Text | Kulturation 2/2005 | Dietrich Mühlberg | Deutschland nach 1989: politisch geeint - kulturell getrennt? Vortrag anlässlich der 11. Helmstedter Universitätstage am 23. September 2005 (vollständige, ungekürzte Fassung) | Vortrag anlässlich der 11. Helmstedter Universitätstage am 23. September 2005 (hier in der vollständigen, ungekürzten Fassung)
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Was ist mit „innerer Einheit“ der Deutschen gemeint?
An Veranstaltungen zu glücklichen Jahrestagen sind die Versammelten
festlich gestimmt und erwarten, dass auch die Vortragenden sich
angemessen verhalten, dass ihre Botschaft positiv und heiter sei und
die Art des Vortrags sie zu leichter Nachdenklichkeit anrege. Wie kann
man bei solch einer Erwartung auf die vom Veranstalter gestellte heikle
Frage antworten, ob die Deutschen, die seit fünfzehn Jahren in einem
Staat friedlich politisch vereint sind, dennoch und auf andere Weise
vielleicht noch uneins sind? Am besten zitiert man zunächst
Gewährspersonen. „Stimmt es, dass der raschen und problemlosen
Angleichung der politischen Institutionen eine ‚innere Einheit’ noch
nicht gefolgt ist?“ fragten etwa Martin und Sylvia Greiffenhagen und
diskutierten die Frage, ob hier nicht gar „zwei politische Kulturen“
neben- oder gegeneinander stehen [1].
Zu den Jahrestagen wird weniger grundsätzlich darüber gesprochen.
Gewöhnlich kommen die Redner zu dem Befund, die „innere Einheit“ sei
noch nicht ganz erreicht oder vollzogen und man müsse noch einiges
gegen die sog. „Mauer in den Köpfen“ tun. Festtage legen nahe, das
Positive zu betonen, also das kulturell Verbindende hervorzuheben und
Trennendes als einen bedauerlichen Restbestand darzustellen.
Allerdings kann kaum übersehen werden, dass sich in letzter Zeit
die Stimmen mehren, die da meinen, das „Projekt Einheit“ sei überhaupt
gescheitert. 2003 wurde durch Hans-Werner Sinn, Präsident des Münchener
ifo-Instituts ein (noch immer verbreitetes) offizielles Tabu gebrochen,
als er feststellte, „dass man die wirtschaftliche Vereinigung der
beiden deutschen Landesteile als gescheitert ansehen kann“. Sie war „in
wirtschaftlicher Hinsicht ein Fehlschlag“, das „ostdeutsche BIP je
Person im erwerbsfähigen Alter lag 1996 bei 61% des westdeutschen
Niveaus; nun sind es 59%.“ [2] Dem folgten im April 2004 das
dramatisch-kritische Papier der Beratergruppe um Klaus v. Dohnanyi und
andere Memoranden. Die großen Parteien hielten sich nicht nur im
Wahlkampf mit diesem Thema zurück, doch die Debatte hält an. Am 3.
Oktober wird Altkanzler Helmut Schmidt mit Hans-Werner Sinn darüber
diskutieren, „wie die Einheit doch gelingen könnte“. Heute anscheinend eine offene Situation.
Im publizistischen Bereich wurde frühere Zurückhaltung gleichfalls
aufgegeben und das „Ende der Illusion“ proklamiert - damit machte der
SPIEGEL in einem thematischen Heft über das „Jammertal Ost“ den Anfang:
„Der Aufbau Ost ist abgeschlossen, wo jetzt nichts blüht, da wird auch
nichts mehr wachsen - diese Erkenntnis macht sich in der
Bundesregierung breit. Von den 1250 Milliarden Euro Westhilfe ist zu
viel in den Konsum geflossen oder verschleudert worden, zu wenig wurde
sinnvoll investiert.“ Die subjektiven Folgen auf beiden Seiten wurden
aufgelistet: „Nach 15 Jahren ist ein großer Teil der Ostdeutschen noch
nicht in der Bundesrepublik angekommen. Viele hängen der Bequemlichkeit
der DDR nach und haben sich an das Prinzip der Eigeninitiative nicht
gewöhnt. Die extremen Parteien von links und rechts haben Zulauf wie
nie.“ Auf westlicher Seite wächst die Empörung darüber: „Den
Landsleuten im Westen ist die Euphorie der Stunde Null schon lange
abhanden gekommen: Die ‚Wessis’ haben das Jammern der Ostdeutschen
satt. 1250 Milliarden Euro Bruttotransferleistungen sind seit 1991 in
die neuen Bundesländer geflossen - von Wachstum und blühenden
Landschaften kann allerdings kaum die Rede sein.“ [3]
Seit dem vorigen Herbst wurden die Stimmen lauter, die irgendwie
sagen wollen „Wir sind kein Volk“. So nannte jedenfalls im vorigen Jahr
Wolfgang Herles sein provozierendes Buch [4]. Er meint, dass die hart
erkämpfte deutsche Einheit 1990 das Land der Deutschen nur noch tiefer
gespalten habe, in Ost und West, in Arm und Reich, in Profiteure und
Zahler. Die blühenden Landschaften in Ostdeutschland wären ferner denn
je, die gesamtdeutsche Wirtschaft werde durch die falsch konzipierte
Vereinigung gelähmt: Statt der versprochenen Zuwachsraten gäbe es
Stillstand, ja sogar Rückschritt. Und schon jetzt sei absehbar, dass
die ‚Wiedervereinigung’ Deutschland länger belasten werde, als die DDR
existiert hat. Ostdeutschland lebe in wohlgepolsterter
Hoffnungslosigkeit, hier blühten außer Nostalgie, Langeweile und
Trostlosigkeit nur Protestparteien.
Ähnlich grundsätzlich ist auch Uwe Müllers Buch „Supergau Deutsche
Einheit“ (2005) [5]. Wenn der Westen jetzt nicht gegensteuert, wird er
"dem Osten in den Abgrund folgen". Schaut man sich die Reaktionen auf
solche Publikationen an, dann wird an den Generalbefunden nicht
wirklich gezweifelt, strittig ist eher, ob denn auch alle
Ursachen für die dramatische Lage im Osten gesehen werden und ob man
etwaige Lösungsangebote für praktikabel hält. Denn wenn etwa Müller
meint, „wenn sich nichts ändert, ist Deutschland am Ende“ und dann die
Lösung darin sieht, "dass sich der Osten aus der Umklammerung des
Westens löst und für seine besonderen Probleme eigene Lösungen findet",
dann fehlen dafür augenblicklich so gut wie alle Voraussetzungen.
