte - mittlerweile auch als
„Zustimmungsdiktatur“ gedeutet wird[17]. Auch wenn sich Fachkollegen an
Götz Alys Begriffen, an seinen „öffentlichkeitswirksamen
Knallfröschen“[18], reiben, sind Kategorien wie diese für das
Untersuchen der widersprüchlichen Komplexität nichtdemokratischer
Machtverhältnisse wohl besser geeignet als die herkömmlichen, eher
„glatten“. Jedenfalls eröffnet die Annahme, Diktatur und Zustimmung
seien komplementäre Elemente dieser Systeme, mehr Wege zu ihrer Analyse
als das Behaupten ihrer Unvereinbarkeit. Und auch für vergleichende
Untersuchungen könnte sie nützlich sein, speziell dann, wenn nach dem
Schicksal derer gefragt wird, die nicht zustimmen. Zudem ist (und
zurecht) gefragt worden, ob die NS-Diktatur nicht vor allem antimoderne
Züge gehabt habe und so wie ihre Ideologie besser als „reaktionärer
Modernismus“[19] zu kennzeichnen sei. Auf der anderen Seite wurde
angemerkt, dass die SED-Führung schließlich auch deshalb scheiterte,
weil sie unfähig war, Modernisierungsprozesse zu initiieren, weshalb
sie Ralf Dahrendorf schon in den Sechzigern einen „unmodernen
Modernisator“ genannt hatte.
Immerhin luden diese Unterschiede dazu ein, die SED-Diktatur
begrifflich genauer zu bestimmen. Die Deutungsmuster reichen von der
intentional durchgängig gesteuerten, real aber nur partiell zu
kontrollierenden „Organisationsgesellschaft“[20] über die ironisch so
genannten „Diktatur der Liebe“[21], die „Konsensdiktatur“[22]. bis zur
„Fürsorgediktatur“[23] oder zur Entdeckung der DDR als
politisch-kulturelle Wiedergängerin des preußisch - paternalistischen
Polizeistaates[24], was sie in die Nachbarschaft zum autoritären
Obrigkeitsstaat rückte, in dessen Nähe auch ich die späte DDR
verortete.[25] So interpretationsbedürftig diese Label im Einzelnen
auch sein mögen: Es scheint in jedem mehr auf als nur ein Moment der
realen DDR in ihren späten Jahren; jedenfalls ist jedes
erklärungstüchtiger als die Koppelung „posttotalitärer Überwachungs-
und Versorgungsstaat“[26], die ihre Schöpfer womöglich als politisch
besonders korrekt empfanden.
Ich sagte es schon: Die meisten Studien, wenn auch keineswegs alle, die
einem Stalinismus- oder Totalitarismus-Ansatz folgten, erschienen in
den ersten Jahren der Einheit, in einer Zeit, in der DDR-Geschichte vor
allem von ihrem Ende her erzählt wurde. Mit Zorn und Eifer und entlang
der Hypothese, die DDR habe sich in einem dauernden Ausnahmezustand
befunden oder sei seit ihren Anfängen ihrem Ende entgegengekriselt. Dem
entsprach ein gewissermaßen teleologisches Zuordnen von Prozessen und
Ereignissen, die als Vorspiele ihres Untergangs gewertet wurden –
markant im „Untergang auf Raten“.[27] Zwar übernahmen diesen Zugriff
nur wenige. Im Mittelpunkt vieler Untersuchungen aber standen fortan
die Machtstrukturen, die Unterdrückung von Opposition und Widerstand,
und geforscht wurde speziell auf der Basis der ungeheueren Fülle der
Stasi-Akten. Es interessierten mithin – und das war angesichts der
Betroffenheit vieler Autoren auch verständlich - mehr der Steuerungs-
und Repressionsapparat als die Wirkungen politischer Entscheidungen
jenseits dieser Untersuchungsfelder.
Und für Forschungen dieser Art sind Ansätze aus dem Angebot der
Totalitarismustheorien schon deshalb nützlich, weil sie – gleich ob sie
von einem Merkmale - Set à la Friedrich/Brzezinski herkommen oder von
Hannah Arendts These von der ideologieimmanenten Tendenz zum Terror -
mehr auf das Offenlegen von ideologischen Inputs, Strukturen und
Methoden der Herrschaft aus sind als auf die Analyse von
politisch-sozialen Vermittlungsprozessen. Allerdings kommt auf diese
Weise die Gesellschaft oft nur als Objekt der Politik ins Visier, und
sie ist - angesichts eines vermeintlich omnipotenten, vielgliedrigen
parteistaatlichen Bewegungsapparats und seines sensiblen Nervensystems
- fast immer Widerpart der Herrschenden und nur selten zu Kompromissen
oder Arrangements bereit.
Nun hat Wahrnehmung immer auch mit dem Blickwinkel zu tun, den jemand
wählt. Anders gesagt: Wer mit einem Vorverständnis fragt, das der
Parteiführung den Willen unterstellt, die Einzelnen rundum, also
totalitär, zu erfassen, zu lenken und letztlich zu formen, der schaut
natürlich vor allem darauf, wie sie das gemacht hat. Zum Prüfen der
Outputs verführt eine solche Haltung jedenfalls nur sehr bedingt.
Weshalb denn auch in vielen dieser Studien entweder unterwegs der
Blickwinkel gewechselt wurde oder aber die Gesellschaft blass blieb –
ohne Aussagen darüber, wie politische Entscheidungen sozial verarbeitet
wurden, zu welchen Veränderungen der Wertehorizonte, Mentalitäten,
Einstellungen, Haltungen oder Kommunikationsweisen der Wandel der
Sozialstruktur beitrug oder die Veränderungen der Arbeitsverhältnisse
und der Zeitbudgets. Studien dieser Art gaben deshalb auch kaum
Antworten auf Fragen nach den Folgen des sozialen Wandels für die
Sozialstruktur der politischen Akteure, für deren Wertehaushalte,
Mentalitäten und schließlich auch für ihre Entscheidungen. Anders
gesagt: Wer nach Interdependenzen nicht fragt, findet leicht überall
Dichotomien.
Für diese mit (im engeren Sinne) sozialwissenschaftlichem Interesse
gestellten Fragen an die politische Geschichte der DDR brachten in der
Folgezeit jene Forschungen Fortschritte, die (zumeist durchaus im
Einverständnis mit der These von der „modernen Diktatur) darauf zielen,
die DDR wieder als eine unter Modernisierungszwang stehende
Industriegesellschaft zu analysieren. Wieder
meint: Wie schon in den Siebzigern und Achtzigern - sowohl in der DDR
(in allerdings eher legitimatorischer Absicht) wie auch in der
Bundesrepublik, wo die Autoren deshalb nach der Vereinigung zuweilen
als miese Patrioten oder Systemgrenzen-Verwischer gescholten wurden
(was ich im Übrigen nicht als wirklich beleidigend empfand). Wie alle
anderen stehen natürlich auch diese sozialgeschichtlich angelegten
Arbeiten unter dem Eindruck des Untergangs der DDR. Ihre Autoren aber
wollen, was Detlef Pollack hervorhob, nicht nur die Gründe ihres
Zusammenbruchs besser verstehen, sondern auch genauer bestimmen, warum
sie so lange relativ stabil und lebensfähig war[28] - was eben, auch
nach Kocka, nicht nur eine „Funktion der sowjetischen Macht“ war, noch
„nur eine von Drohung und Zwang“ - so bedeutsam beides auch gewesen ist
-, sondern vielmehr auch „aus der Akzeptanz [folgte], die [die DDR] bei
Teilen der Bevölkerung fand, aus ihren Erfolgen und Leistungen, aus den
vielfältigen Arrangements, die Konflikte verarbeiteten, bevor sie
ausbrachen und, wenn schon nicht Zustimmung, doch Tolerierung
bewirkten“.[29]
Zu konsensfähigen Resultaten haben Untersuchungen dieser Art bislang
nicht geführt. In den Blick aber kam der „Alltag“, d.h. neben den
formalisierten Strukturen auch die – allerdings nur schwer zu
rekonstruierenden - informellen Kommunikationsweisen und Arrangements.
Dieser Alltag wird – mit einem Begriff, den Alf Lüdtke in Umlauf
brachte[30]– weithin als „durchherrscht“ beschrieben, als stärker auf
Herrschaft bezogen denn in anderen bürokratisierten Gesellschaften, und
die DDR, etwa von Arnd Bauernkämper[31], der sich wiederum auf Kocka
beruft, als eine „durchherrschte Gesellschaft“ charakterisiert, in der
„die Diktatur die sozialen Strukturen und Beziehungen [...] durchdrang“.
