Text | Kulturation 2012 | Wolfgang Gabler | Der Wenderoman
Zur endlosen Geschichte eines literarischen Genres
| Vorbemerkung:
die Aufmerksamkeit gilt hier nicht der Ausarbeitung eines im
wissenschaftlichen Sinne exakten Begriffs, sondern ich verwende die
Bezeichnung „Wenderoman“, wie sie sich im Feuilleton und im
öffentlichen Diskurs durchgesetzt hat: als relativ umfangreiche
literarische Texte, deren Stoff zumindest die Zeit des Mauerfalls in
der DDR 1989 erfasst. Vgl. auch meine diskursperspektivische
Darstellung, Gabler (2011)
PDF des Textes hier anklicken:
Wolfgang Gabler Der Wenderoman
I.
Kampffeld „DDR-Identität“ oder: Eigentümlichkeit als fragwürdiges
Verlustobjekt
Eines der am meisten umstrittenen Phänomene des frühen
Vereinigungsdiskurses war „DDR-Identität“. Es erschien geradezu als
Trauma, das unter allen Umständen aufgelöst, als böses Erbe, das
ausgeschlagen werden musste, um ein wie auch immer verstandenes Ideal
von „Einheit“ und „Vereinigung“ Wirklichkeit werden zu lassen.
Der Lyriker Günter Kunert vermutete in der „DDR-Identität“ einen im
Nachhinein geschaffenen „Homunculus“ (Kunert 1991) und wünschte sich,
„daß wir diese Wort endlich auf die schwarze Liste setzen“ (Kunert
1995). Der als besonnen geltende Autor Günter de Bruyn fuhr ebenfalls
schweres Geschütz auf und hielt die „mystische DDR-Identität“ für „viel
gefährlicher als die Stasi-Verbrechen“ (de Bruyn 1992: 169).
Charakteristisch waren sowohl die hysterische Abwehr von
„DDR-Identität“ als auch die Behauptung einer sog. „Trotzidentität“ (K.
Reich 1990), die die damalige Auseinandersetzung bestimmten. Die
Schärfe der Diskussion basierte offensichtlich auf einem Verständnis
von „Identität“ als einer widerspruchslosen Entität. Allein die
Berücksichtigung der Dialektik von Identität und Alterität hätte die
Beobachtung der nachträglichen Entstehung von DDR-Identität weniger
absurd erscheinen lassen.
Kein Wunder, dass vor allem ostdeutsche AutorInnen in literarischen
Texten dem Phänomen einer spezifischen Eigentümlichkeit nachgingen,
denn deren Identitätsdeterminanten hatten sich wesentlich verändert.
Ein frühes und repräsentatives Beispiel für die Thematisierung des
Phänomens „DDR-Identität“ war der Roman Unter dem Namen Norma (1994) von Brigitte Burmeister (*1940).
Der Roman erzählt eine zunächst banal erscheinende Geschichte aus
dem Jahr 1992. Die Ich-Erzählerin und Übersetzerin einer Biografie über
den Jakobiner Saint-Just, Marianne Arends, lebt in Ost-Berlin und ist
seit zwei Jahren getrennt von ihrem Ehemann Johannes. Der startet bei
einer Firma in Baden-Württemberg eine neue berufliche Karriere und lädt
zur Feier dieser Umstände seine Frau dorthin zu einem Gartenfest ein.
Zu vorgerückter Stunde erzählt Marianne der Ehefrau eines Kollegen von
Johannes, Corinna, eine Episode aus ihrer Vergangenheit und bittet
Corinna, darüber „zu niemandem ein Wort“ (242)[1] zu sagen. Denn
Marianne berichtet, sie habe unter dem Namen Norma als Inoffizielle
Mitarbeiterin für das MfS gearbeitet. Bald stellt sich heraus, dass
diese Geschichte frei erfunden ist. Doch sie wird als zu erwartende
Wahrheit von allen Beteiligten angenommen, denn das vertraulich
Mitgeteilte wird umgehend von Corinna kolportiert und wiederum von
Mariannes Ehemann als Vorwand benutzt, sich von ihr zu trennen. Warum
Marianne diese Legende erfindet, bleibt ihr selbst unklar. Es ist das
Rätsel einer Geschichte, in der symbolische historischen Daten als
Referenz angeboten werden, denn die beiden Teile des Romans tragen die
Titel „17. Juni“ und „14. Juli“.
So erlebt der Leser die Hauptfigur in diesem ersten Teil in einer
komplexen Trennungssituation – paradoxerweise unter dem Datum, an dem
vor der Wende in der Bundesrepublik der Tag der deutschen Einheit
gefeiert wurde. Unter jenem Datum, das den Willen zu staatlicher
Vereinigung versinnbildlichen soll, erzählt der Roman von der Trennung
eines Paares, das ursprünglich im Osten vereint war und das sich nun –
vor dem Hintergrund der staatlichen Vereinigung – trennt und damit eine
getrennte Ost-West-Existenz etabliert.
Bereits vor dem genannten Gartenfest erlebt Marianne intensiv die
Entfremdung von ihrem Mann. Die geografisch-räumliche Distanz
verschärft ihr „Bewußtsein eines unaufhebbaren Abstandes“ (106). Dieses
Bewusstsein wird verstärkt, weil Johannes seine DDR-Vergangenheit
abschließen und „Trennungsstriche“ (94) ziehen will.
Dabei schien es mir [Marianne – WG], als wiederhole er ein
Verhalten, das die Antwort von anderen auf frühere Verhältnisse gewesen
war. [/] Ich sagte ihm das. Bei Flüchtlingen, bei Opfern könne ich es
mir erklären, die gesessen haben, abgeschoben, ausgebürgert,
fortschikaniert worden sind, plötzlich in der Fremde, mit lästigem
Heimweh und unerwarteter Mühe, sich einzuleben in der besseren
Gesellschaft, in die die andere sie hineingezwungen hatte, diese
dreimal verfluchte, an der es nichts […] zu vermissen gab, abstoßend in
jeder Hinsicht. Doch wozu brauchst du [Johannes – WG] dieses Haß- und
Ekelbild von dem Land, in dem du […] mit den unterschiedlichsten
Empfindungen gelebt hast? […] Weißt du, woran mich das erinnert? An
unsere Marxismusstunden […]. Dialektik sollte das sein, und war doch
nur eine Methode, Widersprüche aus der Welt zu schaffen durch
Unterschlagung. (94f.)
Johannes’ Wille zu Trennungsstrichen und sein Unwille zur
umfassenden Auseinandersetzung mit seiner DDR-Vergangenheit haben
alltagspraktische Gründe, denn diese Vergangenheit ist für ihn
schambesetzt. Er will die biografische Differenz zu seinen
westdeutschen KollegInnen tilgen, denn dieser Unterschied mindert seine
Aufstiegschancen. All das sieht Marianne sehr wohl, und sie nimmt es
ernst. Für sie selbst jedoch ist ein solcher Umgang mit dem eigenen
Erleben aus historischen Gründen ausgeschlossen. Denn dass die
Erzählerin Marianne heißt – wie die Symbolfigur der Französischen
Revolution – und überdies mit der Biografie Saint-Justs vertraut ist,
hat in diesem Roman Konsequenzen: Am 17. Juni 1789 konstituierte sich
die Französische Nationalversammlung, und es begann die
„staatsrechtliche Umwälzung“ in Frankreich, wie das der Historiker
Walter Markov (1986, 71) bezeichnete. Dass Marianne ihr Leben ähnlich
umgewälzt sieht, liegt auf der Hand. Vor allem aber erkennt sie an der
Figur Saint-Justs die Folgen des Versuchs, mit der Vergangenheit
einfach brechen zu wollen. Saint-Just war der Erste, der die
Hinrichtung Ludwigs XVI. forderte, der also auch eine Art
„Trennungsstrich“ ziehen wollte. Saint-Justs eigenes Schicksal – er
wurde 1794 selbst hingerichtet – stärkt Mariannes Willen, aus der
Geschichte zu lernen.
