Text | Kulturation 2015 | Dieter Kramer | Commons - die kulturwissenschaftliche Sicht
| Notwendige Unterscheidungen
Gemeinnutzen, Allmende, commons gehören nicht der
Europäischen Ethnologie, auch wenn sie schon oft Gegenstand ihrer
Studien waren. Die Wissenschaftsdomäne, der sie zuzurechnen sind, ist
Gemeingut. Der Ökonom Jürgen Kuczynski hat in dem ersten Band seiner Geschichte des Alltags
ein ganzes Kapitel über Gemeinnutzen und vorindustrielle
Genossenschaften aufgenommen und dabei intensiv auf den Volkskundler
Karl Sigismund Kramer und seine Studien zurückgegriffen (Kuczynski
1981: 246 – 302). Und wenn man kulturwissenschaftliche Feldforschung
und Studien zu aktuellen neuen Gemeinnutzen machen will, muss man sich
über ihre Zusammenhänge mit den umgebenden Feldern Gedanken machen.
Die commons, Gemeinschaftsgüter, meint der Soziologe
Rainer Rilling, „beziehen sich auf gemeinschaftlich besessene, geteilte
oder genutzte Naturgüter und materielle Ressourcen (Wasser,
Fischbestände, Rohstoffe, Wald, Land, Luft, Wildbestände) oder auch auf
gemeinschaftliche soziale und kulturelle Ressourcen (Plätze, Wissen,
Ideen, Traditionen). commons meint Öffentlichkeit (die auf dem Diskurs von Privateigentum aufbauen kann); es meint öffentlicher Raum (Public Space), den zu unterschiedlichen Zwecken frei zu betreten und zu nutzen Jede/r das gleiche Recht hat; es meint Public Domain
(als handlungs- und damit nutzungsoffenen Raum, der nicht durch
juristische Formen wie dem Copyright geschützt ist – in der
Rechtsprechung freilich in der Regel nur als unbestimmte
Residualkategorie behandelt wird); es meint öffentliche Güter, Gemeinschaftsressourcen, Netzwerkökonomie oder Geschenkökonomien, es meint endlich eine Kultur und Ökonomie des communi-care, des Gemeinsam-machens Teilens, Mit-Teilens, auch des Sich-Kümmerns um das Gemeinsame. Die commons
stehen somit für vielfältige Facetten einer anderen Ökonomie und Kultur
als der politischen Ökonomie des Privaten.“ (Rilling 2009: 175/176; s.
auch Helfrich 2011, 2012).
Will man commons und öffentliche Güter in der aktuellen
Politik behandeln, bringt es allerdings wenig, so unpräzis zu
definieren. Zu längst nicht allen dieser genannten Güter haben alle
Menschen ohne Begrenzung Zugang: Es gibt ihn zu Luft und Sonnenlicht
(auch nicht immer!), aber in den meisten anderen Fällen handelt es sich
um Güter mit geregeltem Zugang. Wasserrechte, Waldrechte, Weiderechte,
Wegerechte sind seit altersher auf verschiedenste Weise begrenzt. commons
sind, wie auch Garrett Hardin zugeben musste (Ostrom 2011: S. 112),
geregelte und verwaltete Gemeingüter. Sie sind als solche vielfach noch
heute wichtig und werden auch in Zukunft eine Rolle spielen.
Eine Form von Gemeingütern sind die im Wertesystem verankerte
gemeinschaftlich geteilten und eingeforderten Grundregeln des
Miteinander (der Kultur), Wertevorstellungen und Verhaltensstandards,
wie sie mit der Sozialisation erworben und im sozialkulturellen Prozess
immer neu ausgehandelt werden. Ohne sie kann keine Gemeinschaft
existieren (eingeschlossen sind z. B. Verkehrsregeln, bei denen es ein
Gemeingut ist, dass die meisten Menschen sich daran halten).