So sehr das im Konkreten auch nachweisbar ist, bleibt doch offen, ob
mit dieser Kategorie das ganze - ja auch in der DDR
vielschichtig-pralle - Leben hinreichend differenziert zu erfassen ist,
und es bleibt zudem die Frage, wie die Einzelnen, die formalisierten
Kollektive, die informellen soziokulturellen Milieus und letztlich die
Gesellschaft, mit diesem Faktum umgingen. Bislang lautet die Antwort:
teils mit Strategien, die die Herrschaftsansprüche ins Leere laufen
ließen, teils mit informellen Arrangements oder einer eigenwilligen
Interpretation und Sinngebung des politisch Gewollten, mit einem so
verstandenen „Eigen-Sinn“ [32], mit Kommunikationsweisen also, die dem
diktatorialen Durchherrschen des Alltags Grenzen setzten [33] .
Und schwierig ist es auch, mit dem Begriff der „durchherrschten
Gesellschaft“ mehr Trennschärfe gegenüber anderen Gesellschaften zu
erreichen - auch mit Blick auf die klassischen Demokratien. Denn
natürlich sind auch die in weiten Teilen „durchherrscht“. Gewiss nicht
so explizit politisch wie die alte DDR, aber doch ganz anders als es
ihr Idealtyp verspricht. Auch in ihnen gibt es weite Bereiche, etwa die
Produktion, die Geld- und Kapitalmärkte oder die privaten Massenmedien,
in denen demokratisch kaum oder gar nicht legitimierte Eliten das Sagen
haben. Doch schon deshalb, weil diese Kategorie für die Realität
politisch-sozialer Vermittlungen offen ist, und sich nicht nur auf die
auf die Intentionen oder Methoden der Herrschenden bezieht, ist sie den
Ansätzen überlegen, die allein diktatur- oder totalitarismustheoretisch
operieren.
***
Vor dem Hintergrund dieser stärkeren Hinwendung zu den
politisch-sozialen Interdependenzen werden in jüngerer Zeit auch einige
jener Urteile überprüft, die mehr oder weniger ausschließlich auf der
Totalitarismus-Lesart beruhten – etwa mit dem Wort „autolitär“, mit dem
Eckart Jesse[34] andeuten wollte, so ganz totalitär sei die späte DDR
nun auch nicht verfasst gewesen, sondern da und dort bloß autoritär,
also nicht so umfassend gesteuert, verwaltet und ideologisch
kontrolliert, wie es Totalitarismus-Konzepte nahe legen. Das ist ein
Urteil, das weithin dem entspricht, was bereits in der alten
Bundesrepublik über die DDR zu lesen war, jedoch in der Wendezeit in
den Geruch geriet, die DDR zu verharmlosen. Ein bisschen sieht das
Günther Heydemann auch heute noch so, wenn er Autoren, die schon damals
totalitarismuskritisch argumentierten, weiterhin vorwirft, sie hätten
die „Allmacht des Ministeriums für Staatssicherheit“ verkannt.[35] Ein
paar Seiten später konstatiert allerdings auch er – ähnlich wie Kocka
und gestützt auf den mittlerweile wieder erreichten Forschungsstand -,
dass sich „das ambivalente Beziehungsverhältnis zwischen Herrschaft und
Beherrschten [...] mit der Ausübung repressiver Herrschaft allein nicht
erklären“ lasse (die Staatsicherheit zur Herrschaftssicherung also
„allmächtig“ nicht sein musste – D. St.), weil die DDR eben nicht
allein durch Zwang zusammengehalten wurde, es vielmehr eine „breite
Palette unterschiedlicher Haltungen und Handlungen gegenüber dem
SED-Regime seitens der Bevölkerung“ gab, „die von überzeugter aktiver
Mitwirkung über loyale Akzeptanz und erzwungener Teilnahme bis hin zu
Passivität, Verweigerung, Resistenz, Dissidenz und – in Einzelfällen –
Widerstand reichten“.[36] Weshalb er mit Jesse zu dem Schluss gelangt,
dass sich das Machtsystem im Laufe der Jahre zu einem „auch von
autoritären Zügen geprägten“ gewandelt habe, wobei „schon an dieser
zeitlichen Problematik“ deutlich werde, dass „gängige Großtheorien wie
z.B. das Totalitarismus-Modell, wissenschaftlich nicht mehr ausreichen,
um ein adäquates Beschreibungs-, Analyse- und Erklärungspotential zu
offerieren“[37].
Das entspricht – ich übertreibe kaum – dem, was in der Bundesrepublik
Hartmut Zimmermann[38], Peter Christian Ludz[39] und Ernst Richert[40]
Anfang der sechziger Jahre als ihr Forschungsproblem thematisierten:
die Schwierigkeit, mit Hilfe von Totalitarismus- Ansätzen den auch in
kommunistischen Systemen erkennbaren politischen und sozialen Wandel zu
erfassen. Weshalb sie nach neuen Zugängen suchten, nach einer
Annäherung, die als kritisch-immanente
Methode zwar umstritten blieb, aber Schule machte - trotz der anfangs
starken Dominanz der damals noch etwas grobschlächtigeren
Totalitarismus-Versionen, die ja nicht allein der Forschung dienen
sollten, sondern zuerst der Systemauseinandersetzung, auch indem sie
dem schmucken Idealtyp der demokratisch verfassten Gesellschaft den
wissenschaftlich erarbeiteten vermeintlichen Realtyp der totalitär
beherrschten gegenüberstellten und dabei Faschismus und Kommunismus
über denselben Leisten schlugen[41].
Allerdings hätten diese Modelle ohne die Realität der Stalin-Diktatur
kaum Karriere gemacht und nach dem Tod des Diktators ohne den Kalten
Krieg wissenschaftlich nicht überlebt. Dass sie nach dem Zusammenbruch
des Sowjetblocks in den Neunzigern eine Renaissance erlebten, ist denn
auch nicht umstürzend neuen Einsichten geschuldet, sondern der
Befindlichkeit der Sieger - vor allem aber den Aktenbergen der
Staatssicherheit, die zeigen, dass am Totalitarismus-Vorhalt zumindest
eines zutrifft, nämlich die bis zuletzt vitale Intention der
Herrschenden, die Gesellschaft möglichst lückenlos unter Kontrolle zu
halten. Vielleicht deshalb, weil sie zumindest dann und wann ahnten,
wie fragwürdig die Legitimität ihrer Machtpositionen war, gewiss aber
deshalb, weil sie sich bis zum Schluss an den 17. Juni erinnerten.
Dieses Datum nun bot Bernd Eisenfeld, Ilko-Sascha Kowalczuk und Erhart
Neubert den Anlass, sich in ihrer Arbeit über „Die verdrängte
Revolution. Der Platz des 17. Juni 1953 in der deutschen
Geschichte“[42] zunächst mit denen auseinander zu setzen, die sich der
DDR- Geschichte nicht mit einem Totalitarismus-Ansatz zuwenden, sondern
mit sozial- und kulturgeschichtlichen Methoden, um mehr über die
eigentümlich „durchherrschten“ Beziehungen zwischen der Gesellschaft
und der politischen Sphäre der DDR zu erfahren. Diesen Autoren wurde
unterstellt, sie sprächen von „durchherrschter Gesellschaft“ womöglich
nur „aus taktisch-wissenschaftlichen Gründen“, damit sie „die
Totalitarismus-Theorie nicht bemühen [...] müssen“, denn recht
eigentlich sei diese Kategorie doch lediglich „ein ’Alternativbegriff’
für [die] totalitär verfasste Gesellschaft [...]“.[43] Nachdem das
geleistet war, wurden auch Pollacks Organisationsgesellschaft, Jessens
Nachdenken über die Grenzen der Diktatur und Thomas Lindenbergers
Überlegungen zum Eigen-Sinn eingemeindet[44], denn schließlich leugne
ja keiner von ihnen die Diktatur, gehe implizit also ebenfalls von
einer totalitär verfassten DDR aus - so, als ob Diktatur und totalitäre
Diktatur Synonyme wären. Sicher: Sie sagen es etwas anders, nicht aber
plausibler, und es bleibt der Eindruck, es gehe ihnen allein um die
politische Funktion der Vokabel, um den Kampfbegriff, und nicht um die
analytische Reichweite der Totalitarismus-Kategorie.