Am besagten 14. Juli hingegen findet das Gartenfest statt, am Tag des Sturms auf die Bastille, und dieses Datum legt es nahe, einen Aufstand, eine Form des Protestes
zu erwarten. Tatsächlich besteht die zentrale Pointe des Romans darin,
dass Marianne sich nicht als Opfer, sondern als Täterin darstellt.
Unter dem Namen Norma – der Name ist ein Anagramm [2] − erzählt sie
einen Roman Und dieser Roma wird als Wahrheit sofort
geglaubt – als sei sie erwartet worden. Im Stile einer Zuträgerin
informiert Corinna ihren Ehemann über das vertrauliche Gespräch, und
der benachrichtigt Johannes. Dass sie sich dabei wie IMs verhalten,
kommt ihnen ebenso wenig in den Sinn wie ihre Angepasstheit an den
herrschenden Diskurs. Dabei überschneiden sich die soziale und die
individuelle Ebene des moralischen Urteils über die Vergangenheit in
der DDR: Während man den DDR-Bürgern im Allgemeinen als vom politischen
System Unterworfenen den Opfer-Status zubilligt, wird dem Individuum
Mitschuld gegeben und ihm damit der Täter-Status zugewiesen. Mariannes Sturm auf die Bastille
der öffentlichen Meinung zeigt sich deshalb zunächst als eine Flucht –
jedoch nicht aus der prekären Konstellation heraus, sondern – ein
weiteres Paradoxon – in sie hinein. Indem sie die klischierte Erwartung
erfüllt – wenn auch nur durch eine falsche Aussage – entrinnt sie dem
Druck unangenehmer Thematisierung ihrer Person. Mit dem falschen
Rollenspiel entzieht sie sich auch einer potenziellen Beschämung und
Demütigung. Denn Marianne ist nicht gemeint, wenn über sie unter dem
Namen Norma gesprochen wird. Diesen Gedanken stützt jedenfalls eine
kleine Szene unmittelbar vor dem falschen Geständnis. Marianne als
Gastgeberin des Festes wird zunächst von Corinna gelobt:
"Ein bezaubernder Abend. Ihr Werk! [/] Ich berichtigte nichts und
trank. Die winzige Fliege am Rand des Glases spülte ich herunter. Ich
wäre ihr gern in die Abgeschlossenheit gefolgt, dort unsichtbar und
unansprechbar.2 (218)
Diese Sehnsucht nach unansprechbarer Abgeschlossenheit ist das
wesentliche Bedürfnis, mit dem Marianne auf ihre Erfahrungen nach der
Wende reagiert. Sie fühlt sich als Objekt von Interessen, bei denen sie
selbst als ein Individuum nicht gemeint ist, sondern nur als Konsument
oder als Verwaltungsobjekt:
"Umzingelt, belagert, bedrängt, belästigt. Die gute Fee, den guten
Hacker herbeiwünschen, dich löschen lassen aus sämtlichen Dateien.
Niemand werden, nicht mehr auffindbar hinterm Schutzwall der
Datenlosigkeit, himmlischer Frieden dann. Denkst du. Schon die Wörter,
mit denen du denkst! Mehr als bedenklich! […] Gib es zu: die Kränkung.
Weil du sie nicht begreifst, ihre Ordnung nicht durchschaust, sofort
wieder vergißt, was sie dir erklären. Hinter den freundlichen Grüßen
vermißt du den freundlichen Staat." (188)
Was wie ein ostalgischer Anfall aussieht, ist vielmehr
Ratlosigkeit, gemischt mit einer leichten Paranoia. Marianne weiß, dass
ihr Denken provokant und aggressiv ist, wenn sie sich „hinterm
Schutzwall der Datenlosigkeit“ einen „himmlischen Frieden“ wünscht. Die
gewaltsame Zerschlagung der Pekinger Studentenproteste im Sommer 1989
ist beim Leser ebenso präsent wie das Wissen um die „Mauer“, die im
offiziellen DDR-Sprachgebrauch „antifaschistischer Schutzwall“ hieß.
Hinter jenem Wall ist – man denke nur an die DDR-Informationspolitik –
eine Situation der „Datenlosigkeit“ erkennbar. Die Frustration
angesichts einer fehlenden Alternative lässt sie den „freundlichen
Staat“ wünschen.
Mariannes Identitätskrise kommt aus der Ratlosigkeit. Sie weiß nur,
was sie nicht will. Deshalb reagiert sie als Gedemütigte mit
Abwehrgesten komplexer Negation und mit Scham. Aus der neuen Situation
ist für sie kein positiver Lebensansatz zu gewinnen; auch die Trennung
von Johannes ist keine Befreiung.
Burmeisters Roman entfaltet ein Dilemma: Die Grunderfahrung der
Heldin ist die fundamentale Identitätsverunsicherung, die sich bis zur
Falschidentifikation einer IM-Legende steigert. Der Impuls zu dieser
Reaktion ist der Figur selbst unbewusst, affektiv. Die Desintegration
des Identitätsgefühls, genauer: des Identitätsbewusstseins, ist ein
Verlust, der das Wesen der Persönlichkeit berührt und deshalb zumindest
nach Kompensation drängt. Der Weg zu diesem Ziel führt zum einen in die
biografische und zum anderen in die gesellschaftsgeschichtliche
Vergangenheit, um dort stabilisierende Determinanten einer neu zu
etablierenden Identität zu finden. Genau dieser Weg in die
Vergangenheit jedoch ist durch neu gesetzte gesellschaftliche Normen,
den offiziellen Diskurs, vermint. Jene Mine mit der größten Sprengkraft
heißt „DDR-Identität“, und der Weg, eine neue Identität zu
konstituieren, trägt den diskreditierten Namen „Ostalgie“.
Seit 1990 gelten diese beiden Phänomene als Tabus in einem
hegemonialen Diskurs, der, um die Politikwissenschaftlerin Petra
Bernhardt zu zitieren, „dazu tendiert, Erinnerung abseits
diktaturgeschichtlicher Auseinandersetzung als Ostalgie abzukanzeln“
(Bernhardt 2009, 92).
II.
Melancholie – Paradoxie – Allegorie
Burmeisters Roman Unter dem Namen Norma erweist sich
insofern als Repräsentant, weil bis Ende der 1990er Jahre das Genre des
Wenderomans im Wesentlichen die Darstellung melancholischer Reaktionen
in einem paradoxen Kontext thematisiert und hierfür
literaturhistorische oder historische Referenzen zitiert (bei
Burmeister die Französische Revolution). Hierdurch erhalten die
literarischen Darstellungen eine allegorische Ebene. Es wird dabei in
den Texten ein breites Spektrum von Erfahrungen sichtbar, die man mit
dem Titel eines Textes von Marion Titze (*1953) umschreiben kann: Unbekannter Verlust. So lautete übrigens Sigmund Freuds Kurzformel für „Melancholie“ (in Trauer und Melancholie, 1915).