In den letzten beiden Jahren ist also eine „Debatte darüber
entbrannt, ob nicht die deutsche Vereinigung die Hauptschuld an den
gegenwärtigen Problemen des Landes trage. Unmittelbar damit verknüpft
sind gegenseitige Schuldzuweisungen. Die einen sehen die Ursachen in
der Mentalität der nostalgischen, obrigkeitsfixierten Ostler, die zu
eigenem Handeln nicht fähig seien, die anderen verweisen auf eine
kolonialistische Übernahme durch den Westen, was zur Zerstörung der
Lebensgrundlage des Ostens geführt habe.“[6]
Bevor man angesichts solch negativ-zuspitzender Befunde betrübt
oder gar verzweifelt ist, sollte man sich doch fragen, ob so etwas wie
die „innere Einheit“ überhaupt ein erstrebenswertes Ziel wäre.
Schon weil dies mit der Frage beginnt, wie denn das einheitliche Ganze
aussehen solle, von dem aus Erfolg oder Misserfolg gemessen werden
könnte. Und dann geraten dabei auch verschiedene Aspekte von
Vereinheitlichung und Differenzierung in den Blick. Und dazu möchte ich
etwas sagen.
Einmal blickt man damit auf das Spannungsverhältnis, das da
zwischen dem 1990 in Ostdeutschland eingeführten kompletten System
westdeutscher Institutionen einerseits und der darauf nicht
vorbereiteten ostdeutschen Mentalität andererseits besteht. Das
übergestülpte Neue war höchst problematisch, denn davon hatten sie im
Osten ja keine Ahnung. Doch nach diversen Fehlversuchen und
Irritationen können die Ostdeutschen heute mit den Institutionen der
westlichen Demokratie wie mit denen der Marktwirtschaft ganz gut
umgehen - freilich auf ihre Weise. Und da Westdeutsche ihren Umgang mit ihren eigenen, bei ihnen
historisch gewachsenen Institutionen selbstverständlich für normal
halten, sind sie mitunter irritiert - zumal sie Zehntausende von
Fachleuten in den Osten entsandt hatten, die den Menschen dort doch
mehrfach alles genau erklärt haben. Vielleicht halten gerade sie
die „innere Einheit“ erst dann für erreicht, wenn die Ostdeutschen
genau so handeln und bewerten, wie sie es tun. Es gibt aber gute Gründe
für die Annahme, dass Unterschiede in der Bewertung und Benutzung des
gemeinsamen Gefüges gesellschaftlicher Institutionen der Bundesrepublik
bleiben werden. Die Spielregeln lassen das zu und auch die Tatsache,
dass die Ostdeutschen wie die Westdeutschen die parlamentarische
Demokratie als Staatsform mit absoluter Mehrheit befürworten. Ein Novum
in der deutschen Geschichte. Immerhin sind 41 Prozent der Westdeutschen
und 27 Prozent der Ostdeutschen sogar „mit dem politischen System, so wie es funktioniert“
zufrieden. Offenbar sehen vor allem Ostdeutsche die Praxis der
demokratischen Institutionen, der Parteien und der politischen Eliten
immer kritischer. 2003 waren nur 6 Prozent von ihnen mit ihrem eigenen
politischen Einfluss „zufrieden“ (und „sehr zufrieden“), und nur 9
Prozent der Ostdeutschen mit der demokratischen Entwicklung. „Volles“
oder „viel Vertrauen“ in den Bundestag setzten 5 Prozent (die
Bundesregierung kam auf 6, die Kommunalverwaltung auf 18 und die
Polizei auf 39 Prozent). [7]. Dies lässt vermuten, dass wir es in
Deutschland tatsächlich mit zwei verschiedenen politischen Kulturen zu
tun haben.
Etwas anders sieht es aus, wenn unter der Überschrift „innere
Einheit“ die Unterschiede in den Lebensbedingungen thematisiert werden,
also die Kluft in Arbeitszeit und Löhnen, von Einkommen und
Besitzständen in den Blick gerät. Wie wir wissen, begann da die
anfänglich schnelle Annäherung des Ostens an den Westen schon vor zehn
Jahren zu stagnieren und inzwischen werden die Abstände in allen Daten
dieser Art von Jahr zu Jahr wieder größer. Wer in die Analysen der
Wirtschaftsspezialisten geschaut hat, der weiß, dass es keine
begründete Hoffnung darauf gibt, dass dieser Trend in absehbarer Zeit
gewendet werden könnte, sondern die Wirtschaftsleistung des Ostens im
nächsten Jahrzehnt weiter absinken wird. Die Schere in den
Lebensverhältnissen öffnet sich also weiter, eine als Angleichung
verstandene innere Einheit kommt vorläufig nicht zustande. Das ist
nicht mein Thema, sei aber als Hintergrund für die Betrachtung der
kulturellen Situation wenigstens erwähnt.
Der dritte Aspekt der Diskurse über die „innere Einheit“ der
Deutschen betrifft ihre Fähigkeit, nicht nur miteinander auszukommen -
also die Eigenheiten des anderen zu ertragen und zu respektieren -
sondern darüber hinaus auch das Vermögen, ein Wir-Gefühl zu entwickeln.
Das ist ein Kulturproblem im weiteren Sinne und „die Kultur“ wird sogar
als das Medium angesehen, das eine solche Einheit zu vermitteln und zu
garantieren geeignet ist. Sie erinnern sich sicher noch gut daran, dass
in der Zeit staatlicher Trennung die gemeinsame Kultur als das
einigende Band der Deutschen angesehen worden ist. Und das konnte so
falsch nicht gewesen sein, denn was sollte sonst die Begründung dafür
abgeben, dass der Restbestand von Bismarcks kleindeutscher Lösung sich
1990 durch die Aufnahme ehemals preußisch-protestantischer Provinzen
als neue Bundesrepublik konstituierte? „Nun wächst zusammen, was
zusammen gehört“ hieß es, doch schon bald konnte man auf der einen
Seiten reden hören: „was nicht zusammen gehört, wächst auch nicht
zusammen“ und auf der anderen hieß es: „was nicht zusammenwächst,
gehört auch nicht zusammen“.
Für Kulturwissenschaftler sind diese innerdeutschen
„Kommunikationsstörungen“ ein überaus interessantes Phänomen, und so
habe ich ohne Zögern zugesagt, als ich gefragt wurde, ob ich hier bei
den Universitätstagen wieder mitwirken wolle. Ich fühlte mich
geschmeichelt und war etwas leichtsinnig. Denn erst viel später habe
ich durch das Programm erfahren, dass hier diskutiert werden soll, ob
1989 eine Epochenzäsur markiere und es sich bei den makropolitischen
Vorgängen der letzten fünfzehn Jahre um eine Zeitenwende handele. Als
Kulturhistoriker kann ich kaum zu diesem Thema beitragen, und das
Epochenproblem ist von anderer Dimension als die kulturellen
Nuancierungen bei den Deutschen. Ich denke aber – und das will ich auch
zu zeigen versuchen - dass hinter kulturellen Differenzen ein
unreflektiertes Empfinden für eine Art Zeitenwende durchaus vermutet
werden kann.