Man kann Gemeingüter (eingeschlossen virtuelle Gemeingüter wie Höflichkeit usf.) als Oberbegriff verwenden, muss dann von Gemeinnutzen als der geregelten Nutzung von Gemeingütern
reden. Zur großen Familie dieser geregelten Gemeinnutzen gehören
Allmende, Almweiden, Bewässerungseinrichtungen und andere
Nutzergemeinschaften, auch die Genossenschaften. Geregelte Gemeinnutzen
sind für die Europäische Ethnologie alte Themen (Weiss 1941, Kramer
1986, 1993, 2012 u.v.a.), und es ist schade, dass die
Sozialwissenschaften so wenig Kenntnis davon nehmen.
Materielle und soziale Grundrechte
Gemeingüter sind konfliktträchtig, und sie existieren in Gemeinschaften, die konfliktfähig sind.
Sie sind angewiesen auf eine geteilte Vorstellung von Werten, und sie
bedürfen der konfliktregulierenden, damit auch zum Sanktionieren
fähigen Strukturen. Jedes Weistum, jedes Taiding, jede Dorfordnung der
Vergangenheit zeugt davon. Diese Fähigkeit der Organisation des
Zusammenlebens in Nutzergemeinschaften ist auch Voraussetzung und
Inhalt von allem „Brauchtum“.
Die intensivste, den Staat und die öffentlichen Institutionen
verpflichtende, aber gleichzeitig immer wieder neu zu interpretierende
Form des Gemeingutes sind in den bürgerlichen Staaten die Grundwerte
der Verfassungen, eingeschlossen die dort formulierten sozialen und
materiellen Grundrechte. Prägend wirken sie auf Rechtssystem und
Verhaltenserwartungen, gleichzeitig sind sie geprägt von den
Traditionen und Praktiken der Bürger. Ihre Inhalte hängen in Europa
nicht nur, wie gern behauptet wird, mit den „jüdisch-christlichen“
Traditionen zusammen, sondern auch mit den antiken Traditionen, der
Aufklärung und der Klassik, noch mehr aber mit den sozialen Bewegungen
des 19. Und 20. Jahrhunderts. Ohne letztere sind Demokratie und
Wohlfahrtsstaat nicht zu denken. Die Grundwerte und sozialen
Grundrechte sind Voraussetzung aller zivilgesellschaftlichen
Aktivitäten, auch der zeitgenössischen Suchbewegungen nach neuen
gemeinschaftlichen Lebensformen jenseits von Staat und Markt: Ihr Raum
sind die Rechte und Ansprüche der Bürger, wie sie in den Verfassungen
formuliert sind.
Es gibt die Freiheitsrechte oder liberalen Grundrechte, die
Staatsbürgerrechte oder politischen Grundrechte (auf die
Mitwirkungsbefugnisse bezogen), und schließlich die Leistungsrechte
oder sozialen Grundrechte, die dem Individuum Ansprüche auf öffentliche
Leistungen verbürgen.
Sie sind keine Selbstverständlichkeit, wie zum Beispiel die
Kritik von Max Horkheimer an Jürgen Habermas zeigt. Horkheimer wittert
„hinter dem Postulat einer sozialstaatlichen Demokratie, die die
materiellen Voraussetzungen für die politische Teilnahme aller Bürger
gewährleistet, eine Wiederauferstehung des Revolutionsbegriffs“, wo
Revolution ersetzt wird durch „Entwicklung der formellen zur
materialen, der liberalen zur sozialen Demokratie“ (Müller-Doohm 2014:
122).
In der Weimarer Verfassung des Deutschen Reiches werden
soziale Grundrechte für Deutschland erstmals aufgenommen: Art. 119
Schutz der Ehe und der Kinder, Art. 122 Jugendschutz, Art. 143
öffentliche. Bildung, Art. 148 Volksbildungswesen, Art. 151.1: „Die
Ordnung des Wirtschaftslebens muss den Grundsätzen der Gerechtigkeit
mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für
alle entsprechen. In diesen Grenzen ist die wirtschaftliche Freiheit
des Einzelnen zu sichern.“ In Art. 155 geht es um Verteilung und
Nutzung des Bodens, in Art. 161 um Versicherungswesen für alle, und in
Art. 163 wird indirekt ein Recht auf Arbeit festgeschrieben: Gibt es
keine Arbeit, so tritt im Ersatzfalle das Recht auf Unterstützung ein.