Melancholie – Paradoxie – Allegorie charakterisieren jene
Wenderomane, die etwas bis zum Jahr 2000 erschienen. Dies gilt nicht
nur für die Romane ostdeutscher AutorInnen, sondern auch für die Texte
westdeutscher Schriftsteller (Delius 1991, Grass 1995, Schneider 1999
u. a.) sowie für tragikomische Darstellungen (Braun 1996, Brussig 1995,
Goosen 2001, Sparschuh 1995).
Als Beispiel für einen frühen westdeutschen Wenderoman dient mir
Thomas Hettches NOX (1995). Der allegorische Roman des 1964 in Hessen
geborenen Autors basiert auf einer fantastischen Grundsituation: Einem
Schriftsteller wird nach einer Lesung in Westberlin von einer Frau die
Frage gestellt, ob er jemandem „so weh tun“ (16) könne, wie er es in
seinen Büchern beschreibe. Nachdem diese Frage widersprüchlich
beantwortet wird, schneidet die Frau dem Autor die Kehle durch. Als
Toter erzählt er weiter, nun ausgestattet mit einer menschenunmöglichen
Wahrnehmungsfähigkeit:
"Nur, wenn man tot ist, hört man, wie in einer Stadt alles die
Steine zerfrißt. Nun den Dingen gleich, öffnete die Stadt sich hinein
in meinen Kopf […]". (31)
Solche fantastischen Erzählvoraussetzungen, mit denen der Roman NOX
– als teils dokumentarisch wirkende Darstellung, teils allegorische
Schmerz-Lust-Geschichte – vom Mauerfall erzählt, brauchen starke
Gründe, soll der Text nicht zur Trivialliteratur gerechnet werden. Und
diese Gründe liegen vor. NOX erzählt vom 9. November 1989,
einem raren literarischen Stoff westdeutscher AutorInnen. Um die
Bedeutsamkeit der Maueröffnung zu veranschaulichen und mit Pathos
aufzuladen, wird eine große Parabel als Referenz zitiert, nämlich
Platons Geschichte von den kugelförmigen Vorgängern der Menschen:
"Die Götter, die ihnen ihre vollkommene Form neideten, zerschnitten
eines Tages die Kugelwesen. Lange Zeit taten sie darauf nichts, als
ihre abgetrennte Hälfte zu umarmen. Viele starben vor Hunger und
Traurigkeit, bis die Götter sich ihrer erbarmten. Der einen Hälfte der
verwundeten Wesen stülpten sie das Geschlecht nach innen in den Körper
hinein. […] Ihre wahnsinnige Sehnsucht verwandelte und linderte sich in
[…] Liebe […]. Den nicht enden wollenden Versuch, die Wunde zu heilen
[…]." (158f.)
Die „Wunde zu heilen“, darum geht es auch in der Nacht der
Maueröffnung. Denn die Maueröffnung erscheint als eine Verletzung: „Der
Schmerz brannte im Körper der Stadt“, weil „ihr steinernes Rückgrat“
(80) geöffnet wurde. Die Mörderin des Autors sieht die Mauer als
„Wunde“ folgendermaßen:
"Während ringsum Häuser und Straßen wie neue Hautschichten sich
gebildet hatten, abgestorben und abgeschuppt waren und wieder neu
entstanden, war hier Niemandsland, Ausläufer der Wunde, Narbengewebe,
unempfindlich gegen alles, die Nerven endgültig durchtrennt und die
Verwerfungen auf der Haut offen. […] Nah an einer Aussichtsplattform
stand sie plötzlich und wußte, das war die Wunde. Staunend sah sie zu,
wie entlang der Mauer die Narbe, die mitten durch die Stadt lief,
aufbrach wie schlecht verheiltes Gewebe. Wie man gleißend die Stelle
ausleuchtete und eilig Wundhaken hineintrieb. Blitzenden Stahl ins
Fleisch, um das unter der Anspannung blutleere und weißglänzende
Bindegewebe der Narbe, die seit Jahrzehnten verheilt schien, nun
vollständig aufzureißen." (Vgl. 89-91)
Für einen weiteren Protagonisten des Roman, den Pathologen Prof.
Matern, der Rudolf Virchows riesige Sammlung „menschliche[r]
Mißbildungen“ betreut, wird Berlin in dieser Nacht zu einem
missgebildeten Körper:
"Matern stand am Fenster. Schattenlos die Mauer im gleichmäßigen
Licht der Befestigungsanlagen. Ihre Linie, und damit der Lichtbogen der
Sperrzone, folgte dem Verlauf des Flusses. Mit der Zeit dachte er, war
der sumpfige Bogen der Spree, in den hinein Virchow seine Pathologie
hatte bauen lassen, zu einem Totenreich geworden. Erst mit der Mauer
stockte der Zufluß an Monstren. […] Die Mauer war der Schnitt, mit dem
sich die Stadt vom Osten trennte. Wie man ein Glied amputiert, bevor
die Ptomaine den ganzen Körper überschwemmen." (86f.)
„Ptomaine“ sind Leichengifte, deren Eindringen Matern in der
vermeintlichen Jubelnacht nun für „den ganzen Körper“ der Stadt
Westberlin befürchtet. Durch die Mauer wurde genau dies verhindert,
durch einen Schnitt, „mit dem sich die Stadt vom Osten trennte“. Damit
dreht Matern das Verhältnis von historischer Ursache und Folge um.
Zudem sagt sein Vergleich mit der Amputation, dass der „ganze Körper“
paradoxerweise von der Halbstadt Westberlin gebildet wurde und dass
dieser Stadt-Körper gesund gewesen sei. So entsteht mit der
Maueröffnung das gleichzeitig paradoxe und allegorische Bild eines
künstlich erzeugten siamesischen Zwillings, eines kranken Körpers.
Aus heutiger Sicht verweist dieser frühe Wenderoman außerdem auf
einen Text, der möglicherweise eine weitere Phase der Genreentwicklung
des Wenderomans markiert: Jochen Schimmangs Das Beste, was wir hatten
(2009). Durch Schimmangs Roman könnte an die Ende der 1990 Jahre
unterbrochene Linie angeknüpft werden, in der westdeutsche AutorInnen
ihre Vereinigungsverluste beschreiben.
III.
Abrechnung mit den Müttern: Thomas Brussigs Helden wie wir (1995)
Brussigs Roman darf als einer der größten Publikumserfolge unter
den Wenderomanen insgesamt gelten. Wesentliche Bedingung für diesen
Erfolg war die Darstellung der Wende als komisches Ereignis. Ein
Übrigens tat ein Protagonist, Klaus Uhltzscht, der als Kind
„Flachschwimmer, Toilettenverstopfer und Sachenverlierer“ (Rücktitel)
war, später zum perversen Stasi-Mitarbeiter wurde und schließlich durch
allerlei Glücks-, Unglücks- und Zufälle die Mauer öffnete. Kaum
berücksichtigt wurde, dass der Roman in etlichen Passagen den Gestus
wechselt und die komische Wertungsweise verlässt.[3]
Ein solcher Wechsel der ästhetischen Wertungsweisen vom Komischen ins Tragische gilt als heikel, weil der Leser solche Wechselbäder der Gefühle
in der Regel wenig schätzt. Gleichwohl führt die genauere Betrachtung
jener Szenen zu aufschlussreichen Ergebnissen. Denn es sind vor allem
zwei Zusammenhänge, in denen die Darstellung ins Tragische bzw.
Pathetische übergeht.