Sind die Deutschen ein innerlich gespaltenes „Wir“?
Ist nun unsere Gesellschaft ein innerlich gespaltenes „Wir“, dessen
Teile nicht so recht zusammengehören? Nun ist „Zusammengehörigkeit“
vermutlich keine „belastbare“ Kategorie. Gemeint sind damit wohl
Bindungskräfte jenseits von Interessengegensätzen und von politischem
Machtkalkül, bewusste wie unbewusste, die durchaus mit dem Wort
„Kultur“ beschreibbar sind. Denn tatsächlich ist mit dem
Geltungsbereich einer Kultur immer auch ein Sozialkörper verbunden, der
sich über diese Kultur als ein „Wir“ versteht. Einigende Kraft hat
„Kultur“ aber nur nach innen, denn sie ist ja zugleich das Medium, über
das wir uns abgrenzen, mit dem wir „das Andere“, das „Fremde denken“
und fühlen.
Als Helmstedt vor fünf Jahren mit den Universitätstagen auf ein
Jahrzehnt deutsche Einheit bilanzierend zurückblickte, hatte ich an
dieser Stelle die Gelegenheit, schon etwas darüber zu sagen. Ich
versuchte zu erläutern, warum und auf welche Weise „die Ostdeutschen“
dabei wären, so etwas wie eine eigene kulturelle Identität auszubilden.
Denn ihrem Wollen, richtige Deutsche zu sein stünden - trotz aller
drängenden Notwendigkeit zur Assimilation - einige „objektive“
Hindernisse entgegen, die bei ihnen zu einer „doppelten deutschen
Identität“ führten und führen. Sie sind zunächst selbstverständlich
„richtige“ Deutsche. Aber trotz aller kulturellen Gemeinsamkeiten mit
den anderen richtigen Deutschen sind sie zugleich die
Minderheit der Ostdeutschen mit allerlei Eigenheiten. Eine solche
Identitätsspaltung kennen die Angehörigen der westdeutschen Mehrheit
nicht. Westdeutsche sind einfach Deutsche und haben selten einen Anlass
sich zu fragen, was denn das bedeute. Diesen Anlass bieten nun - neben
den eingebürgerten Migranten aus fernen Ländern - vor allem die
Ostdeutschen. Und auch darum müssen die Eigenarten der Ostdeutschen für
sie häufig unverständlich und wenig tolerabel sein - denn denen fehlt
einfach einiges von dem, was richtige Deutsche ausmacht. Akzeptiert
werden solche Abweichungen von den „Mehrheitsdeutschen“ - wie wir mit
einem leichten Bedauern feststellen müssen - nach inzwischen fünfzehn
Jahren Einheit immer weniger.
1989 lag man sich jubelnd in den Armen und weinte tatsächlich
Freudentränen über das unverhoffte Glück der deutschen Einheit. Die
damalige Hochstimmung vieler Ostdeutscher ist ja recht plausibel, aber
was machte die Mehrheit der Westdeutschen so froh, als wäre mit der
Eingemeindung der DDR ein sehnlicher Wunsch in Erfüllung gegangen? Mir
ist das bis heute ein Rätsel. Hätte man gesagt: „Nun gut, der Russe
will sie nicht mehr haben, nun wollen wir sie nicht vor der Tür stehen
lassen …“ - aber innere Befriedigung und öffentlicher Jubel? Vielleicht
war ja einiges davon auch politische Inszenierung und Medienrummel.
Ob angeheizt oder nicht - das überschwängliche Verhältnis kühlte
sich phasenweise ab. Schließlich begannen sogar wechselseitige
Schuldzuweisungen. Die berühmten Meinungsforscher fragten bald nach, ob
es nicht besser wäre, wenn die Mauer noch stünde. Immerhin zwölf
Prozent der Ostdeutschen meinen das heute, im Westen sind es 24
Prozent, meldet der Stern nach einer Forsa-Umfrage [8] (nach anderer
Befragung sollen sogar vierzig Prozent so denken). Andere ermittelten,
dass anfangs die Ostdeutschen vor allem Deutsche sein wollten
(jedenfalls sahen sich fast 80 Prozent zuerst als Bundesbürger) und
inzwischen bei 73 Prozent von ihnen die Bindung an Ostdeutschland an
erster Stelle steht. Offenbar hat sich auf beiden Seiten das Bekenntnis
zu einem großen „Wir“ abgeschwächt. 2003 fühlten sich 20 Prozent der
Ostdeutschen als „richtige Bundesbürger“ (bei den jungen Leuten unter
25 waren es 43 %, bei den Beamten 38 %), die DDR wünschten sich 11 %
von ihnen zurück (von den jungen Leuten 19 %, von den Arbeitslosen 22
%). [9].
Bleibt der Osten eine Kleine-Leute-Gesellschaft?
Für den Osten ist keine wirtschaftliche Trendwende in Sicht, breite
Kreise erleben Arbeitslosigkeit und Sozialabbau als existenzielle
Dauerkrise und es zeichnet sich ab, dass sie auf Jahrzehnte in einer
alimentierten Sonderregion leben werden. Bei dieser Lage sind selbst
einige Kulturwissenschaftler der Meinung, dass es falsch wäre, nach
kulturellen Unterschieden zwischen West- und Ostdeutschen zu suchen,
wenn es doch vor allem um soziale Unterschiede und
Interessendifferenzen gehe. Sie betonen andere Verschiedenheiten, voran
die andere Struktur der ostdeutschen Teilgesellschaft: sie ist eben
keine Zweidrittel- oder Mittelstandsgesellschaft. Als Folge der
egalitären Gesellschaftsorganisation der DDR und durch den nach 1990
einsetzenden sozialen Abstieg breiter Schichten ist sie heute - trotz
der Zuwanderung von etlichen zehntausend Beamten und Akademikern, von
Rechtsanwälten, Medienleuten, Firmengründern und neuen Agrariern - eher
eine Unterschichtengesellschaft.
Sie kennen wahrscheinlich die Daten: Während sich in
Westdeutschland 72 Prozent der Beschäftigten der Mittelschicht (oder
höher) zugehörig sehen und stolz auf ihre Mittelschichtgesellschaft
sind, in der Wohlstand und Integration für zwei Drittel der Bevölkerung
erreicht wurden, ordnen sich im Osten fast zwei Drittel der Unter- und
Arbeiterschicht zu [10]. Der Kulturwissenschaftler Michael Hofmann
schrieb dazu: „Die Ostdeutschen kennen die historisch gewachsene
selbstverständliche Zuordnung zu einer Mittelschichtgesellschaft nicht.