In Art. 165.4 geht es um den Schutz des Mittelstandes.
So ausführlich werden anderswo die sozialen Grundrechte nicht
formuliert. Im Bonner Grundgesetz Deutschlands von 1949 können sie
abgeleitet werden aus Art. 1.1 Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Und aus Art. 2.1 Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit kann ein Recht auf Bildung für alle abgeleitet werden.
Im Bonner Grundgesetz lesen wir weiter (die österreichische
Verfassung formuliert ähnliche Ansprüche in vielen ihrer Ergänzungen): Art. 2.2 Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.
Art.3.1 Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
Art. 3.2 Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert
die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Männern und
Frauen und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
Art.6.1 Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.
Art. 6.4 Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.
„Es ist also nicht mehr reines Bekenntnis , wenn das
Grundgesetz sagt, die Würde des Menschen sei unverletzlich oder jeder
habe das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit oder Männer
und Frauen seien gleichberechtigt. Diese schönen Formeln haben vielmehr
handgreiflich Gestalt gewonnen, indem ein Bundesverfassungsgericht
darüber wacht, dass sie im Finanzamt und auf dem Polizeirevier …
Anwendung finden.“ (Dahrendorf 1965: 466) Der Staatsrechtler und
Politikwissenschaftler Wolfgang Abendroth formuliert: „Das
entscheidende Moment des Gedankens der Sozialstaatlichkeit im
Zusammenhang des Rechtsgrundsatzes des Grundgesetzes besteht also
darin, dass der Glaube an die immanente Gerechtigkeit der bestehenden
Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung aufgehoben ist, und dass deshalb
die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der Gestaltung durch
diejenigen Staatsorgane unterworfen wird, in denen sich die
demokratische Selbstbestimmung des Volkes repräsentiert.“ (Abendroth
1967: 113/114)
Öffentliche Infrastruktur, „Meritorische Güter“ und Privatisierung
Immer gehört nicht nur die ideelle Lebensgrundlage der
geteilten Werte, ausformuliert oder nicht, sondern auch die formell
oder informell gemeinschaftlich organisierte Infrastruktur zu den
Voraussetzungen gesellschaftlichen Lebens. Sie ist so ebenfalls ein
Gemeingut, bereitgestellt für die und finanziert von der
Nutzergemeinschaft der (aller) Angehörigen der Gemeinschaft oder
(Staats-)Bürger (nicht nur der Wirtschaft). Die (Dorf-)Gemeinschaften
der Vergangenheit organisierten ihre Dorfordnung; in der bürgerlichen
Gesellschaft ist es der Staat, der „sich in größerem Maße um die
Bereitstellung der kollektiven Mittel der Produktion und Reproduktion
kümmerte. Alle möglichen Formen der Infrastruktur, Sozialwohnungen,
Gesundheits- und Freizeiteinrichtungen und alle möglichen Formen
sozialer Dienste wurden kollektiv organisiert, häufig durch Schulden
finanziert, aus dem privaten Zirkulationsprozess des Kapitals
herausgenommen und durch kollektives Kapital weitergeführt, das der
Staat investierte und kontrollierte.“ (Swyngedouw 2009: 106).
Der Wohlfahrtsstaat des Postkeynesianismus und Fordismus hat
öffentliche und soziale Güter und Infrastruktur auch für ein Leben
jenseits von Verwertungszusammenhängen gefördert, konnte also auch
Lebensqualität stark gewichten (Hermann u.a.2009: 126). In den 1970er
Jahren wurden Freizeiteinrichtungen als notwendige Bestandteile der
Infrastruktur und der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die
gesellschaftliche Reproduktion (konkret für die Wirtschaft) angesehen
(Kramer 2011).
Diese „objektivierende“ Interpretation der Infrastruktur wies
in den 1970er Jahren einige Leerstellen auf. Das Denken war so auf
Produktion und Arbeitskraft fixiert, dass andere Bereiche weitgehend
ausgeblendet blieben. Das gilt z. B. für die allgemeinen
Lebensgrundlagen der Gemeinschaft (die „ideelle Lebensgrundlage“,
Grundwerte usf., „Kultur“ im Sinne der unterscheidenden Charakteristika
einer Gemeinschaft, wie die UNESCO sie benennt und wie Ethnologen sie
beschreiben können; auch sozialkulturelle Ressourcen gehören dazu).