Auch wenn sie Kompromissstrukturen und Arrangements für die DDR nicht
gänzlich ausschließen, so glauben sie doch, dass sich im Verlaufe ihrer
Geschichte am Gegensatz zwischen dem Willen der Mächtigen und dem
Wollen der Gesellschaft nichts Nennenswertes geändert habe. Feine
Unterschiede sind ihre Sache nicht, weshalb sie sich beim Blick auf den
17. Juni denn auch ganz sicher sind, dass sich der Aufstand nicht „vor
allem gegen Ulbricht und die dogmatischen Anhänger des
Sowjetkommunismus“ gerichtet habe, was einst Hermann Weber schrieb,
„sondern gegen den Kommunismus an sich“ und „eben nicht gegen
Spielarten“[45]. Diese pauschale Aussage kann sich allerdings weder auf
ältere Untersuchungen berufen, noch auf die Befunde der Studien
stützen, die anlässlich des 50. Jahrestages in großer Zahl erschienen
sind und 2004 von Jochen Cerny[46] summarisch vorgestellt wurden. Auch
liefern weder die älteren noch die neuen Arbeiten unzweideutige
Anhaltspunkte dafür, dass es das „Ziel“ des Aufstandes war, durch den
Sturz des Kommunismus zur Einheit Deutschlands zu kommen und die
Rebellion deshalb eine - wenn auch gescheiterte - Revolution war, deren
Intention schließlich 36 Jahre später von der „zweiten Revolution“,
erfüllt wurde, was die Verfasser insgesamt beweisen möchten.
In „Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung“ aus dem Jahre 2003 hatte
Mitautor Kowalczuk in seinem Resümee des Forschungsstandes zum 17. Juni
im Übrigen noch geschrieben, in den letzten Jahren habe sich „zunehmend
die Meinung durch[gesetzt], dass sich aus dem anfänglichen
Arbeiteraufstand rasch ein Volksaufstand entwickelte“, während
„umstritten“ sei, „inwiefern der „Volksausstand den Charakter einer
‚gescheiterten Revolution’ annahm“.[47] Wohingegen Günther Heydemann im
selben Jahr in seinem Überblick über die Forschungen zur Innenpolitik
zu dem Schluss gelangte, es habe sich um einen „Arbeiteraufstand“
gehandelt, der – bevor ihn die Waffen niederhielten - „auf dem Wege zu
einem Volksaufstand begriffen war“.[48] Und weil es an eindeutigen
Befunden tatsächlich fehlt, regte Arndt Bauernkämper 2005 in seinem
Bericht über den Stand der Arbeiten zur Sozialgeschichte der DDR denn
auch an, „die Forschung zu der unterschiedlichen Ausprägung des
Aufstandes in den einzelnen Regionen und sozialen Gruppen der DDR [...]
zu intensivieren“.[49]
Die apodiktischen Aussagen der Autoren der „verdrängten Revolution“,
mehr noch ihre politischen Urteile über DDR-Intellektuelle, die anders
als sie über den 17. Juni dachten, machten einer Rezensentin die
Lektüre des 847 Seiten langen Textes „zu einem unangenehmen Erlebnis.
Der Leser ist nicht selten peinlich berührt“, schrieb Franziska
Augstein.[50] Und das ist nachzuvollziehen, wenn man nach einer langen
Passage über das Schicksal seiner „Fünf Tage im Juni“ zu Stefan Heyms
Haltung in der „Wende“ liest: „Er war verletzt, weil er den Geist der
demokratischen Revolution auch in seiner Literatur nicht in der Flasche
halten konnte“ (S.626). Oder über Erich Loests facettenreiche
Autobiographie „Durch die Erde ein Riß“: „Seine Erzählweise bringt es
mit sich, dass der Leser in ein changierendes Feld von
deutungsbedürftigen Informationen gestellt wird. Das ist zugleich
spannend als auch lästig“ (S.633). Wolf Biermann immerhin attestieren
sie, sein Satz: „Er war schon ein Arbeiteraufstand, aber noch
eine faschistische Erhebung“ - 1976, beim legendären Kölner Konzert
gesprochen - habe wohl auch damit zu tun, dass er bereits als
Jugendlicher die „Legitimationsmuster des SED-Regimes [...] tief
verinnerlicht“ habe - „schon wegen seines Umzuges von Hamburg in die
DDR [...]“ (S.631). Zudem zeige sich in seiner „ambivalenten Haltung“
zum 17.Juni aber auch ein „grundsätzliches Problem der Opposition“ der
siebziger Jahre - weil die nämlich „einen völlig anderen politischen
Ansatz“ verfolgte „als die Aufständischen des Jahres 1953“.
Also doch mehr Wandel als Kontinuität in den Intentionen, doch nicht
nur ein Warten auf die zweite, die nationale Revolution, doch etwas
anderes, als es ein verklärter Siegerblick von den lichten Höhen des
Gewordenen hinab ins triste Tal des Gewesenen zu zeigen scheint. Und
obwohl das recht eigentlich alle wissen, die sich einmal intensiver mit
der DDR-Geschichte beschäftigt haben, gab es - soweit ich sehen kann
(bzw. lesen konnte) - neben Franziska Augstein nur wenige Rezenten[51],
die sich kritisch auseinander setzten mit dieser Lesart vom
Volksaufstand für die Einheit und seiner Deutung als erste
revolutionäre Woge, der 1989 eine zweite, die national-revolutionäre
Sturmflut folgte.
Womöglich fehlen Einwände deshalb, weil viele (womöglich in ernster
geschichtspädagogischer Absicht) so wie die Autoren meinen, auch aus
einer derart stilisierten Vergangenheit Material für die mentale
Vereinigung der Deutschen gewinnen zu sollen, wozu die Ostdeutschen den
Westdeutschen ein bisschen näher zu bringen seien, und wenn schon nicht
alle, so doch wenigstens die, die sich für das Projekt der Einheit
heute so engagieren wie ihre Eltern und Großeltern damals. Käme ein
solcher Konsens tatsächlich zustande, dann wäre nicht auszuschließen,
dass sich „der Revolutionsmythos und der Nationalmythos die in der
Bundesrepublik bereits 1953 entstanden waren, [wirklich – D. St.] zu
einem neuen Großmythos vereinen, wonach der 17. Juni Vorbote der
Wiedervereinigungs-Revolution 1989/90 gewesen sei“, was Edgar Wolfrum
1999 am Ende des Resümees seiner Untersuchung der westdeutschen
Rezeption des 17.Juni durchaus mythenkritisch angemerkt hatte.[52]
Von den Verfassern der „verdrängten Revolution“ wurde dieser Satz
offenbar als Ansporn verstanden, wenn sie schreiben, dass sich ein
solcher „’geschichtspolitischer ‚Mythos’“ allerdings „auf Dauer“ nur
dann „als tragfähig“ erweisen werde, wenn, sein „Kern“ den historischen
Abläufen „gerecht“ werde und in der„gesellschaftlichen
Erinnerungskultur fest verankert“ sei. Dass der „Kern“ ihrer Erzählung
diesem Anspruch genüge, behaupten sie, und fürs Verankern wollen sie
sorgen, wozu jedoch „ein Mindestmaß an Kommunikation zwischen den
historischen Wissenschaften und den gesellschaftlichen Multiplikatoren
unabdingbar“ sei, und „letztlich [...] vieles davon ab[hänge]“, ob in
der Gesellschaft „eine Aufnahmebereitschaft gegenüber den Erzählungen
vom ‚17. Juni’“ bestehe.[53]
Was ein (noch dazu positiv gedeuteter) „geschichtspolitischer ‚Mythos’“
sein könnte, sagen sie nicht, doch der Versuch, aus einer
geschichtspolitischen Sinngebung des 17. Juni einen für die Deutschen
identitätsstiftenden Mythos zu destillieren, spricht nicht eben für
wissenschaftliche Ambitionen, er verweist vielmehr auf
geschichtspropagandistische Absichten, was mich wiederum an die alte
DDR erinnert. Den bloßen „Mythos“ deutet der Fremdwörter-Duden als
„überlieferte Dichtung“, „Sage“, „Erzählung aus der Vorzeit eines
Volkes“ oder als „Person“, „Sache“ und „Begebenheit“, die „(aus meist
verschwommenen, irrationalen Vorstellungen heraus) glorifiziert
[werden], legendären Charakter [haben]“, sowie schlicht als „falsche
Vorstellung“[54]. Was fiele ihm wohl zu einem geschichtspolitischen
ein?