… sie fühlen sich [ihr] mehrheitlich nicht zugehörig. Und es ist auch
nicht zu erwarten, dass sich die Mehrheit der Ostdeutschen bei der
derzeitigen wirtschaftlichen Lage einem Mittelschichtselbstbewusstsein
annähern wird. … Bleibt im Westen das Selbstbild einer
Mittelschichtgesellschaft dominant, werden die unterschichteten
Ostdeutschen insgesamt auch weiterhin als nicht standesgemäß empfunden
werden. Und bildet sich in Ostdeutschland, dafür gibt es einige
Anzeichen, ein dem arbeiterlichen Selbstbewusstsein folgendes
dominierendes Selbstbild der ehrlichen, fleißigen
Kleine-Leute-Gesellschaft heraus“ - dann werden „die Abgrenzungen
zwischen Ost und West wohl noch einige Jahrzehnte die alten kulturellen
deutschen Nord-Süd-Mentalitätsdifferenzen überlagern.“ [11] Für eine
solche Prognose spricht auch, dass sich die allgemeinen
Ost-West-Unterschiede in den Lebensverhältnissen (Arbeitslosigkeit,
Arbeitszeit, Lohn, Rente usw.) eher dauerhaft verfestigen werden.
Ungern werden bislang die politischen und kulturellen Folgen
diskutiert, die diese „beitrittsbedingte“ Vergrößerung der
Unterschichten der bundesdeutschen Gesellschaft hat und was das
erwartete weitere Anwachsen der Unterklasse bringen könnte. Ist zu
befürchten, dass das soziale Mitleid der „Mitte“ in Furcht vor
Destruktion und Gewalt von unten umschlägt? Obwohl die
staatspolitischen „Reformer“ schon etwas vorsichtiger geworden sind,
zeigt sich die neoliberale Selbstsicherheit noch unbeeindruckt von
solchen Szenarien.
Geschichtliche und andere Hintergründe ostdeutscher Eigenheiten
Ich möchte auf einige andere Hintergründe aktueller kultureller
Differenzen hinweisen, zunächst aber etwas zur Blickrichtung sagen. Wer
nach Trennendem oder Unterschieden fragt, der gilt da, wo über die
Einheit geredet wird, schnell als Schwarzmaler oder als politisch
unkorrekt. Dabei ist unbestritten, dass die deutsche Gesellschaft in
sich heterogen ist. Gleich anderen modernen Gesellschaften ist sie
nicht monokulturell verfasst. Eine große Zahl ihrer „kulturellen
Selbstverständlichkeiten“ hat ihren Ursprung außerhalb der
Landesgrenzen, und im Innern haben wir eine Art transnationaler
Mischkultur. Jeder von uns lebt in kulturellen Mehrfachbindungen,
gehört verschiedenen Kulturen an. Diese Vielfalt, Differenzierung und
Pluralität wird von allen klugen Leuten als vorteilhafte Eigenart
unserer Zeit hervorgehoben. Auch diejenigen, die den Begriff
„Leitkultur“ favorisieren gehen - genau wie ihre Kritiker - von einer
realen kulturellen Vielfalt aus, möchten die aber durch eine
verbindliche „Deutschkultur“ dominiert sehen - eine allerdings recht
waghalsige Absicht.
Was die Ursachen und Hintergründe solcher Kulturunterschiede nun
speziell zwischen Ost- und Westdeutschen angeht, gibt es eine ganze
Reihe theoretischer Ansätze. Viele Wissenschaftler machen dafür die
jüngste Zeit, also die aktuelle Situation nach 1990 verantwortlich,
weil die radikale Transformation die Ostdeutschen psychisch überfordert
habe, die nun enttäuscht mit Apathie oder Protest auf die Einheit
reagierten. Andere verweisen auf die frühere sozialistische
Sozialisation. Hier hätten Familie, Schule und Hochschule, die
Arbeitswelt und das Organisationssystem einen spezifischen
DDR-Charakter hervorgebracht, der nicht in die westlich strukturierte
Umwelt passe. Nun ist gar nicht daran zu zweifeln, dass mentale
Unterschiede zwischen Ost und West auf die Sozialisation unter den
beiden sehr verschiedenen Systembedingungen zurückgehen. Kulturelle
Eigenarten sind aber über Generationen langlebig, sodass noch weit
ältere regionale Prägungen vermutet werden müssen. In einer so
geschichtsbewußten Stadt wie Helmstedt können solche „Fernwirkungen“
nicht überraschen.
Gehen wir in die Geschichte, so zeigt schon der erste Blick:
„Deutschland war immer ein Flickenteppich der Kulturen. Von den
katholischen Bauernkulturen des Südens bis zum hanseatischen
Liberalismus, von der rheinischen Merkantilität bis in die vom
Junkertum geprägten Ebenen des Ostens“[12] Die föderale Struktur
unseres Staates ist auch politischer Ausdruck der aktuellen kulturellen
Unterschiede - anders als im zentralistischen Frankreich, wo das Wort
„Provinz“ eine kulturell negative Bedeutung hat. Aber wie ist es da mit
dem Osten und seinem Platz in der deutschen Kultur?
In der Literatur finden sich viele Verweise auf historische Wurzeln
heutiger ostdeutscher Besonderheiten. Voran selbstverständlich der
Hinweis, dass es sich bei den neuen Bundesländern um die Restbestände
des ostelbischen Kolonisationsgebietes handelt - einst eine Region
weitgehend selbstverwalteter Dörfer, später unter die Junker und in
eine zweite Leibeigenschaft geraten. Und dann natürlich ein
protestantisches Gebiet mit dem besonders trockenen preußischen
Pietismus und seiner rigorosen Pflichtethik, der seine Zentren in Halle
und Berlin hatte. Auf ihn geht unser System der Volksschulen zurück,
das sich als streng vormundschaftliche Fürsorge und nicht als
Philanthropinum verstand. Der Alltag war durch pietistische
Bescheidenheit und preußische Genügsamkeit geprägt. Berlin war Residenz
mit Kommandoton, weil immer zugleich ein großes Militärlager.