Thema des ersten Zusammenhangs ist die ideologische Indoktrination
von Kindern. Dieses Thema wird mittels des Motivs „Lied des Kleinen
Trompeters“ (97ff.) entfaltet. Die emotionale Beeindruckung des
Ich-Erzählers, als es er „ein kleiner Schuljunge war“ (100), empört ihn
derartig, dass er die komische Rolle verlässt: „Der Kleine Trompeter
war – ich sage das zur Vermeidung von Kitsch mit heutigen Worten – ein
Leibwächter Ernst Thälmanns […].“ (97)
Die Parenthese signalisiert dem Leser den Gestuswechsel ins
Ernsthafte. Das macht es ästhetisch nicht besser, soll aber
Missverständnissen bei den Lesenden vorbeugen, denn der Erzähler redet
„vom Menschenbild des Totalitarismus“ (98). Die gestalterische
Unbeholfenheit, mit der dieser Wechsel zu Wege gebracht wird, erlaubt
trotzdem, sozusagen von höherem Gefühlskitsch zu reden, aus unserer
Perspektive ist jedoch auch der Wille erkennbar – entgegen der eben
zitierten Behauptung – durchaus einen Verlust anzuzeigen: Intellektuell
und emotional wehrlose Kinder wurden – so behauptet der Ich-Erzähler –
von Erwachsenen betrogen; der Leser kann auch, angesichts der
zugespitzten Sexualsymbolik im Roman, assoziieren: vergewaltigt. Der
Verlust bezieht sich auf den Betrug der Erwachsenen an den
Geborgenheitsbedürfnissen von Kindern in der DDR. Und diese Form der
Vergewaltigung gewinnt in Brussigs Darstellung sinnbildhafte Qualität:
Erziehung und Sozialisation waren im Endeffekt eine Vergewaltigung.
Diese These wird dadurch gestärkt, dass der 2. Wechsel vom Komischen
ins Tragische der gesellschaftlichen Erziehungs-und
Sozialisationsinstanz gewidmet ist. Und damit ist Brussigs Roman auch
ein Beispiel für die politische Polarisierung[4] innerhalb der
Textgruppe „Wenderomane ostdeutscher AutorInnen“ seit den 1990er
Jahren.
Diese Polarisierung begründet auch das zweite Thema, das Brussigs
Erzähler aus der (komischen) Rolle fallen lässt: die politische Schuld
der Mütter. Mütter tauchen im Roman in mehreren Varianten auf. Die
wichtigsten drei sind: a) die Mutter des Helden, die symbolschwer als
Hygiene-Inspektorin die Sauberkeit in jeder Hinsicht kontrolliert, b)
Jutta Müller, Eiskunstlauftrainerin von Katharina Witt und Symbol der
rigiden, aber erfolgreichen Lehrerin, sowie c) Christa Wolf als die
gefeierte Schriftstellerin und moralische Instanz der DDR-Gesellschaft.
Diese drei Mütterfiguren werden im Roman nicht nur verspottet bzw.
satirisch „vernichtet“ – ihnen wird die Schuld an der – um im Gestus
des Romans zu bleiben – Pervertierung des politischen Systems in der
DDR und an dessen Untergang gegeben. Als der Protagonist Christa Wolfs
Rede am 4.11.1989 auf dem Berliner Alexanderplatz hört, verwechselt er
die Rednerin mit Jutta Müller und plant das Folgende:
"Ich wollte ans Mikrofon stürmen, […] um Schluß zu machen mit
diesem Sozialismus-Hokuspokus, ich […] wollte mich als abschreckendes
Beispiel für Sozialismustümelei vor eine Dreiviertel Million Menschen
stellen. Was mich zusätzlich alarmierte , war eine Assoziation, nämlich
dass sich Jutta auf Mutter reimte und daß durch einen
winzigen Federstrich in Müller die l zu t werden. Jutta Müller, die
Mutter aller Mütter! Die Eislauftrainerin hat sich zu Recht ihr Wir sind das Volk!
ins Knopfloch gesteckt! […] Der Sohn meiner Mutter ist pervers geworden
– was wird aus dem Land, wenn die Eislauftrainerinnen- und
Hygieneinspekteusen-Revolution siegt!" (288)
Literaturgeschichtlich sind Schuldzuweisungen an die Mütter
ungewöhnlich, denn seit der Aufklärungsbewegung des 18. Jahrhunderts
waren es immer die Väter, mit denen die Söhne abrechneten. In Brussigs
Roman jedoch symbolisieren die Mütter-Figuren, wie das Zitat zeigte,
die gesellschaftlichen Autoritäten. Damit werden sie verantwortlich
gemacht für die umfassende Orientierungslosigkeit – bei Brussig eine
weitere Verlustanzeige neben der verlorenen Kindheit – der Söhne. In
Gestalt des Protagonisten rächen sich diese Söhne, indem sie ein Tabu
berühren und vor den Müttern ihre (sexuellen) Perversionen ausstellen.
Ziel ist die Demütigung der Mütter[5], während die Söhne jegliche
eigene Verantwortung von sich weisen.
Die erste Phase der Geschichte der Wenderomane lässt Folgendes
erkennen: Die Texte thematisieren an ihren Protagonisten eine
tiefgreifende Identitätsverunsicherung, die in der Regel mit
selbstverschuldeten Verlusten verbunden sind. Diese Verluste sind so
gravierend, dass sie nicht kompensiert werden können und Ratlosigkeit
erzeugen. Zur Behebung dieser Ratlosigkeit wird die Analyse der
biografischen und gesellschaftlichen Vergangenheit mit dem Ziel
betrieben, Identitätsdeterminanten zu bestimmen und Konsequenzen für
die neue Situation zu ziehen. Doch dieses Bemühen trifft auf
(diskursive) Hindernisse: 1. Die Rückbesinnung wird auf mehr oder
minder direkte Weise mit dem Ostalgie-Vorwurf konfrontiert; 2. die
Protagonisten erleben die Folgenlosigkeit der Analyse ihrer
biografischen bzw. geschichtlichen Erfahrung als komplexe Entfremdung.
Sie reagieren mit Gefühlen der Kränkung, Scham und Demütigung; sie
erfahren sich im Objekt- statt im Subjektstatus. Das wiederum erzeugt
den Eindruck von Perspektivlosigkeit und damit wiederholt sich das
diffuse Verlustgefühl. Der Diskurs des Literaturbetriebs in dieser Zeit
zielte auf Abwehr ostalgieverdächtiger Positionen, ohne dass solche
Begriffe hinreichend geklärt worden wären. Ost-AutorInnen, denen solche
Positionen unterstellt wurden, galten als Träger oder gar
Propagandisten von gesellschaftlichen Werten, die gegen das politische
System der alten BRD gerichtet waren (Stichwort: dritter
Weg/demokratischer Sozialismus), und sie bekamen jenen Exklusionswillen
zu spüren, den der sog. deutsch-deutsche Literaturstreit (1990-1992) anlässlich von Christa Wolfs Erzählung Was bleibt
(1990) etablierte und exemplifizierte. „DDR-Identität“ und „Ostalgie“
waren im literarischen Diskurs die auffälligsten Mittel, die auf
Demütigung der ostalgieverdächtigen AutorInnen (als Personen) und auf
die Delegitimierung ihrer ästhetischen und/oder ihrer politischen
Positionen zielten.
Eine solche Abwehr war für westdeutsche Autoren die Ausnahme (G.
Grass: Ein weites Feld) oder spielte bei gesellschaftskritischen
Darstellungen der Vereinigungsvoraussetzungen (Th. Hettche) keine
Rolle; die mehrheitliche Ablehnung etwa des Romans NOX fand allein auf der ästhetischen Ebene statt.