Christian Meier (1993) hat mit der Formel von der „mentalen
Infrastruktur“, die im antiken Athen z. B. von Theater vermittelt
wurde, eine Dimension angesprochen, die noch darüber hinaus geht.
Nicht berücksichtigt wurde einst auch die Dynamik der
Konsumwelten, dank welcher die Infrastruktur sich veränderte.
Telekommunikation ist ein Beispiel: Das Monopol der Post wurde
aufgebrochen, und rasch entwickelte sich ein gigantischer Markt von
Endgeräten und Datentransport-Dienstleistungen mit entsprechenden
Anforderungen an eine öffentlich bereitzustellende Infrastruktur. Mit
den neuen Technologien wurden Wünsche befriedigt, von denen wir gar
nicht wussten, dass wir sie haben (Stöcker 2011: 168/169). Eingeholt
und aufgezehrt, ja in einem Rebound-Effekt überkompensiert wurden alle
Möglichkeiten, Produktivitätsgewinne in Lebensqualitäts- und
Freizeitgewinne zu verwandeln (Kramer 2011).
Die neoliberale Theorie spricht bei sozialen Grundrechten und
Infrastruktur von „meritorischen Gütern“ (ein schon im Begriff
abwertende Bezeichnung). Es „sind solche, deren Konsum unabhängig von
Wirtschaftlichkeitserwägungen gesellschaftlich erwünscht ist. Sie sind
gleichsam halböffentlich. Der Begriff, der darauf anspielt, daß jeder
Mensch den Zugang zu diesen Gütern unabhängig von seiner Zahlungskraft
‚verdient‘, wurde in den fünfziger Jahren von dem
Wirtschaftswissenschaftler Richard Musgrave geprägt. Meritorische Güter
bestehen aus zwei Komponenten: einer teilbaren und potentiell
rivalisierenden, die marktfähig ist, und einer zweiten, für die sich
kein Preis bilden und mithin kein Verkauf bewerkstelligen läßt. Ein
gutes Beispiel ist die Gesundheit. Meine Gesundheit ist zwar nicht
rivalisierend, da sie die anderer keineswegs ausschließt: dennoch lässt
sie sich von deren Gesundheit trennen, sie ist also teilbar, und
deshalb sind gesundheitsfördernde Maßnahmen ohne weiteres marktfähig.“
(Crouch 2011: 64/65; 112; s. auch Haselbach 2012: 53/54) Ähnlich ist es
mit Bildung und mit „Gütern“, wie sie durch die Kulturinstitutionen
vorgehalten werden. Solche „Vermarktlichung“ wird im Wettbewerbsstaat
favorisiert (Candeias 2009: 42)
Nach dem Ende des Neokeynesianismus werden mit Prinzipien des
neoliberalen Denkens öffentliche (gemeinschaftliche) Güter und
Dienstleistungen privatisiert. Es ist der „Prozess der Kommodifizierung
und der anschließenden Privatisierung von Gütern, die während des 20.
Jahrhunderts weitgehend nicht in den Zirkulationsprozess des
Privatkapitals integriert waren, sondern öffentlich, genossenschaftlich
oder in anderen Form kollektiv organisiert gewesen waren.“ (Swyngedouw 2009: 110)
Die kulturwissenschaftliche Forschung sollte sich hier einmal
die Aufgabe stellen, zu prüfen inwieweit die Aufklärung, der
Josepinismus und die Kritik an der Historischen Rechtsschule
einschließlich der Reformen des frühen 19. Jahrhunderts Vorläufer oder
Vorbedingungen solcher Privatisierung waren, indem sie das „alte Recht“
der Gemeinschaftsgüter und der „vormodernen“ Standards des „guten und
richtigen Lebens“ zurückdrängten zugunsten der „liberalen“ Werte.