Vielleicht also kein Wunder, dass die DDR das militärische Preußen mit
seiner Betonung der Sekundärtugenden fortsetzte, die der Rheinländer -
obwohl auch er ein Preuße - so gar nicht mag. Die allgemeine Neigung zu
Arbeitsfleiß und Disziplin könnte man auch vermuten, weil Sachsen und
Berlin die Kerngebiete der deutschen Arbeiterbewegung mit ihrem
Zentralismus und ihrer ausgeprägten Organisationskultur waren. Sie erst
ermöglichte den Druck von unten und bewirkte, dass unter Regie des
Preußenkaisers in Berlin der moderne Sozialstaat seinen Anfang nahm,
der alle Formen paternalistischer Vorsorge bei „Vater Staat“
institutionalisierte. Erwähnenswert ist dies aus zwei Gründen. Einmal
weil nach 1945 beide deutsche Teilstaaten in dieser Tradition standen
und umfassende Konzepte der Daseinsfürsorge verwirklichten. Und dann
auch, weil etliche Außenbeobachter den umverteilenden Sozialstaat für
den Kern deutscher Identität halten.
Preußen blieb aber irgendwie Preußen, und dieses „Östliche“ war dem
übrigen Deutschland, war dem deutschen Westen schon früher suspekt.
„Gute Abendländer und Römer“, schrieb (der „Nationalbolschewist“) Ernst
Niekisch 1949, ließen es sich nie ausreden, dass der deutsche
Protestantismus und der preußische Staat Ausstrahlungen des geistigen
Klimas Russland-Asiens gewesen seien. Als protestantischer Preuße galt
man unter guten Europäern allerorts schon als halber Sarmate“. [13]
Nach 1945 geriet Ostdeutschland anscheinend völlig in das „geistige
Klima Russland-Asiens“. Und wenn Konrad Adenauer mahnend die Stimme
erhob: „Der Russe stehe vor der Tür“, zitterte die ganze Bundesrepublik
und glaubte schon die Panzer rollen zu hören. Während hier die
Westwendung den „deutschen Sonderweg“ beendete, gab es in
Ostdeutschland keine Amerikanisierung, sondern, wie einige Experten
meinen, eine Sowjetisierung.
Das war ein Erklärungsansatz, mit dem in den letzten Jahren
versucht worden ist, deutsch-deutsche Unterschiede aufzuhellen: die
eine Seite wurde amerikanisiert, die andere sowjetisiert. Ein eher
westdeutscher Erklärungsversuch, galt doch im Westen die
Amerikanisierung als der entscheidende Wandel in der politischen
Kultur, als jene Westwendung, mit der verhängnisvolle deutsche
Traditionen überwunden worden waren. Ostdeutschen dagegen sei das
verwehrt geblieben, sie wurden nach 1945 wahrscheinlich „sowjetisiert“.
Nun ist ja der prägende Einfluss der Sowjetunion auf die ostdeutsche
Gesellschaft nicht zu übersehen. Nur bliebe zu bedenken, dass heutige
wie frühere russische Kritiker des sowjetischen Kommunismus ihn für
eine deutsche Erfindung halten, die ihnen 1917 mit aktiver
Unterstützung der deutschen militärischen Führung von sog. „Westlern“
(wie Lenin einer war) übergeholfen worden ist. Man mag verstehen, dass
Russen so denken, doch wird es Deutschland nicht ganz gerecht. Zwar
galt die deutsche Sozialdemokratie zu Beginn des vorigen Jahrhunderts
in Nord-, Ost- und Südeuropa als eine Art Lehrmeister, doch die
sozialistischen Ideen der Neuzeit haben ihren Ursprung bekanntlich in
England und Frankreich. Entscheidende Impulse erhielt die deutsche
Arbeiterbewegung bekanntlich aus Paris, Lyon, Brüssel, Genf und London.
Der Zeithorizont dieser Veranstaltung erlaubt es nicht, auch noch
auf die sozialisationswirksamen Eigenheiten des ostdeutschen Systems
näher einzugehen. Einige stichwortartige Andeutungen müssen genügen.
Generell war die DDR wohl eine Industriegesellschaft mit verhinderter
Modernisierung (hin zur „Dienstleistungsgesellschaft“), sie war
absichtlich egalitär strukturiert, war eine „Fürsorgediktatur“ mit
sozialer Sicherheit als oberstem Wert. Es war ein „Staatssozialismus“:
so gut wie alles war durch den Staat garantiert und geregelt, auch die
Interessenkonflikte, die meist nicht offen, nicht auf demokratische
Weise ausgehandelt wurden. Es war eine Arbeitsgesellschaft, in der die
eigene Arbeit für alle die Existenzgrundlage bildete, weil so gut wie
alle ohne Privateigentum waren (Produktivvermögen und Immobilien). In
einigen Bereichen war Geschlechtersymmetrie erreicht, in allen
angestrebt - mit großer Selbständigkeit der Frauen durch Bildung,
Berufstätigkeit und soziale Absicherung. Es war eine Gesellschaft ohne
Marktdominanz, fast alles war geplant, Geld hatte keine
Kapitalfunktion, es war nur ein Mittel, Konsumgüter zu erlangen (darum
zweitrangig). Und es war von unten bis oben eine Gesellschaft der
kleinen Leute, ohne wirklich beispielsetzende Eliten; die Lebensweise
war durch Arbeitertraditionen geprägt. Diese Gesellschaft wurde von der
politischen Klasse als Gemeinschaft verstanden (übergreifende
Kollektivität), die ein gemeinsames Ziel anstrebt (Zielkultur).
Zweifellos haben diese Umstände alle Menschen im Osten geprägt,
gleichgültig wie sie sie erlebt haben und wie sie dazu gestanden haben.
Über ostdeutsche Eigenheiten und ihr mögliches kulturelles Fortleben
Was nun die aktuellen und damit empirisch zugänglichen Unterschiede
zwischen beiden Teilgesellschaften angeht, sind die Hinweise auf
sichtbare Phänomene wie auf Hintergrunddaten überquellend und es gibt
keinen Lebens- und Verhaltensbereich, für den nicht größere oder
kleinere Differenzen ausgewiesen wurden und werden. Hier liegen
Alltagsbeobachtung und statistische „Empirie“ dicht beieinander. Alle
großen Medien kommentieren sie gern, von Kindstötung bis Badeunfall
werden die Ost-West-Vergleichsstatistiken herangezogen: Wohnungsgröße,
Ausgaben für Kosmetika, Anzahl der Sachbeschädigungen wie der
Vergewaltigungen, Kilogramm Müll pro Kopf, tägliche Fernsehminuten,
Neugeborene usw. usw. so gut wie alles ist untersucht und statistisch
ausgewiesen, manches inzwischen über Jahre konstant. Solche
Alltagsdaten sind nicht nur für die Boulevardmedien interessante
Aufhänger, auch die Kulturforschung kann mit ihnen etwas anfangen und
prüfen, ob solche quantitativen Differenzen auch Unterschiede in den
kulturellen Verhaltensmustern signalisieren und wie die aussehen
könnten. Doch das strittig - auch bei gewichtigeren Daten, wie den
unterschiedlichen Arbeitszeiten, Nettolöhnen, Renten, etc.