Bemerkenswert aus heutiger Sicht ist schließlich, dass das Motiv
der „schuldigen Mütter“ im vergangenen Jahr in zwei relativ stark
beachteten Romanen wiederkehrte, in Julia Francks Rücken an Rücken und Angelika Klüssendorfs Das Mädchen.
Da aktuell erneut zwei Romane erschienen, die dieses Motiv aufnehmen,
will ich in meinem Schlussabschnitt wenigstens kurz darauf eingehen.
IV.
Polarisierte Hegemonie
Um das Jahr 2000 war ein eigenartiges Phänomen zu beobachten: In
der DDR geborene oder dort sozialisierte Autoren (u. a. W. Hilbig 2000,
R. Jirgl 2000, G. Neumann 1999, I. Schulze 1998) bestimmten nicht nur
nahezu ausschließlich das Genre des Wenderomans, sondern auch in
anderen Künsten schien sich eine ostdeutsche Hegemonie herauszubilden.
Zumindest konnte man das nach Statements wie „Der Osten regiert das
Land und nun auch die Literatur“ (Diez 2005) glauben. Nach der Wahl
Joachim Gaucks zum Bundespräsidenten sind geradezu absurde Symptome
einer Paranoia zu beobachten, mit denen auf vermeintliche Risse der
westdeutschen Hegemonialposition reagiert wurde.[6]
Aber bereits 2005 konnte man in der ZEIT lesen:
"Jetzt also auch noch die Literatur. In der Politik ist viel
geredet worden über den speziellen Pragmatismus, den sich die beiden
Parteivorsitzenden Merkel und Platzeck angewöhnt haben in all den
Jahren in der DDR – in der Popmusik war das Erfolgsgeheimnis von Bands
wie Rammstein oder Wolfsheim eine konsequent neudeutsche Attacke auf
alle BRD-biedermeierlichen Selbstgewissheiten – im Theater sind es
ostdeutsche Regisseure und Intendanten […], die […] überraschen – in
der Kunst sind es die malenden Melancholiker aus Leipzig, die deutsche
Themen wie Wald, Sehnsucht und mythische Verworrenheit wiederverwerten
und für die Gegenwart umdeuten – und jetzt, so scheint es, will der
Osten dem Rest des Landes auch noch das Schreiben beibringen."
In Westdeutschland geborene Autoren fielen zu jener Zeit allerdings
tatsächlich als Teilnehmer des Wenderoman-Diskurses aus. Das Thema
„Wende und Vereinigung“ schien literarisch durch- und abgearbeitet zu
sein, die Feuilleton-Kampagne[7] unter dem Motto „Wo bleibt der große
Wenderoman?“ hatte sich erschöpft. So konnte man zu dieser Zeit
vermuten.
Die zweite Phase der Geschichte der Wendeliteratur setzt etwa zur
Jahrhundertwende ein und reicht bis in die Gegenwart. Neben den
westdeutschen Autoren fehlten nun auch die Beiträge der ostdeutschen
Autorinnen, und das Genre des Wenderomans wurde durch ostdeutsche
Autoren, die in den 60er Jahren geboren wurden und zur Wendezeit 20 bis
30 Jahre alt waren, bestimmt (Brussig, Schulze, Tellkamp, Wieland). Was
in der biografischen Perspektive als Einheit erschien, zerfiel aber
sofort, betrachtete man diese vermeintliche Einheit ästhetisch. Hier
zeigte sich die Situation komplexer – mit der Tendenz zur
Polarisierung. Die Darstellungswelten der Romane waren vielschichtiger,
umfassender und tendierten zum Panorama (Brussig 2004, Schulze 2005,
2008, Tellkamp 2008). Die Panorama-Perspektive bewirkt naturgemäß eine
Versachlichung der Darstellungen. Die Psychologisierung und
Emotionalisierung der Wende-Stoffe, die Schuld- und
Melancholie-Konflikte gerieten eher in den Hintergrund. Die Stoffe
wurden historisiert und vermittelten einen analytisch-rationalen Zug.
Die allegorische Ebene der Wenderomane blieb erhalten.
Allerdings ist keineswegs von einer weltanschaulich-ästhetischen
Einhelligkeit im Umgang mit dem den Wenderomanen zugrunde liegenden
Stoff, des realen historischen Vorgangs also, auszugehen. Eher ist wohl
von einer (möglicherweise sich verschärfenden) Polarisierung zu
sprechen. Davon war und ist nicht allein die literarische Produktion
gekennzeichnet, sondern auch die Rezeption und Distribution.
Diese Polarisierung sei an zwei herausragenden Texten der jüngsten
Gegenwartsliteratur illustriert, deren öffentliche Wertschätzung
allerdings wesentlich verschieden war.
Uwe Tellkamps Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land
(2008) wurden mit renommierten und ansehnlich dotierten Preise
geehrt.[8] Das war umso erstaunlicher, als der Roman in der
Literaturkritik zunächst durchaus umstritten war.[9] Doch bald setzte
sich eine Lesart durch, die im Kern lautete, Tellkamp habe den
„ultimativen Roman über die DDR geschrieben“ (Krause 2008):
"Und zwar aus der Sicht derer, die nicht eine Sekunde daran
zweifelten, dass sie dagegen waren. Das allein ist schon, nach all dem
Wischiwaschi der Christa Wolfs, Volker Brauns, Christoph Heins und
tutti quanti, eine nahezu erlösende Tat. So klar antikommunistisch, so
voller schneidender Verachtung für das Proleten- und Kleinbürgertum,
das 40 Jahre lang im Ostteil dieses Landes sein Gift verspritzen
durfte, hat noch keiner, der aus diesen Breiten kommt, den Stab
gebrochen." (Krause 2008)
Mit dem letzten Satz seines Romans bestätigt Tellkamp den
Offizialdiskurs zu Wende und Vereinigung, denn dieser Satz lautet: „ …
aber dann auf einmal … / schlugen die Uhren, schlugen den 9. November,
›Deutschland, einig Vaterland‹, schlugen ans Brandenburger Tor:“ (973
[o. S.])
Für dieses sozusagen politisch korrekte Pathos zahlte Tellkamp
allerdings einen hohen Preis. Um es zugespitzt zu formulieren: Der Turm ist
ein affirmativer Thesenroman mit Figuren, die nicht mehr sind als
Marionetten in der Hand des Erzählers. Man ist an die Empfehlung Marx’
an Lassalle anlässlich von dessen Drama Franz von Sickingen erinnert: „Du hättest […] mehr shakespearisieren müssen, während ich Dir das Schillern,
das Verwandeln von Individuen in bloße Sprachröhren des Zeitgeistes,
als bedeutendsten Fehler anrechne.“ (MEW, 29, 592; Kursivierungen i. O.
– WG)
Ein solcher Vorwurf ist auch dem Turm zu machen. Dabei ist
der Roman sehr wohl virtuos erzählt; ein weites Spektrum sog.
„Textsorten“ wird verarbeitet, Erzählperspektiven ebenso wie Orte und
Szenen wechseln in rascher Folge. Und doch kaschiert diese
erzähltechnische Bewegung und Virtuosität doch nur die fehlende Dynamik
der Handlung. Genau genommen gibt es keine Handlung, weil es keine das
Erzählgeschehen tragenden Konflikte – verstanden als unvermittelbare
Interessengegensätze zwischen etwa gleichstarken Figuren – gibt. Mehr
noch: Die Figuren machen keine Entwicklung durch, obwohl sich Der Turm u. a. Goethes Entwicklungsroman Wilhelm Meister zum Vorbild nimmt.