Genossenschaften in der Familie der Gemeinnutzen
Um Gemeinnutzen für die Politik zu kommodifizieren, müssen sie
angemessen interpretiert werden. In der historischen Entwicklung des
liberalen Staates und der Arbeiterbewegung wie der Linken treten Staat
und Gebietskörperschaften als allumfassende Fürsorger programmatisch an
die Stelle der Nutzergemeinschaften im Rahmen der kommunalen und
korporatistischen Selbstorganisation der Ständegesellschaft und der aus
ihr überkommenen Strukturen. Das staatszentrierte Denken des Marxismus
ist ein Hindernis, die Bedeutung der (vom Staat gesicherten und
bestätigten, auch unterstützten) Formen der Selbstorganisation im
dynamischen Fließgleichgewicht der Organisation des gemeinschaftlichen
Lebens anzuerkennen.
Rainer Rilling sieht die commons in der jüngeren Geschichte ersetzt durch „Staatlichkeit oder den genossenschaftlichen Charakter
von Gütern, Diensten und Unternehmen“ (Rilling 2009: 176), geht dann
nur auf die Defizite des Staates in der Wettbewerbsgesellschaft und
setzt ein allgemeines Öffentliches mit Gemeinwohlorientierung
dagegen (ebd.: 187). Das könnte sich dann programmatisch auf die
sozialen Grundrechte stützen (zu denen er, obwohl selbst
Abendroth-Schüler, nicht dessen Programmatik zitiert).
Entwertet werden dabei die Genossenschaften: Sie stehen der
großen Familie der (von Nutzergemeinschaften geregelten) Gemeinnutzen
näher als dem Staat. Gewiss, sie sind in vielen ihrer Formen auch Teil
des privatwirtschaftlichen Systems. Die Handlungslogiken der
Profitmaximierung werden im Neoliberalismus nicht nur auf staatliche
Unternehmen übertragen, sondern auch auf Genossenschaften (ebd.: 189).
Hagen Henrÿ (2012) von der Universität Helsinki erinnert an
einschlägige Prozesse. Die aktuelle Hegemonie des Privaten im liberalen
Marktradikalismus zwingt auch den Genossenschaften die „marktlichen
Operations- und Denkweisen wie Zielwerte“ weitgehend auf (ebd.: 183).
Damit sind Genossenschaften nicht von selbst ein Bestandteil des neu
geforderten Öffentlichen. Freilich gibt es eine „ständige Irritation des Privaten durch die Kultur des commons“.
Rilling führt in diesem Kontext auch die Welterbe-Programmatik der
UNESCO an (ebd.: 184), aber es geht ja viel weiter. Nicht umsonst wird
im Umfeld der grün-linken Bewegungen die Genossenschaftsidee intensiv
propagiert (Helfrich 2012).
Selbstorganisation, Gemeinnutzen und Politik
Genossenschaften lassen sich als „Problemlöser“ empfehlen (und
sie werden vielfach als solche genutzt), wenn es um Probleme kleiner
Kommunen oder einen „Nahversorgungs-Notstand“ geht. Vor allem gilt dies
in Situationen, in denen man keinesfalls immer den Staat als Helfer
anrufen kann. Hier sind Kräfte der Selbstorganisation gefragt (Brazda
2012; s. auch Scherhorn 2011). In einer Art Zangenbewegung sind es auf
der einen Seite die Selbstorganisations-Versuche „von unten“, auf der
anderen Seite die Neuentdeckung und Aufwertung des commons-Prinzips durch die Ökonomen, die sich aufeinander zu bewegen, aber dabei auf eine Menge von Problemen aufmerksam machen.
Die übergeordneten staatlichen (gebietskörperschaftlichen,
grundherrschaftlichen) Strukturen waren auch in der Vergangenheit für
die geregelten Gemeinnutzen wichtig – sei es, dass die Herrschaft sich
ihrer Rechte versichern wollte, sei es, dass die Nutzergemeinschaften
damit überfordert waren, ihre Ansprüche gegen diejenigen anderer
Gemeinden oder Grundherrschaften zu sichern. Die übergeordneten
Institutionen müssen die Organisation der Gemeinnutzen anerkennen und
dürfen nicht versuchen, die von ihr verwalteten Ressourcen selbst zu
kontrollieren.