Etwas aussagekräftiger sind Befunde derer, die nach
unterschiedlichen Wertorientierungen forschen oder sich intensiver mit
einzelnen Lebensbereichen der beiden deutschen Populationen befassen.
So kann als sicher gelten (weil ähnliche Untersuchungen zu ähnlichen
Resultaten gelangten), was Thomas Gensicke [14] ermittelte, als er
danach forschte, worauf Deutsche in Ost und West stolz sind. Sind
Westdeutsche stolz auf ihre persönliche Freiheit, auf das politische
System und den Sozialstaat, so heben Ostdeutsche als ihre Werte Fleiß
und Arbeitsfreude, Montagsdemos und die deutsche Einheit hervor. Dies
deutet auf recht verschiedene Werthorizonte hin. Doch dieser
Unterschied wird relativiert, wenn man sich anschaut, worauf wir
Deutschen denn alle gemeinsam stolz sind: auf Wiederaufbau,
Wirtschaft, Wissenschaft, Technik, Industrie, auf deutsche Autos, auf
Goethe, Schiller, Beethoven und Bach, auf die Städte und Dome, auf
deutsche Landschaften und deutsche Sportler. Allerdings wurde auch an
dieser umfassenden Gemeinsamkeit „deutschen Stolzes“ eine gravierende
Differenz ausgemacht. Während „die“ Westdeutschen mehr die
wirtschaftlichen Werte achten, liegen den Ostdeutschen die kulturellen
Werte mehr am Herzen. Auf diesen Unterschied machen auch Studien der
Markt- wie der Medienforschung aufmerksam. Im Grunde weisen alle
Forschungen zu den Wertorientierungen der Deutschen neben starken
Gemeinsamkeiten beachtliche kulturelle West-Ost-Differenzen aus. So
auch der Sozialreport 2004, der zum Osten feststellt, „Der
gesellschaftliche Wertehaushalt in Ostdeutschland ist ein
‚sozial-demokratischer’ im klassischen Sinne und nicht parteipolitisch
geprägt. Arbeit, Wirtschaftswachstum, Technikoptimismus, Gerechtigkeit,
Gleichheit, staatliche Wohlfahrtspolitik, friedliche
Konfliktregulierungen genießen eine hohe Wertschätzung. Ganz anders
hingegen Liberalisierung, Individualisierung, Marktradikalismus und
einseitiges Gewinnstreben.“ [15]
Untersuchungen, die sich näher mit den Lebenswelten im Osten
beschäftigten, haben in ihren Forschungsberichten und Kommentaren als
unübersehbare ostdeutsche Eigenheiten einige vielleicht gewichtigere
mentale Dispositionen hervorgehoben, als es der Stolz auf deutsche
Autos und Landschaften ist: eine andere politische Kultur und
Politikerwartung, ein intensiveres Verhältnis zur Arbeit und zum
Arbeitsmilieu, eine stärkere Familienbindung, die schwächere Betonung
der Geschlechterdifferenz, egalitäre Vorstellungen von Gerechtigkeit
und eine stärker sozial definierte Auffassung von Freiheit.
Unübersehbar auch die große Distanz zu Kirche und Religion. Von der
Forschung eher unerwartet, sind gerade einige dieser mentalen
Eigenheiten bei jungen Leuten inzwischen stärker ausgeprägt als bei den
Älteren.
Welche Folgen könnte es haben, wenn sich solche Differenzen
dauerhaft als spezifische kulturelle Tönung einer Teilpopulation
befestigen? Schon eine solche Frage scheint sich zu verbieten, denn
niemand vermag zu sagen, was solche Dispositionen für den Lebenslauf
und die Karriere des einzelnen in der bundesdeutschen Realität
bedeuten. Es ist auch nicht abzusehen, welchen Einfluss das
Fortbestehen gerade dieser mentalen Grundströmungen auf die Zukunft der
deutschen Gesellschaft hat. Deshalb wäre es wohl unsinnig, darin eine
Gefährdung der „inneren Einheit“ zu sehen. Übrigens schon, weil die
Ostdeutschen nur eine mehrheitsabhängige Minderheit sind.
Neben diesen mehr oder weniger starken inhaltlichen Differenzen
wäre aber ein ganz grundsätzlicher Unterschied zu bedenken. Ost- und
Westdeutsche haben seit 1945 verschiedene Lebenserfahrungen
gemacht und daran hat dann auch die politische Einheit nach 1990 nichts
geändert, denn auch sie brachte Ost und West in ganz unterschiedliche
Problemlagen. Nur auf ostdeutscher Seite musste - und das galt für
sämtliche sozialen Milieus und Altersgruppen - alles neu gelernt
werden. So kann es nicht verwundern, dass die Sachsen wie die
Brandenburger ihren Alltag und sein großes Umfeld auch heute (noch)
ganz anders sehen als die Bayern und Westfalen. Selbstverständlich sagt
das nichts über die wahrlich großen kulturellen Differenzen zwischen
Sachsen und Preußen. Aber mit diesen beiden deutschen Spezies hatten
und haben ja alle anderen deutschen Stämme auch ihre Probleme.
Solche Anpassungs- und Assimilationsphasen von Minderheiten haben
ihre Eigenheiten. Generell sind das überaus produktive Phasen und auch
die deutsche Kulturgeschichte zeigt, dass sich gerade in den zur
Angleichung gezwungenen Minderheiten ein hohes kreatives Potenzial
entwickeln kann. Sie müssen einfach offen für das Fremde sein und sehen
dabei - das ist ihr Vorsprung - die Mehrheitsgesellschaft mit anderen
Augen. Selbstverständlich scheitern sie immer wieder, wenn sie
altvertraute Strategien und Techniken einsetzen. Doch gerade in diesem
Lernprozess liegen ihre Chancen. Überdies ist nun - für die
Ostdeutschen völlig unerwartet - die aufnehmende deutsche
Groß-Gesellschaft in eine Umbruchphase anderer Art eingetreten und es
wird sich daran erweisen, ob dieser kreative Vorsprung tatsächlich
besteht und sich zukünftig auszahlt.
Altersbedingte Unterschiede kultureller Assimilation
Zudem ist der abrupte Übergang in ein anderes Gesellschaftssystem
vor fünfzehn Jahren von den einzelnen Altersgruppen verschieden
verarbeitet worden. Dabei geriet eine ganze Generation in eine prekäre
Lage. Besonders schwer hat es heute gerade die Altersgruppe, die in der
„Wende“ von 1989 am aktivsten und am lautesten war. Von denen, die
damals um die vierzig Jahre alt waren, haben mehr als zwei Drittel
ihren Job verloren und trotz aller Anstrengungen, trotz hoher
beruflicher, sozialer und territorialer Mobilität mehrheitlich keine
neue berufliche Karriere beginnen können. In der Altersgruppe der heute
50 bis 60jährigen stehen nur noch 41 Prozent in einem Arbeitsverhältnis
und davon fallen auch noch 21 Prozent unter die geringfügigen und
Teilzeitbeschäftigungen. [16] Da Ostdeutsche in der Regel keine andere
Ressource als ihre Arbeitseinkünfte haben, wächst in dieser Gruppe die
Angst vor der wohl unvermeidlichen Altersarmut. Ihre kulturelle
Anpassung an den Westen brachte wenig ein, sie sind die großen
Verlierer, ihnen Frustration und Undankbarkeit vorzuwerfen, halte ich
für hochmütig.