***
Dass die Autoren, die 2004 Mitarbeiter der Birthler-Behörde waren, mit
ihrer Arbeit, die in der wissenschaftlichen Reihe ihres Amtes erschien,
ihre eigenen Auffassungen wiedergaben, versteht sich von selbst. Dass
diese jedoch nicht „ausschließlich“ die ihren sind (wie es im
obligatorischen Hinweis der Herausgeber heißt), darf angesichts des
Auftrages des Hauses angenommen werden. Was zur Frage überleiten
könnte, in welchen institutionellen und politischen Zusammenhängen die
noch immer stark politisierten Forschungen zur DDR-Geschichte
stattfinden. Für präzise Antworten fehlt mir der genaue Überblick. Beim
Lesen aber gewann ich den Eindruck, dass sich die Vorhaben, die von
Bundes- bzw. Landeseinrichtungen betreut oder finanziert werden - etwa
vom Bundes- oder den Landesbeauftragten für die Stasiakten, der
„Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“, der Bundeszentrale oder
den Landeszentralen für politische Bildung und zum Teil auch vom
Dresdener Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung – mehr an
politischen Vorgaben oder einem (politischen) Bildungsauftrag
orientieren als die Projekte der Universitäten, des Potsdamer Zentrums
für Zeithistorische Forschung oder der Berliner Abteilung des Münchener
Instituts für Zeitgeschichte, die im Übrigen weitgehend auf Drittmittel
angewiesen sind. Zu ihnen zähle ich auch den Berliner
„Forschungsverbund SED-Staat“, dem Klaus Dietmar Henke bescheinigte, er
verstehe es, „sein Talent zu medialer Inszenierung mit seriöser
Forschung zu verbinden[55], auch wenn ich mir wünschte, dass alle seine
Mitarbeiter im Verlaufe ihrer operativen Personenkontrollen zuweilen
auch an ihre eigenen „unruhigen Jahre“ und politischen Irrtümer
dächten, ehe sie über die der anderen urteilen.[56]
Es ist wohl auch kein Zufall und sicher auch nicht auf die
unterschiedliche wissenschaftliche und/oder politische Sozialisation
der dort Mitarbeitenden zurückzuführen, dass die staatsnäheren
Einrichtungen eher Totalitarismus-Ansätzen folgen, während die anderen
mehr mit Fragestellungen und Methoden arbeiten, die in ihren
„Mutterdisziplinen“ entwickelt wurden, etwa in der Sozial-,
Gesellschafts-, Kultur- oder Mentalitätsgeschichtsschreibung. Zwar
hoffe ich, dass der FDP-Politiker Dirk Hansen, der bis 2000
Vizepräsident der Bundeszentrale für Politische Bildung war, nicht im
Namen aller Liberalen schrieb, als er 2003 in „Bilanz und Perspektiven“
vehement für den Totalitarismus-Ansatz warb und postulierte, in der
politischen Bildung solle auch die Beschäftigung mit der DDR-Geschichte
zur „Delegitimierung der Diktatur zum Schutze der Demokratie“
beitragen[57]. Denn selbst wenn in dieser Formulierung tatsächlich
Sinnvolles aufscheinen sollte, so wäre Forschung, die einem so
verstandenen Verfassungsschutz zuzuarbeiten hätte, doch nur noch
bedingt frei.
Auch wenn in den meisten forschenden oder forschungsfördernden
Einrichtungen neben bundesdeutsch Sozialisierten auch gelernte DDR-
Menschen arbeiten, werden sie in der Regel von Fachleuten aus der alten
Bundesrepublik geleitet, die nur gelegentlich von solchen aus der
„regimekritischen Intelligenz“ der alten DDR (Henke) flankiert sind.
Das ist die Folge der als Beitritt zur Bundesrepublik vollzogenen
Wiedervereinigung und der mit ihr einhergehenden „Abwicklung“ des
größten Teiles der bis dahin In der DDR an der Geschichte Schreibenden,
die Henke in „Bilanz und Perspektiven“ einen „alles in allem mit
Augenmaß betriebenen Klärungsprozess“ genannt hat (S.371). Wohingegen
Stefan Berger in seinem Überblick über deren Schicksal, Arbeit und
Netzwerke nach 1990[58] davon sprach, dass eine „offene, nach
nachvollziehbaren Kriterien ablaufende Evaluierung nur an der Akademie
der Wissenschaften“ stattfand, während die an den Universitäten „in der
Regel nebulöse Angelegenheiten“ waren, „mit Geheimgutachten und anderen
zweifelhaften Praktiken“.
Nun will ich Ihnen nicht Ihr Leid klagen. Darüber hat Berger sehr
differenziert geschrieben und zudem seinen Eindruck von der
mittlerweile entstandenen „alternativen historischen Kultur“ in den
neuen Ländern mitgeteilt, von den älteren, zumeist Abgewickelten, die
in Arbeitskreisen, in parteifernen oder –nahen Bildungsvereinen ohne
öffentliche Mittel forschen, und auch von denen, deren Arbeit von
parteinahen Stiftungen gefördert wird, von ihren zuweilen kontroversen
Sichtweisen und durchaus unterschiedlichen politischen Orientierungen.
Mit „Augenmaß“ hat das im Oktober 2003 in Potsdam auch Jochen Cerny
getan, bei einem Colloquium über Forschungen zur DDR-Geschichte
anlässlich der Publikation des Bandes „Bilanz und Perspektiven“. Ich
denke, dass seine Anmerkungen demnächst veröffentlicht werden, brauche
sie deshalb nicht wiederzugeben, möchte aber anmerken, dass auch ich
den Eindruck gewann, dass das Nichterwähnen vieler Arbeiten ehemaliger
DDR-Autoren in den genannten Überblicken zum Forschungsstand
wissenschaftlich nicht zu begründen, dafür aber geeignet ist, sie
weiterhin auszugrenzen.
Viele der damals noch jüngeren Wissenschaftler hingegen, aber auch
ältere - sofern sie in Dauerstellen oder zeitweise (in befristeten
Projekten) weiterarbeiten konnten – haben sich im Forschungsdiskurs gut
etabliert. Ich verweise beispielhaft auf:
Jörg Roeslers Beiträge zur Wirtschafts- , Anschluss- und nun zu einer „deutschen Nachkriegsgeschichte“,
Peter Hübners breit angelegte sozialgeschichtliche Studien,
Michael Lemkes Analysen der Deutschlandpolitik der SED,
Monika Kaisers Mittelstands- und Machtwechsel-Untersuchungen,
Andreas Malychas und Peter Erlers Arbeiten zur SED-Geschichte,
Manfred Willes Beiträge zur Entnazifizierungs- und „Umsiedler“-Politik,
André Steiners Untersuchungen der Wirtschaftsreform und seine
Gesamtdarstellung der Wirtschaftsgeschichte der DDR, zu deren
Erforschung
Rainer Karlsch und Burghard Ciesla speziell durch ihre Studien zur Reparationsproblematik Wesentliches beitrugen, auf
Detlef Nakaths und Gert-Rüdiger Stephans Arbeiten und Editionen zu den
innerdeutschen Beziehungen sowie die von ihnen mitbesorgten Handbücher
zur SED, den Parteien und Massenorganisationen und jetzt zur Deutschen
Zeitgeschichte 1945-1990, auf
Elke Scherstjanois und Jochen Laufers Analysen der sowjetischen
Besatzungs- und Deutschlandpolitik und die von ihnen besorgten
Dokumenten-Editionen,
Mario Keßlers vielfältige biographische Arbeiten,
Simone Barks und Dietrich Mühlbergs Beiträge zu einer Kultur- und Mentalitätsgeschichte der DDR,
zu deren Substanz der gelernte DDR-Soziologe Wolfgang Engler nicht nur das Stichwort „arbeiterlich“ beisteuerte,
ebenso auf Felix Mühlbergs Arbeit über das Eingabewesen
oder die Studien von Ina Merkel über die Konsumgesellschaft DDR,
auf Gerd Dietrichs Beiträge zur Geschichte der Kulturpolitik der SED,
Jochen Cernys Studien zur „Restbourgeoisie“ und zur Parteigeschichte,
auf Thorsten Diedrichs und Rüdiger Wenzkes Arbeiten zur Militärpolitik, zur NVA und zum 17. Juni,
genau so wie auf Stefan Wolle und seine „heile Welt der Diktatur“,
dessen Blick auf die Intentionen der Herrschenden und die Reaktionen
der durchaus nicht entdifferenzierten DDR-Gesellschaft besser verstehen
lässt, weshalb der Terminus „durchherrschte Gesellschaft“ so viel
Anklang findet,
und nicht zuletzt auf Detlef Pollacks präzise historisch-soziologische
Untersuchungen der Funktionsweise und des Untergangs der DDR, denen
anzumerken ist, dass sie ein Wissenschaftler geschrieben hat, der zwar
in einem besonderen wissenschaftlichen Milieu, aber eben doch in der
DDR aufwuchs.