Das ästhetische Gegenstück zum Turm bildet Ingo Schulzes im gleichen Jahr erschienener Roman Adam und Evelyn.
Der Roman führt in den Sommer und Herbst des Jahres 1989 zurück und
stellt Figuren vor, die ganz unterschiedliche Erfahrungen in der DDR
gemacht haben, die deshalb zu ganz unterschiedlichen Urteilen über ihr
bisheriges Leben kommen und deshalb ganz unterschiedliche Erwartungen
und Wünsche haben. Daraus folgen gegensätzliche Positionen zu Wende und
Vereinigung, und der Autor Schulze erinnert an diese komplexe
Erfahrungssituation, die Wirkungen bis heute hat. Deshalb verzichtet
Schulze auf eine auktoriale Erzählinstanz (sondern arbeitet mit zwei personalen Erzählern – einer für Adam, einer für Evelyn)
– eine solche Instanz ordnet bei Tellkamp das gesamte Geschehen.
Schulze lässt vielmehr die Figuren aufeinanderprallen, ohne dass ein
Erzähler dem Leser eine Bewertung solcher Begegnungen aufdrängt. Im
Gegensatz zu Tellkamp gibt es keine Thesen über die Wahrheit, über den
Sinn und das Ziel der Geschichte, die gute und die böse Moral. Das
macht Schulzes Roman literarisch weitaus stärker, politisch aber auch
riskanter; zumindest kann als Indiz gelten, dass Adam und Evelyn bei
der Vergabe von Literaturpreisen vergleichsweise leer ausging.
Ein Beleg für die Souveränität des Romans von Schulze sei
wenigstens angedeutet. Denn im Gegensatz zum biederen Gestus des
Tellkamp’schen Turms, überzeugt Schulzes Humor, mit dem die
Paradiesesgeschichte neu erzählt wird: Nachdem Adam und Eva vom Baum
der Erkenntnis gegessen hatten, wussten sie nicht nur, was gut und was
böse ist, sondern sie erkannten sich auch als nackt. Das war der
Ursprung der Scham. Doch Gott zeigte sich nach etlichen unerfreulichen
Ankündigungen als Folge der Vertreibung aus dem Paradies – schmerzhafte
Geburten, Äcker voll Dornen und Disteln – schließlich doch gnädig: „Und
GOtt der HErr machte Adam und seinem Weibe Röcke von Fellen und zog sie
ihnen an.“ (1 Mose 3.21) Gott als Schneider – das ist einer der
Grundeinfälle für den Roman, der die Geschichte des umschwärmten
Damenmaßschneiders Adam und seiner Freundin Evelyn erzählt. Die
21-jährige Kellnerin bewarb sich vergeblich um einen Studienplatz als
Lehrerin, und urplötzlich taten sich nach der Grenzöffnung in Ungarn
ungeahnte Chancen auf: Evelyn hätte die DDR und Adam verlassen können,
denn den hatte sie in flagranti mit einer Kundin erwischt. Hals über
Kopf flüchtet sie mit ihrer Freundin und deren West-Cousin an den
Balaton.
Adam will zwar in der DDR bleiben, fährt ihnen aber in seinem alten
„Wartburg“ nach, weil er Evelyn ebenso liebt wie seine schönen
„Geschöpfe“, die von ihm eingekleideten Frauen. Adam ist damit im
wörtlichen Sinne ein „Nachfahre“. Überdies ist er ein Nachfahre des
Prometheus („forme Menschen nach meinem Bilde“) und des Pygmalion,
jenes antiken Bildhauers, der sich in eine von ihm selbst geschaffene
Statue verliebte.
Bei einer dieser Reiseunterbrechungen gabelt Adam Katja auf, die
alles verloren hat, als sie in der Slowakei schwimmend durch die Donau
nach Ungarn kommen wollte. Damit ist der Roman bei seiner zentralen
Frage, die für alle DDR-Bürger 1989 stand: Gehen oder Bleiben? Ins
Bibel-Bild übersetzt: Bedeutet der Weggang aus der DDR den Gewinn des
Paradieses oder dessen Verlust? Ist das Bleiben in der DDR eine Sünde
oder eine Tugend?
Es gehört zu den Vorzügen des Romans, solche Fragen nicht zu
beantworten. Der Roman erzählt eher von Alternativen und von der
Möglichkeit, dem eigenen Leben diese oder jene Wende zu geben. Damalige
Entscheidungen und damalige Zweifel werden ernst genommen, weil sie
verständliche Gründe hatten sowie unterschiedliche Hoffnungen und
Sehnsüchte spiegelten.
Das jedenfalls gewährleistet ein Text, der über weite Strecken als
Dialog der Figuren gestaltet ist, ohne dass sich, wie gesagt, ein
Erzähler wertend einmischt. So zeigen sich die Figuren auch als
Geschöpfe ihrer widersprüchlichen gesellschaftlichen Umstände. Und weil
diese Umstände so widersprüchlich waren, erklären sich die
gegensätzlichen Reaktionen auf diese Wende. Die Umstände waren nicht
schwarz oder weiß, sondern sie waren schwarz und weiß;
wie die Elster – in der Kunstgeschichte seit der Renaissance als
„Kündervogel“ bekannt –, die ganz am Anfang und ganz am Ende des Romans
wie zufällig durch Adams Garten hüpft.
Der Anfang und der Schluss veranschaulichen auch, was in wenigen
Monaten geschah: Es ist eine andere Welt entstanden, die nicht zu ahnen
war, und die nun zu begreifen ist, wie die Figuren sich selbst
begreifen müssen.
So beschreibt Ingo Schulzes Adam und Evelyn weniger einen
unbegreiflichen Verlust – wie die Wenderomane der 1. Phase – er
vermittelt aber dennoch ein komplexes, letztlich vieleicht
unbegreifliches Geschehen.
An diesem Punkt und hinsichtlich der Erzählhaltung trifft sich Schulzes Text mit einem ganz anderen Stoff, wie er im Roman Ich schlage vor, dass wir uns küssen (Wieland 2009) verarbeitet wurde.
Dennoch funktioniert Wielands Roman eher nach dem Muster
Melancholie – Paradoxie – Allegorie. Dieser Konstellation wird
gegenwärtig immer noch Attraktivität zugetraut: als Mittel (der
literarischen Produktion), einen Wendestoff zu gestalten, als
Rezipientenmagnet und deshalb auch als Objekt distributiven
(verlegerischen) Engagements.
Die Rahmenhandlung: Der Protagonist und Ich-Erzähler W. – u. a. eine ironische Anspielung auf Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W.
(1972) – erhält eine Einladung zu einem Symposium, bei dem unter dem
Titel „Dichter. Dramen. Diktatur“ (Wieland 2009: 14) den Erfahrungen
der sog. Untergrund- oder Samisdat-Literatur in der DDR nachgegangen
werden und W. zu diesem Zweck einen Vortrag halten soll. Paradoxerweise
kann sich der Adressat nicht daran erinnern, jemals im Widerstand oder
im Untergrund gedichtet zu haben. Nach und nach klärt sich auf, dass
die Liebensbriefe, die W. vor dem Herbst 1989 an seine Freundin in
München geschrieben hatte, von der Stasi abgefangen wurden und die
darin enthaltenen Gedichte als subversive, staatsfeindliche Texte
verstanden wurden. Die Stasi-Akten mit diesen Zuschreibungen wurden
gefunden und führten nach der Wende zu einem erneuten Missverständnis,
W. sei ein Opfer gewesen – obwohl er weder von seiner Täter- noch von
seiner Opferexistenz etwas gespürt hatte.