Dagegen scheint - auf den ersten Blick jedenfalls - bei den jungen
Leuten alles gut zu laufen. Schaut man genauer hin, dürfte aber nur die
Zukunft der Jugend einer recht schmalen ostdeutschen Mittelschicht
wirklich unproblematisch zu sein. Nur deren Eltern können und wollen
mit den im Westen üblichen familiären Aufwendungen für die Ausbildung
ihrer Kinder mithalten. Nur für sie ist die schichtentypische
Chancengleichheit gegeben, und sie werden sich bald in den
verschiedenen kulturellen Milieus der westdeutschen Mittelschicht
wiederfinden. In den durch die vergleichsweise hohen
Familienzuwendungen begründeten Bindungen könnte auch ein Motiv dafür
bestehen, der ostdeutschen Heimat die Treue zu halten. Das wäre ein
großer kultureller Erfolg, denn für einen beträchtlichen Teil der
jungen Ostdeutschen ist es ganz normal, sich eine Ausbildung oder einen
Arbeitsplatz „im Westen“ zu suchen und dann dort zu bleiben. Der
dadurch bedingte Abwanderungsverlust ist beträchtlich. Hält er bei den
jetzt in die Ausbildungsphase eintretenden schwachen Geburtenjahrgängen
an, dürfte das zur stärksten Entwicklungsbremse für die ostdeutschen
Länder werden. Nach den Berechnungen der Deutschen Bank sinkt die
Wirtschaftskraft des Ostens bis 2020 allein wegen des ungünstigen
Bevölkerungstrends wieder ab. „Der Lebensstandard wird zwar weiterhin
zunehmen, aber der Abstand zum Westen dürfte anwachsen. Bis 2050 dürfte
er sogar eher wieder auf das Niveau von Mitte der 90er Jahre (rund 60
Prozent des westdeutschen Pro-Kopf-Einkommens) zurückfallen.“ [17]
Wirklich prekär ist die Situation bei den jungen Leuten in den
verödenden ländlich-kleinstädtischen Regionen, wie auch allgemein für
die Kinder der inzwischen recht breiten sozialen Unterschicht, in die
durch die Folgen der Einheit auch große Gruppen der Facharbeiter, der
Bildungsschicht wie der ehemals Selbständigen aus Kleingewerbe und
Handwerk abgestiegen sind. In beiden Fällen sehen sich viele
Jugendliche in derselben Minderheitensituation wie junge Türken: als
Benachteiligte in einem Land, dessen Sprache sie zwar sprechen, dem sie
aber ähnlich fremd bis feindlich gegenüberstehen. Doch während den
türkischen Altersgenossen der stabilisierende Rückzug in ihre ethnische
Gemeinschaft, in Familie, Religion und eigene Minderheitenkultur
möglich ist, hatten und haben junge Ostdeutsche nur zwei andere, eher
abstrakte kulturelle Identifikationsmöglichkeiten. Vor allem ist es
„das Deutsche“, die deutsche Nation und ihre vermeintlich heroische
jüngere Vergangenheit. Dies ist der Grund, warum sich in den 90er
Jahren ein ausgeprägter rechter Nationalismus als dominante
Jugendkultur ausbreitete, der auch „in viele andere Jugendkulturen, wie
etwa Grufties oder Heavy Metal oder auch mittlerweile in die Rockszene
reingekommen“ ist . Dem standen jene Jugendlichen gegenüber, die sich
stärker auf die - inzwischen ähnlich abstrakte, aber deutlich nähere -
DDR-Geschichte rückbezogen haben und „sehr stark linke oder
linksautonome Kulturen“ ausbildeten. Diese „beiden Gruppierungen haben
sich über weite Strecken, fast die ganze Neunziger Jahre hindurch
diametral entgegengestanden … die Geschichte der Jugendkulturen in den
Neunzigern oder bis fast in die Gegenwart [ist] auch eine Geschichte
von Auseinandersetzungen, von Kämpfen bis hin zu
Straßenschlachten“.[18] Der Jugendforscher Dieter Rink sieht in dieser
Politisierung eine Besonderheit gegenüber westdeutschen Jugendkulturen,
die nach 1989 eher betont unpolitisch waren.
Zugleich aber - und darin liegt ihre oft verkannte kulturell
assimilierende Wirkung - sind so gut wie alle jugendkulturellen
Strömungen eng mit Kommerz und modernen Medien verbunden. Darum bilden
diese auch in den politisierten ostdeutschen Jugendkulturen das
Hauptmedium, über das die opponierenden Jugendlichen recht problemlos
in die westliche Konsumkultur integriert werden.
Überdies bleibt hoffnungsvoll anzumerken, dass die nun schon
sichtbar werdende enorme Verknappung nachwachsender junger Leute deren
Chancen deutlich steigern wird - aber sehr wahrscheinlich auch deren
Abwanderung aus vielen ostdeutschen Regionen.
Nachzutragen ist gleichfalls, dass sie auch fürderhin als
Ostdeutsche stigmatisiert werden, wenn sie - aus unerklärlichen Gründen
- etwas weniger Bafög, Sold, Arbeitslosengeld und Sozialhilfe als ihre
westgebürtigen Altersgenossen erhalten.