Von den damals schon Älteren haben sich einige, wie Fritz Klein[59],
Günter Benser[60], Helmut Bock[61] sowie partiell auch Stefan
Doernberg[62] in einer„Mischung von Selbstkritik und Selbstbehauptung“
(Berger) autobiographisch zu ihrer Arbeit unter den damals gegebenen
Bedingungen geäußert, und viele publizierten ihren zuweilen durchaus
neuen Blick auf ihre alten Forschungsfelder. Rolf Badstüber sah unter
dem Titel „Vom Reich zum doppelten Deutschland“ noch einmal auf die
Nachkriegsentwicklungen in den deutschen Staaten, Günter Benser
berichtete in seinem ebenso kritischen wie selbstkritischen Flechtwerk
aus politik- bzw. institutionengeschichtlichen Erörterungen und
autobiographischen Passagen über den Gang der SED- und
DDR-Geschichtsschreibung in DDR-Zeiten. Wilfriede Otto hingegen hat
bereits in der „Wende“ streng (und immer ein bisschen ex cathedra) die
SED und ihre Protagonisten ins Visier genommen: ihre Irrtümer, Fehler
und Verbrechen[63], während sich Siegfried Prokop, zwischenzeitlich
Wolfgang Harichs Nachfolger in der alternativen Enquete-Kommission, mit
neuen Fragen der Struktur und den Haltungen der DDR-Intelligenz
zuwendet.[64]
Manche publizieren im Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung,
in den seinerzeit vom IML edierten, später umkämpften Beiträgen zur
Geschichte der Arbeiterbewegung (von denen sich die
Jahrbuch-Initiatorinnen trennten), in der einst Ost-, nun
Gesamtberliner Zeitschrift für Geschichtswissenschaft und
einige auch in den „klassischen“ westdeutschen Periodika oder in
Sammelbänden und Schriftenreihen, die die verschiedenen ostdeutschen
Geschichts- und Bildungsvereinen herausgeben, und viele in den heften zur ddr-geschichte, von denen die „Helle Panke“ jetzt das Hundertste herausbrachte.
Beim Durchsehen dieser Texte fiel mir auf, auf, dass sich das
Themenspektrum im Laufe der Zeit stark erweitert hat, mehr Beiträge
publiziert werden, die sich mit dem Forschungsstand auf ihrem Terrain
auseinandersetzten, und weniger Hefte, deren Autoren den Eindruck
vermitteln, zu dem ihren habe es bislang nichts von Belang gegeben. Was
im Übrigen der Unart entsprach, mit der sich jüngere Autoren, zumeist
auch Neulinge in der historischen DDR-Forschung, auf die nun
zugänglichen Akten stürzten und offenbar meinten, alles ignorieren zu
sollen, was zuvor ohne Kenntnis dieser Überlieferungen zu ihrem Problem
veröffentlicht worden war. Wobei sie manchmal übersahen, dass Akten nur
dann Geschichte erzählen, wenn sie mit plausiblen Hypothesen befragt
und in ihren jeweiligen Kontexten analysiert werden.
Diese Haltung findet sich in neueren Publikationen nur noch selten. Rar
geblieben sind jedoch auch in den Heften der Hellen Panke Kontroversen
und Polemiken. Dennoch lese ich viele mit großem Interesse. Speziell
die Autoren, auf deren Feldern ich mich niemals intensiv umgesehen
habe, etwa auf dem der Geschichte der Literaturpolitik, über das Dieter
Schiller schreibt, immer bestens informiert und anregend, auch wenn ich
mir auch von ihm dann und wann ein bisschen feurige Polemik wünsche.
***
In den letzten Jahren jedoch waren es insbesondere die Beiträge, die zu
bestimmten Aspekten der deutschen Nachkriegsgeschichte geschrieben
wurden, etwa zur Militärpolitik in West und Ost , zum Dialogpapier von
1987, zu den Ostbüros der westdeutschen Parteien oder zur Umweltpolitik
in beiden Staaten. Studien dieser Art eignen sich nicht nur für eine
vergleichende Geschichtsschreibung oder die von Christoph Kleßmann
vorgeschlagene „asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte“ die
sowohl die Teilung wie die (ungleichen) Beziehungen der deutschen
Staaten beachtet[65]. Sie könnten auch für eine thematisch und
ereignisgeschichtlich verschränkte Geschichtsschreibung über
Deutschland nach 1945 nützlich sein, für ein Vorhaben, das Jörg Roesler
unter dem Dach einer„Deutschen Nachkriegsgeschichte zwischen 1945 und
1990“ bearbeitet sehen möchte und für das er mit Blick auf die
Wirtschafts- und Sozialgeschichte einen bereits mit etlichen
Fallstudien angereicherten Text vorlegte.[66] In die selbe Richtung
zielt auch das letzte der hefte zur ddr-geschichte
aus der Hellen Panke, Bernd Floraths Arbeit über politische
Gegnerschaft in Deutschland seit 1945.[67] Beide Texte entstanden im
Zusammenhang mit der Arbeit an einem Handbuch zur deutschen
Zeitgeschichte[68] und regen wie dieses dazu an, genauer darüber
nachzudenken, ob es in Anbetracht der höchst unterschiedlichen
politischen Verfasstheit der Teilgesellschaften tatsächlich sinnvoll
ist, politische, soziale, ökonomische oder kulturelle Prozesse und
Problemlagen in den deutschen Teilgesellschaften im Rahmen einer
Deutschen Nachkriegsgeschichte zu analysieren und auch darüber, welche
Methoden für ein solches Projekt gegebenenfalls zur Verfügung stünden.
Zuweilen wird auch die Möglichkeit angedeutet, die deutsche Geschichte
zwischen 1945 und 1990 trotz ihrer „Teilung“ in einer
Nationalgeschichte zusammenzubinden.[69] Ich halte auch diese Idee für
problematisch. Natürlich weiß ich, welchen Stellenwert Konzepte für die
nationale Einheit in den Politikinszenierungen der politischen Eliten
beider deutschen Staaten hatten, und welche Rolle sie im Nachdenken von
deutschen Intellektuellen spielten, in einem Nachdenken, das im Westen
allerdings, jedenfalls anfangs, manchmal über die Nachkriegsgrenzen
hinaus wies. Und ebenfalls nicht vergessen habe ich, dass die
Bundesrepublik für die meisten in der DDR die Gesellschaft war, an der
sie ihr Fortkommen (und nicht nur ihr materielles) maßen, weshalb sich
denn auch viele von der vereinten Nation viel versprachen.
Andererseits aber weiß ich auch, dass die Beziehungen der Bundesbürger
zu ihren „Brüdern und Schwestern“ im Laufe der Jahrzehnte kühler,
förmlicher wurden. Auch wenn nach Allensbacher Umfragen zwischen 1973
und 1985 konstant etwa 75 Prozent der Westdeutschen für das Beibehalten
des Wiedervereinigungsgebots im Grundgesetz waren, so hielt doch
zwischen 1982 und dem Mauerfall niemand mehr die Wiedervereinigung für
die „wichtigste Frage“ mit der man sich in der Bundesrepublik
beschäftigen sollte. Auch deshalb, weil (ebenfalls 1985) 65 Prozent
meinten, man werde sich im Laufe der Zeit weiter auseinanderleben – so
wie einst die Deutschen und die Österreicher. Und 1984, als die
DDR-Oberen jene rund 32000 Menschen aus ihrer Staatsbürgerschaft in den
Westen entließen, ermittelten westdeutsche Soziologen, dass die
Mehrheit der Bundesbürger auf die Ankömmlinge „indifferent, reserviert,
mindestens differenziert und zu einem erheblichen Anteil sogar
ablehnend“ reagierte. Ihre Befunde: Die humanitäre Perspektive
verdränge die nationale Orientierung und: Das Verhältnis der West- zu
den Ostdeutschen lasse sich als „Distanzhumanismus“ beschreiben, als
eine Haltung, die den Anforderungen der Wirklichkeit wohl nicht
standhalten werde.
Zumal im Westen ja nicht nur die Sportreporter ganz selbstverständlich
von Deutschland sprachen, wenn sie die Bundesrepublik meinten, sondern
auch die politischen Akteure, wenn sie wie die CDU im Wahlkampf von
1987 „Weiter so, Deutschland“ plakatieren ließen. Diese Tendenz wurde
in der Bundesrepublik bereits am Ende der Siebziger sorgenvoll
registriert und speziell den Lehrenden dringend geraten, für eine
„Doppelidentifikation“ der Deutschen zu sorgen – für eine idealiter
gleichzeitige und gleich starke Hinwendung zur konkreten Bundesrepublik
wie zur gedachten, in Deutschland aber nur kurzlebigen staatlichen
Einheit der Nation.[70]
Im bloß Virtuellen aber lebt es sich nicht gut, und so war es kein
Wunder, dass im Herbst 1989 die Vision der Einheit weniger die West-
als die Ostdeutschen bewegte, auch wenn von diesen viele selbst in der
Phase ihrer nationalen Euphorie noch recht nüchtern den möglichen
Zugewinn an Wohlstand und Freiheiten kalkulierten, den das
Einheitsprojekt versprach. Was wiederum zur Folge hatte, dass sich die
Euphorie im Anschlussalltag bald verlor - ehe sie im rechtsradikalen
Milieu ihre völkisch- rassistische Urständ feierte. Von einer mentalen
Einheit der Deutschen kann mithin allenfalls beim Blick auf die „Wende“
- Monate die Rede sein. Für die Zeit davor und danach von eher
asymmetrischen Orientierungen.