So waren die geregelten Gemeinnutzen in der Geschichte immer
an politische Voraussetzungen gebunden. Nicht weniger gilt dies für die
Gegenwart. Der Gesetzgeber hat Aufgaben nicht nur zur Sicherung des
Genossenschaftsprinzips, sondern auch bei der Neuorientierung ihrer
Aufgaben ohne Gefährdung ihrer Identität (Henrÿ 2012; s. meinen Beitrag
„Weder Elfenbeinturm noch Auftragsforschung: Die neue Bedeutung der
Europäischen Ethnologie“ demnächst in der ÖZV).
Colin Crouch erinnert daran, dass der Staat zwar von den
Neoliberalen zurückgedrängt wird, aber dennoch für sie gut genug ist,
Märkte zu schaffen. Er tut dies nicht nur durch die Privatisierung von
Gemeinnutzen, sondern auch „durch die Ausschreibung von
Dienstleistungen, deren Nachfrage über Jahre vom Staat garantiert wird
… Zu einer Zeit, da sich der globale Wettbewerb auf allen Märkten
verschärft, sind Staatsaufträge äußerst reizvoll“, und deshalb wird
darauf gedrungen, die Privatisierung öffentlicher Dienste
voranzutreiben (Crouch 2011: 127). Aber an diesem Punkt ist der Staat
auch gehalten, Gegenstrategien zu entwickeln, etwa bei der Sicherung
von sozialen und materiellen Grundrechten. Dies spielt etwa bei der
Wasserversorgung eine Rolle (Rauchegger 2014).
Auch im Kulturbereich ist dies wichtig. In den Verhandlungen
zu TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership) geht es
2014/2015 nicht nur um den Handel, sondern auch um Kulturpolitik. „Eine
Gleichbehandlung des Kulturbereichs mit den regulären Wirtschaftsgütern
würde dem Doppelcharakter des Kulturbegriffs im Sinne der
UNESCO-Konvention zum Schutz der kulturellen Vielfalt gerade nicht
genügen und diese kulturelle Vielfalt im Gegenteil sogar stark
beschneiden. Die Buchpreisbindung, die Theaterförderung durch die
öffentliche Hand, ja sogar die staatliche Kulturförderung insgesamt
könnte sich letzten Endes als Beschränkung des freien Handels
entpuppen.“ (Grandmontagne 2014: 21)
Informelle sozialkulturelle Prozesse spielen dabei eine
Rolle, etwa in der Musikbranche. „Unabhängig von allen
Begleiterscheinungen und Rückschlägen brachte es über wenige Jahre eine
ganz Generation zustande, den Warencharakter von Songs zu ignorieren,
die Wertschöpfungsketten zu umgehen und sich gegenseitig mit genau den
Kunstwerken des jeweiligen Geschmacks zu beglücken. Zu klären wäre
auch, was an Kultur als öffentliches Eigentum im Sinne eines
Allmendguts verstanden werden kann, wo aber Gefahr durch Rivalität und
Übernutzung drohen.“ Daran erinnert Martin Wimmer von dem „Institut
Solidarische Moderne“ 2015 in einem unveröffentlichten Manuskript. Das
formuliert Aufgaben, zu denen die Sicherung der Überlebensbedingungen
der Kreativen durch ein verändertes Urheberrecht gehört.
Die neu entstehenden Formen der Selbstorganisation bedürfen
der Anerkennung und Sicherung durch die staatlichen Institutionen.
Wahrnehmen und unterstützten kann die Politik all solche Formen der
Selbstorganisation von neuer Gemeinschaftlichkeit: Gemeinschaftsgärten,
Urban Gardening, Tauschringe, Direktvermarktung usf. Sie sind auch
deswegen wichtig, weil so die Idee des Gemeinnutzens jenseits von Staat
und Markt (die entsprechende „Denke“: Es geht auch anders) verankert wird.
Den demokratisch legitimierten öffentlichen Institutionen sind
durch Vorgaben der EU und – in Zukunft – der Freihandelsabkommen wie
TTIP vielfach die Hände gebunden. Sie werden durch
zivilgesellschaftliche Initiativen aufgefordert, alle Spielräume bis an
die Grenze (oder auch darüber hinaus) zu nutzen. Das gilt auch für die
Auftragsvergabe durch die öffentlichen Hände, z. B. die Kommunen.