Da die Gedichte an die Geliebte ironisch die bedeutendsten Lyriker
anspielt (u. a. Brecht und Shakespeare) wird die Referenz beliebig:
Auch der Schmerz in der DDR war alles andere als neu.
Gravierender für den Roman aber ist, dass die grundsätzlichste
Lebenserfahrung des Elektrikers und Philosophie-Studenten W. er schon
in einem besonders alten Text vorfindet: in Das Leben, ein Traum (1635) von Calderón (1600-1681). In Analogie hierzu ist für W „Das Lesen, ein Traum“ (168)
Dies stellt W. fest, als seine durch die Mauer getrennte Geliebte
in einem Brief nach der Vereinigung die Trennung besiegelt; eine Liebe,
die genau in jenem Moment zerbricht, als sie, nach dem Mauerfall, hätte
gelebt werden können. Die deutsche Vereinigung wird demnach zum
Trennungsgrund (eine Konstelltation, wie wir sie an Brigitte Burmeister
Norma bereits kennen).
In der melancholischen Rückbesinnung auf jene Liebe in der
Trennungssituation erfährt W. den „Ritterschlag der Sinnlosigkeit“
(169).
V.
Perspektivische Widersprüche: (Konstituierung der Genregeschichte – westdeutsche Wenderomane – DDR-Retro-Romane)
Inzwischen gibt es Indizien sowohl für eine 3. Phase in der
Geschichte der Wenderomane als auch Anzeichen für das Ende der endlosen
Geschichte des Genres.
Erstens: Sowohl ostdeutsche Autorinnen als westdeutsche Autoren
veröffentlichten in der jüngsten Vergangenheit Wenderomane (Schoch
2009, Schimmang 2009). Damit bestätigen sie die Fortsetzung dieser
Geschichte.
Zweitens – und dazu im Widerspruch – erregten im Verlaufe des letzten Jahres mehrere Romane (auch der Film Barbara
von Christian Petzold) Aufsehen, die stofflich nicht die Zeit der Wende
erfassten, sondern die eine DDR-Retrospektive darstellen, ohne dass die
Wende gewissermaßen teleologische Konsequenz der Geschichte wäre
(Franck 2011, Klüssendorf 2011, Schick 2012). Im Feuilleton wird
bereits vom neuen Trend der „Literarisierung der DDR“ gesprochen. Gegen
diese These – und auch gegen die unklare Bezeichnung „Literarisierung“
– sprechen die literaturgeschichtlichen Tatsachen, denn solche Stoffe
gibt es seit 1990 – man denke nur an Christa Wolfs Was bleibt
(1990) oder die Romane Erich Loests. Die Romane von Franck und
Klüssendorf erzählen literarisch eher unerhebliche Geschichten von
unglücklicher Kindheit und Jugend in den 60er und 70er Jahren in der
DDR. Gemeinsam ist beiden Romanen die auffallend autoritären oder sogar
sadistischen Mütter, die den Kindern das Leben zur Hölle machen und die
verschärfte Varianten jener Mütter sind, die wir aus Brussigs Helden wie wir kennen. Literarisch wesentlich reizvoller ist das Debüt von Bernd Schick[10] (*1951). Sein Roman Erfurths Ehre ist
erst vor wenigen Wochen in einem kleinen Verlag erschienen und
schildert die Obsession eines 18-jährigen Medizinstudenten, der 1965
von der Insel Rügen nach Berlin kam und der sich eine Frau verliebt,
die er als eine „Heldin der Arbeit“ phantasiert. In der Hoffnung, seine
kleinbürgerliche Herkunft aufwerten zu können, steigert Erfurth sich in
einen Wahn hinein, und Schicks Roman zeigt in einer bewusst
expressiv-manieristischen Sprache, wie die Ideologie eines Staates sich
im Unbewussten des Individuums etabliert. Ich halte diesen Roman für
einen der literarisch anspruchs- und reizvollsten der letzten Zeit.
Drittens. Ein Roman wie Simon Urbans Plan D (2011) ist ein
weiteres Indiz für das Ende der endlosen Geschichte der Wenderomane.
Denn dieser Roman spielt vom 19.-29. Oktober 2011 in Berlin, und sein
Grundeinfall ist: Die Grenze zwischen DDR und BRD wurde 1989 wieder
geschlossen, die DDR erfuhr durch Kredite eine „Wiederbelebung“ statt
einer Wiedervereinigung – es fand also eine Art Griechenland-Rettung
statt. Egon Krenz ist im Oktober 2011 weiterhin Staatratsvorsitzender,
Oskar Lafontaine inzwischen Bundeskanzler, und Gregor Gysi plant einen
Putsch gegen Krenz, um den Plan D durchsetzen zu können: die
Vereinigung beider deutscher Staaten auf der Grundlage einer sozial
gerechten, demokratischen, freiheitlichen und rechtsstaatlichen
Marktwirtschaft. Diese absurde Grundidee ist erstaunlich packend als
Liebes-, Agenten- und Kriminalroman erzählt – und sie desavouiert bis
zu einem gewissen Grade die historisch eher konventionellen
Wende-Stoffe, wie wir sie seit 20 Jahren kennen. Insofern ist er
zumindest ein Indiz dafür, dass die Geschichte der Wenderomane ein
baldiges Ende finden könnte.
Aber es gibt durchaus literarische Gegenmodelle.
Julia Schoch schildert in Die Geschwindigkeit des Sommers
(2009) ein Phänomen, das nur im Osten wahrgenommen werden konnte. Nach
dem Selbstmord, den die Schwester der Ich-Erzählerin beging, versucht
jene, den Grund für diesen Suizid zu finden. Es stellt sich heraus,
dass die gesellschaftliche Transformation auch in diesem Fall im
persönlich-individuellen Leben gründlich misslang.
Schoch erzählt, was Volker Braun in seinem berühmten Gedicht Das Eigentum
(1989) in einen einzigen Vers gebracht hat: „Was ich nicht lebte, werd
ich ewig missen.“ Diese Bezugnahme ist ein Hinweis darauf, dass heutige
Wenderomane ihre Referenzobjekte gewissermaßen in der Geschichte des
Genres finden und auf diese Weise diese Geschichte konstituieren.
Es wird von einer Erfahrung erzählt, die vielfach in und nach der
Wende gemacht werden konnte. Einerseits existierte die „verlockende
Vorstellung, daß in diesem anderen Staat ein anderer Lebenslauf“
unerwartet möglich wurde, andererseits gab es die Erfahrung, dass die
„verlockende Vorstellung“ sich als trügerisch erwies und alsbald
zerstob.
Als der Liebhaber der Schwester, einst Soldat im vorpommerschen
Eggesin, auftaucht, entsteht eine andere, paradoxe Verlockung: „Wenn
sie sich gierig küssten, erinnerte sie das an eine Zukunft, die sie
niemals kennenlernen würde.“ (63)
Auf diesen unmöglich gewordenen „ungelebten Plan“ (ebd.) reagiert
die Schwester immer öfter mit einem „starren“ Blick, Symbol eines
In-sich-gekehrt-Sein, einer Introvertiertheit, mit der die wenig
verheißungsvolle Gegenwart und Zukunft ausgeblendet werden, solange die
Kraft reicht.