Wer also die Geschichte der Deutschen zwischen 1945 und 1990 als
Nationalgeschichte schreiben wollte, als eine Erzählung über das
politische, ökonomische und soziokulturelle Geschehen in einem Land in
einer bestimmten Zeit, der hätte zunächst darzulegen, was in diesen
Jahren außer Ideellem (Sprache, Geschichte, Facetten der tradierten
Kultur) diese Nation materiell konstituierte - angesichts der gegebenen
disparaten Entwicklung ihrer Teile, angesichts aber auch der in West
und Ost unterschiedlichen emotionalen Hinwendung zur Nation. Es sei
denn, er wollte unter dem Dach der Nationalgeschichte vor allem ideen-
,kultur- oder mentalitätsgeschichtliche Studien betreiben (was im
Übrigen gut und nützlich ist ) oder aber den Begriff
geschichtspolitisch-normativ, als identitätstiftende Vokabel ins Spiel
bringen und nicht als eine Kategorie, mit der sich die soziale Realität
aller Deutschen in jenen Jahren erfassen lässt.
Unter diesem Aspekt waren Egon Bahrs Diktum aus den siebziger
Jahren:„Nation ist, wenn man sich trifft“ oder der Rekurs auf Karl
Deutschs hochtheoretische, auf die Kommunikation ihrer Elemente
zielende Begrifflichkeit[71] Fortschritte gegenüber dem in der alten
Bundesrepublik üblichen sentimentalen Rückgriff auf Friedrich Meineckes
mehr imaginierte als materiell fundierte deutsche „Kulturnation“, auf
das, was vermeintlich alle Deutschen (und nicht nur die Kultureliten)
einte, bevor man sie „mit Blut und Eisen“ zur preußendeutschen
Staatsnation zusammenschloss. Gewiss war diese Kulturnation auch
zwischen 1945 und 1990 vielen durchaus präsent, und wahrscheinlich
waren diejenigen, die aus einem Befund der geistesgeschichtlichen
Historiographie positive Erwartungen an Künftiges ableiteten, in der
DDR zahlreicher als im Westen, auch weil das kulturelle „Erbe“ hier
viel bildungsbürgerlicher „gepflegt“ wurde als dort. Vor allem aber gab
es in Deutschland zwischen 1945 und 1990 als Konsequenz seiner
Geschichte (schon vor, vor allem aber seit 1933) zwei politisch höchst
unterschiedlich strukturierte Staaten, eingebunden in höchst
unterschiedliche internationale Machtsysteme und Werteordnungen, in
denen sich unterschiedliche Gesellschaften ausbildeten, von denen sich
eine im Laufe der Jahre darauf zu verständigen begann, das Attribut
deutsch nur noch für sich gelten zu lassen.
Das zu erfahren, war für viele Ostdeutsche unangenehm, aus größerer
Distanz allerdings lässt sich die Hinwendung der Westdeutschen zu sich
selbst, zu ihrer Gesellschaft, zu ihrem Staat, als Beginn der fälligen
Anpassung an die Moderne interpretieren. Denn anderswo – in der
französischen oder angloamerikanischen Kultur – ist die Nation
gemeinhin mit dem Staatsvolk identisch und weniger durch ihre ethnische
Substanz bestimmt als durch ihre politisch-soziale Verfasstheit und die
kulturelle Prägung von Menschen innerhalb bestimmter Grenzen.[72] Das
sind Faktoren, auf die im Übrigen bereits Stalin und später
Nationentheoretiker der DDR hinwiesen. Wobei diese allerdings zu
erwarten schienen, dass sich – so wie in der Bundesrepublik -
schließlich auch in der DDR ein Wir-Gefühl, eine „kollektive Identität“
ausprägen werde, deren wesentlicher Bezugspunkt die eigene Gesellschaft
ist. Nicht gebührend bedacht haben sie dabei allerdings, was ihre
sozialistischen Altvordern stets betonten, dass nämlich die „nationale
Frage“ stets eine eminent „soziale“ einschließt, was mit Blick auf die
deutschen Teilgesellschaften die Unterschiede der Lebenslagen und
Lebensweisen waren, die speziell in der DDR als West-Ost-Gefälle
wahrgenommen wurden.
So besehen waren die Jahre zwischen 1945 und 1990 in Deutschland mehr
von der realen Teilung des Landes als von einer emotionalen Einheit der
Nation geprägt. Und welche Bedeutung die Nation künftig für die
Deutschen haben wird, bleibt abzuwarten – nicht nur in Anbetracht der
unterschiedlichen Mentalitäten in West und Ost[73], sondern auch
angesichts der widersprüchlichen Integrationsprozesse in Europa. So
viel zum Nutzen einer Geschichtsschreibung über jene Jahre unter diesem
Begriff.
Bedenkenswert hingegen erscheint mir der Vorschlag Jarauschs[74], die
deutsche Geschichte zwischen1945 und 1990 in einer Weise zu erzählen,
die „bei den verschiedenen Erfahrungen von Menschen in Ost und West
[ansetzt] die das katastrophale Erbe der ersten Jahrhunderthälfte
verarbeiten mussten und in schwierigen Bedingungen neue Formen des
Zusammenlebens entwickeln wollten“. Aus einer solchen „multiplen
Perspektive“, meint er, werde „keine nationale Meistererzählung“
entstehen, wohl aber mehr „Verständnis für die Brüche und
Unwägbarkeiten deutscher Geschichte, deren Rekonstruktion eine gewissen
Bescheidenheit verlangt“ – was gewiß allen gut täte.
***
Zum Schluss will ich den „Staatssozialismus“ wenigstens erwähnen, der
mir bei meiner Durchsicht der neuen Literatur immer wieder zur
Erklärung der Substanz dieser DDR angeboten wurde. Auch von denen, die
wie ich, DDR und Sozialismus allenfalls in futurologischer Perspektive
zusammendenken konnten. Er findet sich in den Arbeiten von West- wie
Ostdeutschen und gleich, ob sie mit sozial-, gesellschafts-, politik-,
wirtschafts- oder kulturgeschichtlichen Fragestellungen arbeiten. Nun
liegt es durchaus nahe, das Selbstverständnis der SED (und nicht nur
das ihrer Führer) beim historiographischen Erfassen ihres Erbes
gebührend zu berücksichtigen. Und vielleicht soll mit dem Verknüpfen
von Staat und Sozialismus ja auch das Demokratiedefizit benannt werden,
das die SED mit der Formel vom „real existierenden Sozialismus“ zu
kaschieren suchte. Dann sollte das aber erwähnt werden. Womöglich
handelt es sich bei dem Wort[75] aber auch um einen stillen Konsens, um
eine Kompromissformel, die es den einen erlaubt, insbesondere auf den
Staat und seine in der DDR gewaltige, zuweilen überwältigende Rolle zu
verweisen, und es den anderen gestattet, Sozialismus als ein
nennenswertes Moment der DDR-Realität zu behaupten. Nun sind gewiß
nicht alle Kompromisse von Übel, die meisten sogar nützlich, dieser
aber scheint mir wirklich faul. Denn recht eigentlich werden da doch
zwei inkompatible Begriffe gekoppelt. In meinen Ohren klingt das Wort
deshalb beinahe so falsch wie Gefängnisfreiheit oder – sanfter:
Zweifellos gab es in der DDR sehr viel Staat und ganz wenig
Sozialismus, wenn darunter nicht Staatseigentum in quasi feudaler
Verfügungsgewalt oben und tendenzieller Egalitarismus in weitreichender
Fremdbestimmtheit unten verstanden werden sollen, sondern
politisch-kulturelle Verhältnisse, in denen sich eine Gesellschaft von
freien Individuen entwickeln kann.
Mit etwas Anstrengung müsste ein der Sache gemäßer Begriff zu finden sein. Auch darüber sollte diskutiert werden.
Anmerkungen
[1]Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung, Paderborn, München, Wien, Zürich. 2003.
[2] Die Innenpolitik der DDR, München 2003.
[3] Die Sozialgeschichte der DDR, München 2005.
[4] Jürgen Kocka, Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung. Hermann
Weber zum 75 Geburtstag, in: Deutschland Archiv, 36.Jg.(2003), Heft 5,
S. 764ff.
[5]Klaus-Dietmar Henke, DDR-Forschung seit 1990, in Bilanz und Perspektiven, a.a.O., S. 372.
[6] Ebda.
[7] Ohne jeweils darauf hinzuweisen, stütze ich mich im Folgenden auch
auf einen vor sechs Jahren versuchten Überblick. Vgl.: Dietrich
Staritz, Das Ende der DDR. Erklärungsansätze, in: Utopie kreativ,
Sonderheft vom Oktober 2000, S.11 ff.
[8] Auf die Angabe der Titel wird verzichtet.
[9] Autorenkollektiv (unter Leitung von Rolf Badstübner): Deutsche
Geschichte, Band 9. Die antifaschistisch-demokratische Umwälzung, der
Kampf gegen die Spaltung Deutschlands und die Entstehung der DDR von
1945 bis 1949, Berlin 1989.