Der unveröffentlichter Entwurf der Kommunalpolitischen
Leitlinien der SPD Frankfurt am Main vom 4. Februar 2015 fordert zum
Beispiel unter der Überschrift „Stadt der guten Arbeit“: „Wir wollen,
dass Frankfurt in allen Bereichen eine Stadt der guten Arbeit bei guter
Entlohnung wird. Während es vielen in Frankfurt sehr gut geht, gibt es
auch in unserer reichen Stadt noch zu viele prekäre
Arbeitsverhältnisse. Wir wollen Leiharbeit und befristete
Arbeitsverhältnisse eindämmen. Die Stadt soll als Arbeitgeber Vorbild
für andere sein: Wir wollen eine verbindliche Tarifbindung für alle
Arbeitnehmer/-innen, die direkt oder indirekt für die Stadt arbeiten
(in er Stadtverwaltung, in allen städtischen Gesellschaften,
Subunternehmen, stadtnahen Vereinen und von der Stadt beauftragten
Trägern). Das heißt, dass die Tarifsteigerungen der Beschäftigten der
freien Träger ebenfalls zu refinanzieren sind. Dazu gehören auch die
Sicherung er Ausbildungsplätze und die Vereinbarkeit von Familie und
Beruf. Bei der Vergabe städtischer Aufträge sind neben wirtschaftlichen
Kriterien auch soziale und ökologische Komponenten wie Tarifbindung,
Ausbildung, Anteil der Leiharbeit, Familienfreundlichkeit und
altersgerechte und gesundheitsfördernde, diskriminierungsfreie
Arbeitsbedingungen zu berücksichtigen.“
Das muss sich z. B. gegen die Vergaberichtlinien der EU
behaupten. Die Pflicht, EU-weit auszuschreiben kann man aushebeln,
indem man so spezifiziert ausschreibt, dass nicht jeder sich bewerben
kann.
Die Bevorzugung von bäuerlicher Landwirtschaft und lokalen
Genossenschaften ist auch keine Selbstverständlichkeit. In der Politik
müssen sich, gefördert durch den Druck der „Zivilgesellschaft“ der
sozialen Bewegungen, neue Regulierungen entwickeln, z. B.
Gesetzesprojekte, die sich auf die Absicherung von commons
(Gemeinnutzen), auf die Prinzipien des Genossenschaftswesens, auf
Verbraucherschutz und Nachhaltigkeit, auf die Sicherung und
Privilegierung öffentlicher Güter (Wasser, digitale Allmende usf.)
beziehen. Dadurch können Elemente einer „kleinen Transformation“ als
Vorstufe einer über die gegenwärtigen, von der Finanzwirtschaft
dominierten Verhältnisse hinausweisender Veränderung entwickelt werden
(Klein 2013: 136).
Das alles mag manchen angesichts der „Vielfachkrise“ marginal
scheinen. Aber: „Im Vorfeld von ökonomischen oder politischen Brüchen
oder auch unabhängig von ihnen ereignen sich molekulare Veränderungen
in den gesellschaftlichen Verhältnissen, alltäglicher Ausdruck der
Bewegungsformen gesellschaftlicher Veränderungen, die zunächst kaum als
solche sichtbar sind.“ (Candeias 2011: 47). Solche „molekularen
Veränderungen“ sind es, in denen das Morgen im Heute zu tanzen beginnt (Klein 2013).
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Sachkultur, Recht, Älplerarbeit und Alperleben. Erlenbach-Zürich: E.
Rentsch 1941.
Unter dem Titel "Zum aktuellen Verständnis von commons,
Gemeinnutzen und Genossenschaften - Eine kulturwissenschaftliche Sicht"
wird dieser Aufsatz in der nächsten Ausgabe von "KUCKUCK - Notizen zur
Alltagskultur" erscheinen. Kuckuck wird von der Europäischen Ethnologie der Universität Graz halbjährlich herausgegeben.
http://www.uni-graz.at/kuckuck/ku/index.php?option=com_content&view=article&id=46&Itemid=1
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