Dass die Ich-Erzählerin diesen Blick ergründet, ja, geradezu
erforscht, zeigt ihre eigene Krise, um nicht zu sagen, ihre eigene
Gefährdung. Indem sie über die Schwester erzählt, versperrt sie sich
den Weg, den ihre Schwester nahm. So wird die Schwester im Verlaufe des
Romans sowohl zum anderen Ich der Ich-Erzählerin als auch zu einer
Figur der Provokation.
Schochs Roman ist als Erzählkunstwerk auch deshalb reizvoll, weil
mit der Referenzialität des Textes durch den halb ironischen Hinweis
gespielt wird, die Ich-Erzählerin habe „schon einmal“ (64) über die
Schwester geschrieben. Und tatsächlich enthält Schochs Debüt Der Körper des Salamanders (2001) eine solche Geschichte (Letzte Ausfahrt).
Demnach gibt es einen nach innen gekehrten Blick auch auf das eigene
Werk. Der Leser kann also weitere Sinn-Bezüge des neuen Romans finden,
in dem er sich die „alten“ Texte vergegenwärtigt. Damit erstreckt sich
die Referenzialität bzw. Intertextualität auf die Werkgeschichte der
Autorin selbst.
Als der aktuell wichtigste „westliche Wende-Roman“ (Person 2010) gilt Jochen Schimmangs Das Beste, was wir hatten (2009).
Der Melancholie-Aspekt bei Schimmang wird bereits durch den Titel
gesetzt, und die Handlung dieses konventionell-realistischen
Entwicklungs- und Schlüsselromans bestätigt dies: Es ist die
Lebensgeschichte Gregor Korffs, eines ehemaligen 68ers, der beim Marsch durch die Institutionen von
diesen integriert wurde, sodass Gregor – keine Rezension vergisst, ihn
einen „Melancholiker“ zu nennen (z. B. M. Braun 2009) – „mit
Überzeugung gesagt hätte: Ich liebe Bonn.“ (87)
Der Roman beschreibt die Verlustgefühle, die bei der Bewusstwerdung
entstanden sind, die alte Bundesrepublik existiere seit 1989 nicht
mehr. Die im Vergleich zu den Wenderomanen der ostdeutschen AutorInnen
so spät im Roman eines westdeutschen Autors dargestellte Gefühlslage
ist durch den bis dahin herrschenden Eindruck, Sieger der Geschichte zu
sein, leicht zu erklären. Nun aber, 20 Jahre nach der Wende, schärft
sich der Blick für die Verluste, die dieser Sieg einbrachte.
Die Literaturkritik geht bislang ungewöhnlich empathisch und
nachsichtig mit Schimmangs Roman um, obwohl dessen Konstruiertheit
gelegentlich bemerkt, aber nicht bemängelt wurde. In einer Kritik war
sogar zu lesen: „In der letzten Zeit ist oft die Forderung nach einem
definitiven Roman über ,1989‘ erhoben worden […]. Warum könnte sich die
deutsche Literaturkritik zur Erfüllung dieser Forderung nicht vorläufig
auf Schimmangs ,Das Beste, was wir hatten‘ einigen?“ (Wackwitz 2009)
Kurzes Fazit:
Aufs Ganze gesehen ist ein Ende der Geschichte des Genres
„Wenderoman“ wohl noch nicht absehbar. Ebenso wenig ist mit einer
Homogenisierung des belletristischen Diskurses zu Wende und Vereinigung
zu rechnen. Der wird so anhaltend kontrovers bleiben wie die Reaktionen
z. B. auf die Maueröffnung. Die Schriftstellerin und Publizistin Annett
Gröschner erinnert sich in diesem Zusammenhang folgendermaßen: „Heute
läßt sich kaum noch nachvollziehen, warum ich in der Nacht, als die
Mauer fiel, so wütend war. […] Ich wußte, die Zeit der Anarchie war in
diesem Moment vorbei. Die Mauer zu öffnen, war die letzte Rache derer,
deren Macht längst dahingeschwunden war.“ (Deckert 2009: 27f.)
Solche Thesen reizen heute wohl noch intensiver zu Antithesen. Die
Basis der anhaltenden Kontroverse fasste der Herausgeber einer
Anthologie mit Erinnerungen von AutorInnen an den Mauerfall in den
Satz: „Zu begreifen ist es bis heute nicht.“ (Deckert 2009: 18)
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Anmerkungen
[1] Die Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf den jeweils
diskutierten literarischen Text und auf die im Anhang angegebene
Ausgabe.
[2] „Norma“ ist ein Anagramm auf „Roman“, kann aber auch auf
den Nachnamen der Autorin Monika Maron bezogen zu werden. Dabei ist zu
berücksichtigen, dass die IM-Tätigkeit Marons (zwischen 1976 und 1978)
erst 1995 öffentlich bekannt wurde.
[3] Selbst in einer Dissertation zur Wendeliteratur hieß es über Brussigs Helden:
„Nur diejenigen, die nie vom Sozialismus träumten, diejenigen, die
gänzlich ohne ein Verlustempfinden[!] die Jahre 1989 - 1995 erleben,
können auf solch respektlose Weise wie Brussig […] schreiben.“ (Stelzig
2009: 61)
[4] Vgl. etwa den ebenfalls mit komischen Mitteln arbeitenden
Roman Moskauer Eis (2000) von Annett Gröschner (*1964), die im gleichen
Jahr geboren wurde wie Thomas Brussig.
[5] Es wäre eine Studie wert, kollektive Mütter- und
Weiblichkeitsbilder im Zusammenhang mit der DDR und ihrer Institutionen
nach der Wende zu untersuchen. Beispielsweise wurde „die Stasi“ häufig
als „die Krake Stasi“ bestialisiert, obwohl „Krake“ im Deutschen nur
als Maskulinum korrekt ist.
[6] Es ist zudem die Bezeichnung „Trümmer-Ossis“ für Ostdeutsche wie
Merkel und Gauck eingeführt worden, die (nur) dann in
Führungspositionen gelangen, wenn (mehrere) Westdeutsche in diesen
Positionen gescheitert sind. Es handelt sich offensichtlich um eine
Analogiebildung zu „Trümmerfrauen“, die die materiellen Folgen des von
Deutschland verursachten 2. Weltkrieges beseitigten; auch hier finden
sich also Weiblichkeitsbilder, die pauschal den Ostdeutschen nach dem
Beitritt zugewiesen werden.
[7] Eine vielfach vorgetragene und meist ironisch verstandene These
besagt, das Genre des Wenderomans sei eine Erfindung bzw. ein Phantom
des Feuilletons großer Wochen- und Tageszeitungen. So hieß es in der
NZZ: „Seit 1989 geistert das Phantom des Wenderomans durch die
Feuilletons. Allenthalben ist die Rede davon. Hier wird einem Buch das
Prädikat aufgedrückt, da wird es einem anderen abgesprochen. Doch
niemand weiss, was damit gemeint sein soll.“ (Bucheli 2005)
[8] Nach dem Deutschen Buchpreis 2008 (25.000 Euro) folgten
2009 der Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung (15.000 Euro) und
der von der Deutschen Nationalstiftung verliehene Deutsche
Nationalpreis (50.000 Euro)
[9] Die Vorwürfe bezogen sich u. a. auf die Buddenbrooks- und Wilhelm-Meister-Nachahmung, Schwächen der Figurengestaltung; es gab auch den Vorwurf des Plagiat einer Geschichte (Paul Dienemann Nachfolger) des Dresdener Autors Jens Wonnebergers aus seinem Erzählband Die letzten Mohikaner (Dresden: Die Scheune, 2003).
[10] Bernd Schick war in den 80er Jahren stellv. Chefredakteur der Weimarer Beiträge.
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