[10] Untertitel: Vom Untergang des „Reiches“ bis zur deutschen Zweistaatlichkeit (1943 bis 1949), Berlin 1990, S.11.
[11] Rolf Badstübner, Zu einigen Problemen der
Zeitgeschichtsschreibung, in: Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte
der Arbeiterbewegung, 2004/I, S. 60ff.
[12] Stalinismus und Antikommunismus. Zur Soziologie des Ost-West-Konflikts, Frankfurt/M.1967, S. 13.
[13] Hermann Weber, SED und Stalinismus, in: Die DDR im vierzigsten
Jahr. Geschichte – Situation -Perspektiven, 22. Tagung zum Stand der
DDR-Forschung in der Bundesrepublik Deutschland (16. bis 19. Mai 1989),
Köln 1889, S,3 ff.
[14] Wolfgang Ruge, Zu den Wurzeln de Stalinismus. Die Doppeldroge, in:
Sonntag, Nr.2/1990 v. 14.1.1990, ders.: Stalinismus – eine Sackgasse im
Labyrinth der Geschichte, Berlin 1991.
[15] Jörg Barberowski, Der Rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, München 2003, S.8.
[16] Vgl. Jürgen Kocka, Nationalsozialismus und SED-Diktatur im
Vergleich, in: Ders.: Vereinigungskrise. Zur Geschichte der Gegenwart,
Göttingen 1995.
[17] .Vgl. Götz Aly, Hitlers Volksstaat, Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt/M.2005.
[18] Rüdiger Hachtmann, Öffentlichkeitswirksame Knallfrösche –
Anmerkungen zu Götz Alys „Volksstaat“, in: Sozial.Geschichte.
Zeitschrift für historische Analysen des 20. und 21. Jahrhunderts, Heft
3, 2005, S. 46.
[19] Vgl. Jeffrey Herf, Reactionary Modernism. Technology, Culture and Politics in Weimar and the Third Reich, Cambridge 1990.
[20] Ein Begriff, den Detlef Pollack ausarbeitete. Vgl.: Ders., Das
Ende der Organisationsgesellschaft , in: Systemtheoretische
Überlegungen zum gesellschaftlichen Umbruch in der DDR, in: Zeitschrift
für Soziologie, 19 (1990), S. 292ff. Weil der Begriff „dahingehend
missverstanden“ wurde, „als ob mit ihm die völlige Durchorganisation
der Gesellschaft behauptet wäre“, hat er später vorgeschlagen, ihn
durch den der „konstitutiv widersprüchliche Gesellschaft“ zu ersetzen.
Vgl. Ders.: Die konstitutive Widersprüchlichkeit der DDR, in:
Geschichte und Gesellschaft (GuG) 24. Jg.(1998), Heft 1, S. 110ff. Fünf
Jahre später, 2003, nahm Pollack ihn modifiziert wieder auf und gab
diese Erläuterung:: “Die SED-Führung behandelte die DDR-Gesellschaft
wie eine Organisation, die auf ein bestimmtes Führungspersonal, ein
festgelegtes Programm und eine vorgegebene Struktur verpflichtet werden
kann. Den einzelnen Bürger sah sie als Mitglied dieser Organisation an.
Von ihm erwartete sie, dass er dem fixierten Programm folgt und von ihm
nichts weniger als begeistert ist. Im Unterschied zu Organisationen in
modernen Gesellschaften war es in der Organisationsgesellschaft DDR
jedoch nicht erlaubt auszutreten“. In : Ders., Auf dem Wege zu einer
Theorie des Staatssozialismus, in: Historical Social Research, vol. 28,
2003, No.1/2, S. 10ff., hier: S. 23.
[21] Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971-1989, Berlin, 1998.
[22] Martin Sabrow, Der Konkurs der Konsensdiktatur. Überlegungen zum
inneren Zerfall der DDR aus kulturgeschichtlicher Perspektive, in:
Konrad H. Jarausch/Martin Sabrow (Hrsg.), Weg in den Untergang. Der
innere Zerfall der DDR, Göttingen 1999, S. 83 ff.
[23] Konrad H. Jarausch, Realer Sozialismus als Fürsorgediktatur. Zur
begrifflichen Einordnung der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte
[ApuZ], B 20/1998, S. 33ff.
[24] Charles S. Maier, Das Verschwinden der DDR und der Untergang des Kommunismus, Frankfurt/M. 1999, S.188ff.
[25] vgl. Dietrich Staritz, Geschichte der DDR, Frankfurt/M. 1985, erw. Neuausgabe Frankfurt/M. 1996.
[26] Vgl. Klaus Schröder (unter Mitarbeit v. Steffen Alisch), Der
SED-Staat. Geschichte und Strukturen der DDR, München 1998, S. 619f.
[27] Armin Mitter/ Stefan Wolle, Untergang auf Raten. Unbekannte
Kapitel der DDR-Geschichte, München 1993. Vgl. auch die Beiträge von
Ehrhart Neubert und Joachim Gauck in der deutschen Ausgabe von: Das
Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror,
München/Zürich 4. Aufl. 1998, S. 829ff., 885ff.
[28] Vgl. Pollack, a.a.O.
[29] Kocka, Bilanz und Perspektiven, a.a.O., S.767.
[30] Alf Lüdtke, „Helden der Arbeit“ – Mühen beim Arbeiten. Zur
mißmutigen Loyalität von Industriearbeitern in der DDR, in: Hartmut
Kälble/ Jürgen Kocka/ Hartmut Zwahr, Sozialgeschichte der DDR,
Stuttgart1994, S. 188ff., s.a. Ders., Die DDR als Geschichte. Zur
Geschichtsschreibung über die DDR, in ApuZ, B 33/98, S.3ff.
[31] Bauernkämper, Sozialgeschichte, a.a.O., S.2.
[32] Thomas Lindenberger (Hrsg.), Herrschaft und Eigen-Sinn in der
Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR, Köln 1999.
[33] Richard Bessel, Ralph Jessen (Hrsg.), Die Grenzen der Diktatur. Staat und Gesellschaft in der DDR, Göttingen 1996.
[34] Eckart Jesse, War die DDR totalitär?, in: ApuZ, 40/94, S.12ff.
[35] Heydemann, Die Innenpolitik der DDR, a.a.O., S.55.
[36] A.a.O., S. 63f.
[37] Ebda.
[38] Hartmut Zimmermann, Probleme der Analyse bolschewistischer
Gesellschaftssysteme. Ein Diskussionsbeitrag zur Frage der
Anwendbarkeit des Totalitarismusbegriffs, in: Gewerkschaftliche
Monatshefte, 12.Jg. (1961), Heft 4, S. 193 ff..
[39] Peter Christian Ludz, Offene Fragen der Totalitarismusforschung,
in: Politische Vierteljahresschrift, 2. Jg.(1961), Heft 4, S.319ff.
[40] Ernst Richert, Das zweite Deutschland. Ein Staat, der nicht sein darf, Gütersloh, 1964.
[41] Für Vieles: Volker Gransow, Konzeptionelle Wandlungen der
Kommunismusforschung. Vom Totalitarismus zur Immanenz, Frankfurt/M,/New
York, 1980.
[42] Bremen 2004 (= Band 25 der Wissenschaftlichen Reihe „Analysen und
Dokumente“ des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des
Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, hrsg. von der Abteilung
Bildung und Forschung).
[43] A.a.O., S.75.
[44] a.a.O., S.76f.
[45] A.a.O., S.484
[46] Jochen Cerny, Neuerscheinungen zum 5O. Jahrestag des Aufstandes
vom 17. Juni (Erster Teil), in: Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte
der Arbeiterbewegung 2004/II, S.155ff.
[47] Bilanz und Perspektiven, a.a.O., S. 163.
[48] Heydemann, Die Innenpolitik der DDR, a.a.O., S.107.
[49] Bauernkämper, Die Sozialgeschichte der DDR, a.a.O., S.106.
[50] Franziska Augstein, Noch ’ne Revolution. Man kann nie genug davon
haben. Eine historische Neudichtung über die Aufstände des 17. Juni,
in: Süddeutsche Zeitung v. 17.6.2004.
[51] Vgl. Hermann Wentker, Die deutsche Revolution von 1953?.
Mitarbeiter der Birthler-Behörde legen eine Rezeptionsgeschichte des
17. Juni vor, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 22.6. 2004 und
Martin Jander, Verdrängte Revolution. Der 17. Juni 1953 und die
europäische Identität, in: Der Tagesspiegel v. 30.8.2004.
52 Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur
bundesrepublikanischen Erinnerung 1948-1990, Darmstadt 1999, S.356.
[53].Die verdrängte Revolution, a.a.O., S.18.
[54] Duden. Fremdwörterbuch, 7., neu bearb. u. erw. Aufl., Mannheim etc. 2001, S.661.
[55] Klaus-Dietmar Henke, DDR-Forschung seit 199O, in: Bilanz und Perspektiven, a.a.O., S.373.
[56] So hätte Jochen Staadt im Jahre 2003 noch einmal in seiner 1977
veröffentlichten Dissertation (Konfliktbewusstsein und sozialistischer
Anspruch in der DDR-Literatur. Zur Darstellung gesellschaftlicher
Widersprüche in Romanen nach dem VIII. Parteitag der SED 1971, Berlin
[West] 1977) blättern sollen, ehe er aus Texten zitierte, die Lothar
Bisky in eben diesen siebziger Jahren im Zentralinstitut für
Jugendforschung geschrieben hatte, und als besonders peinlich dessen
Plädoyer für die „aktive Beherrschung grundlegender Erkenntnisse des
Marxismus-Leninismus“ zu effektiveren Abwehr der „ideologischen
Diversion des Gegners“ erwähnte (vgl. FAZ v. 8.8.2003, S.10). In der
eigenen Arbeit nämlich wäre er nicht nur auf seine (auf Lenin, Mao und
die maoistische Kampfliteratur gestützte) Diagnose gestoßen, die DDR
befinde sich auf dem (Rück-) Weg zum Kapitalismus (z.B. S. 31) sowie
auf die von ihm empfohlene Therapie, die Diktatur des Proletariats (z.
B. S. 276), sondern auch auf seine (durchaus nicht unsolidarische)
Warnung, durch das Leugnen, gar die „Tabuisierung“ der „Widersprüche
zwischen Anspruch und Wirklichkeit der DDR“ werde „westlicher
Diversionspropaganda [...] nur noch mehr in die Hände
gearbeitet“(S.37). Komisch, wenn ehemalige Mler ehemalige Mler
ehemalige Mler nennen.
[57] Dirk Hansen, Politische Bildung und DDR-Geschichte, in: a.a.O., S.
408. Der ganze Satz: „Der Diskurs zwischen Deutschen aus Ost und West
‚auf gleicher Augenhöhe’ (Jürgen Fuchs) ist der Weg, die
Delegitimierung der Diktatur zum Schutze der Demokratie (Eckert 1999
[2003]) das Ziel“.
[58] Stefan Berger, Was bleibt von der Geschichtswissenschaft der DDR?
Blick auf die alternative historische Kultur im Osten Deutschlands, in:
Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 50. Jg. (2002), Heft 11, S.
1016ff. Vgl. auch: Martin Sabrow, „Beherrschte Normalwissenschaft“.
Überlegungen zum Charakter der DDR-Historiographie, in: GuG,
24.Jg.(1998), Heft 3, S. 412ff.
[59] Fritz Klein, Drinnen und Draussen. Ein Historiker in der DDR. Erinnerungen, Frankfurt/M. 2000.
[60] Günter Benser, Die DDR- gedenkt ihrer mit Nachsicht, Berlin 2000.
[61] Helmut Bock, Wir haben erst den Anfang gesehen. Selbstdokumentation eines DDR- Historikers. 1983 bis 2000, Berlin 2002.
[62] Stefan Doernberg, Fronteinsatz. Erinnerungen eines Rotarmisten, Historikers und Botschafters, Berlin 2004.
[63] Für Vieles: Thomas Klein, Wilfriede Otto, Peter Grieder, Visionen.
Repression und Opposition in der SED (1949-1989), Teil I und II,
Frankfurt/Oder 1996, Wilfriede Otto, Die SED im Juni 1953. Interne
Dokumente, Berlin 2003.
[64] Siegfried Prokop, Intellektuelle im Krisenjahr 1953. Enquête über
die Lage der Intelligenz der DDR. Analyse und Dokumentation ,
Schkeuditz 2003.
[65] Vgl. Christoph Kleßmann, Hans Misselwitz, Günter Wichert (Hrsg.),
Deutsche Vergangenheiten – eine gemeinsame Herausforderung . Der
schwierige Umgang mit der doppelten Nachkriegsgeschichte, Berlin 1999.
[66] Jörg Roesler, Momente deutsch-deutscher Wirtschafts- und
Sozialgeschichte 1945 bis 1990. Eine Analyse auf gleicher Augenhöhe,
Leipzig 2006.
[67] Bernd Florath, Opposition und Widerstand. Eine historische
Betrachtung politischer Gegnerschaft in Deutschland seit 1945, Berlin
2006 (= hefte zur ddr-geschichte, Nr.100).
[68] Clemens Burrichter, Detlef Nakath, Gerd-Rüdiger Stephan (Hrsg.),
Deutsche Zeitgeschichte von 1945 bis 2000. Gesellschaft – Staat –
Politik. Ein Handbuch, Berlin 2006.
[69] Peter Bender, Episode oder Epoche? Zur Geschichte des geteilten Deutschland, München, 1996, S.216.
[70] Vgl. Dietrich Staritz, Von der „Befreiung“ zur
„Verantwortungsgemeinschaft“. Die Deutschlandpolitik der Bundesrepublik
und der DDR, in: Steffen Käser (Hrsg.), „Denk ich an Deutschland“.
Grundlagen eines Dialoges beider deutscher Staaten, Gerlingen 1987, S.
45 ff. Von der Notwendigkeit einer „Doppelidentifikation“ sprach Erich
Kosthorst bereits 1978, sah aber schon damals, dass die „Balance von
Teilidentität und Ganzheitsidentität, von Identifikation mit einem
real-konkreten Staat und zugleich mit einer sich darüber wölbenden
ideal-abstrakten Nation“ eine Aufgabe sei, die „höchste geistige und
psychische Anstrengung verlange“. Zitiert nach: Ders., Die Lage in der
Bundesrepublik Deutschland, schriftliche Stellungnahme, in: Die
deutsche Frage in der politischen Bildung. Öffentliche Anhörung des
Ausschusses für innerdeutsche Beziehungen , Bonn 1978, S. 32f. (= Zur
Sache. Themen parlamentarischer Beratung 2/78., hrsg. v. Deutschen
Bundestag). Aktueller: Konrad H. Jarausch, Die postnationale Nation.
Zum Identitätswandel der Deutschen 1945- 1995, in: Historicum (Frühling
1995), S.30ff.), vgl. auch Edgar Wolfrum, Geschichtspolitik,
a.a.O.,passim.
[71] Vgl. Karl W. Deutsch, Nationalism und and Social Communication, Cambridge 1953.
[72] Weit vorangekommen waren die Westdeutschen auf diesem Weg bis 1990
allerdings nicht, wie die Debatten über eine „deutsche Leitkultur“ im
Zusammenhang mit der Integration von Nichtdeutschen zeigen. Noch immer
lässt sich mit dem traditionell-völkischen Nationenbegriff nicht nur in
rechtsextremen, sondern auch in gemäßigt konservativen Milieus Stimmung
machen. Mehr aber noch – in West wie Ost – bei denen, deren soziale
Lage sie besonders anfällig macht für national argumentierende
Fremdenfeindlichkeit und Rassismus.
[73] Vgl. etwa: Detlef Pollack, Gert Pickel, Die ostdeutsche Identität
– Erbe des DDR- Sozialismus oder Produkt der Wiedervereinigung , in:
ApuZ, B 41-42/98 v. 2.10.1998, S. 9 ff., Wolfgang Engler, Die
Ostdeutschen als Avantgarde, Berlin 2002, Dietrich Mühlberg, Vom
langsamen Wandel der Erinnerung an die DDR, in: Konrad H. Jarausch,
Martin Sabrow (Hrsg.), Verletztes Gedächtnis. Erinnerungskultur und
Zeitgeschichte im Konflikt, Frankfurt/M. 2002, S. S.217ff. oder Jens
Bisky, Die deutsche Frage. Warum die Einheit unser Land gefährdet,
Berlin 2005.
[74] Vgl. Konrad H. Jarausch, „Die Teile als Ganzes erkennen“. Zur
Integration der beiden deutschen Nachkriegsgeschichten, in:
Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History,
Online-Ausgabe, 1 (2204), H.1, 15 (S. 20).
[75] Selbst in einem Beitrag, der dazu einladen soll, über eine
„Theorie des Staatssozialismus“ zu diskutieren, findet sich (neben
vielem Bedenkenswerten) kein einziger Hinweis auf die Herkunft, die
Nützlichkeit oder Reichweite dieses Terminus. Erläutert wird vielmehr,
inwieweit sich das Regelwerk sowie die politischen und sozialen
Strukturen der DDR vom Modell der „modernen Gesellschaft“ unterschieden
und deshalb nicht in der Lage waren, die notwendigen Integrations- und
Modernisierungsprozesse in Gang zu setzen. Vgl. Detlef Pollack , Auf
dem Weg zu einer Theorie des Staatssozialismus, a.a.O. (Anm.20).
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