Das Bild vom Ostdeutschen in der westdeutschen Kultur
Die deutschen Medien zeichnen die Ostdeutschen selten als mögliche
Partner in der Diskussion innerer Schwierigkeiten der deutschen
Gesellschaft, sondern wesentlich als einen Klotz am Bein, wenn nicht
gar als Verursacher der Misere. Und vielleicht hatte Arnulf Baring ja
so unrecht nicht, als er 1991 im Gespräch mit Jobst Siedler sagte: „Die
Größenordnung hat uns getäuscht. Man sah immer nur auf die sechzehn
Millionen und sagte sich: Wir sind sechzig und die sind sechzehn,
schlimm kann es eigentlich nicht werden, ein Fünftel der Passagiere
kann ja nicht das ganze Schiff zum Kentern bringen! Kann es vielleicht
doch. Erst recht drohen uns gewaltige Schwierigkeiten, sobald hinter
den sechzehn Millionen noch die übrigen (!) Osteuropäer auftauchen.“
[20]
Und es gebührt Arnulf Baring das Verdienst, als einer der ersten
und, was ich anrechne, auch ohne Umschweife klar gesagt zu haben, was
von den Neubürgern zu halten ist: „Das Regime hat fast ein halbes
Jahrhundert die Menschen verzwergt, ihre Erziehung, ihre Ausbildung
verhunzt“. Und Stichwortgeber Jobst Siedler fügte damals hinzu: „In der
DDR herrschte im Grunde, wie man es früher formuliert hätte, polnische
Wirtschaft. Als Variation davon hat mir neulich jemand, die Provokation
auf die Spitze treibend, gesagt: ‚und aus den Menschen dort sind
weithin deutsch sprechende Polen geworden.’“[21]
Der Ton hat sich inzwischen etwas geändert, doch von Anfang an hat
die von den großen Medien beherrschte Öffentlichkeit die ostdeutsche
Region und ihre Population als eine Sonderzone mit besonderen Bewohnern
behandelt – egal, ob von den gefährlichen Osteuropäern, vom
„Subventionsgrab Ost“, von der „Plattenbaumentalität“ oder den
Frustrierten die Rede war. Das gilt ebenso für die
„freundlich-positive“ Darstellung der Ostdeutschen. Denn gelingt es
Künstlern, Wissenschaftlern, Publizisten oder Politikern ostdeutscher
Herkunft, sich öffentlich zu behaupten, wird ihnen zwangsläufig meist
das Ost-Etikett angeheftet. Von ehemaligen „DDR-Staatskünstlern“ ist
die Rede, ostdeutsche Schriftsteller werden als „DDR-Autoren“ oder als
„Autoren aus den neuen Ländern“ vorgestellt und gehandelt. Niemand käme
auf den Gedanken, Günter Grass einen „Schriftsteller aus den alten
Bundesländern“ zu nennen. Kommen Leute aus dem Osten zu Worte, dann
genießen sie den „Ostbonus“ und haben die „Ostsicht“ einzubringen. Als
„ehemaliger Bürgerrechtler“ hat sich in den Medien ein besonderer Typus
des Ostdeutschen verfestigt, der mit seinen „lebendigen Erinnerungen“
diese Ausgrenzung immer wieder zu bestätigen sucht. Als ostdeutsche
Leistungen werden immer wieder „die Spreewaldgurke“, Rotkäppchensekt,
eine Suppe „Soljanka“, ein Hochwasser und vor allem schöne Beispiele
für die gelungene Anpassung an den Westen hervorgehoben. Auf diese
Weise regen die großen Medien der Bundesrepublik alle Ostdeutschen –
egal, wo sie inzwischen siedeln – dazu an, sich immer wieder ihrer
Zugehörigkeit zu einer Sonderpopulation zu versichern (oder sich heftig
davon zu distanzieren). Es kann also vermutet werden, dass sich „die
Ostdeutschen“ noch über einen längeren Zeitraum als kulturelle
Minderheit verstehen werden. Wobei sie - nach Alter, sozialer Lage und
regionaler Herkunft verschieden - sicher zugleich anderen kulturellen
Milieus angehören.
Für die Kulturwissenschaft ist eine distanzierte bis abwertende
Darstellung durch die Medien der „öffentlichen Meinung“ normal und
gehört in allen Gesellschaften zur inneren Selbstbestätigung von
dominanten Mehrheiten. Heute verlangt das schon die Quotenabhängigkeit.
Mehrheiten grenzen immer aus oder drängen auf schnelle Anpassung der
anderen. Identitätsgewinn durch Alterität ist ein immerwährendes
Kulturmuster und so finden wir auch bei der deutschen
Mehrheitsgesellschaft die Neigung, sich selbst durch die Abgrenzung von
den Minderheiten positiv zu definieren. Heute sind für eine solche
innere Mobilisierung der Mehrheit drei Gruppen von „anderen“ verfügbar.
Da sich offener Antisemitismus für alle meinungsführenden Kreise
verbietet (in unseren Nachbarländern sieht das bekanntlich etwas anders
aus) bleiben Türken (Moslems) und Ostdeutsche. Im jüngsten Wahlkampf
konnten wir erleben, wer davon wie Gebrauch macht und wie darauf
reagiert wird.
Bei inneren Schwierigkeiten dienten und dienen Minderheiten für die
etablierte Mehrheitsgesellschaft immer auch als Projektionsfläche
eigener Ängste. Eine Langzeitstudie der Universität Bielefeld
hat ausgewiesen: in dem Maße, wie die eigene Zukunft unsicherer
empfunden wird (von 2002 auf 2004 wuchs in Deutschland die Angst vor
wirtschaftlichem Abstieg wie die vor Arbeitslosigkeit von gut zwanzig
auf über vierzig Prozent an), stiegen Fremdenfeindlichkeit, die
Ablehnung anderer und die Betonung der Etabliertenvorrechte an. Und
dies besonders bei Personen, „die sich selbst der politischen Mitte
zuordnen. In der Mitte der Gesellschaft verschieben sich die
Normalitäten“ [22], schreibt Wilhelm Heitmeyer, Direktor des
forschenden Instituts. Und er nennt nach zehnjähriger Beobachtung der
deutschen Gesellschaft drei Spaltungslinien, die sich vertiefen: sozial
wird die Kluft zwischen oben und unten größer, politisch-geographisch
die zwischen Ost- und Westdeutschen und ethnisch-kulturell die zwischen
Mehrheit und muslimischer Minderheit.
Wie wir aus der deutschen Geschichte wissen, hatten innere
Schwierigkeiten der Mehrheitsgesellschaft immer starken Einfluss auf
die Art und Weise der Abgrenzung von Minderheiten, bis hin zu ihrer
völligen Ausgrenzung. Aufmerksamkeit und Vorsicht sind darum wohl
geboten, ein Grund, warum Minderheiten hellhörig bis überempfindlich
sind. Schnell entsteht da ein Klima der Gereiztheit. Ein ehemaliger
General kann mit drei einfältigen Sätzen den ganzen Osten gegen sich
aufbringen und einen sehr angesehenen Schriftsteller sogar dazu
verleiten, die offenbar werdende Ost-Phobie in eine geschichtliche
Reihe mit überwundenem Franzosenhass und tabuisiertem Antisemitismus zu
stellen: „Um mich als richtigen Deutschen empfinden zu können, brauche
ich den verwahrlosten, minderwertigen Deutschen.“ [23]
Solch eine grundsätzliche Stellungnahme mag zunächst überraschen,
doch im Großen und Ganzen sehen die meisten Ostdeutschen schon recht
klar, dass das Bild, das in den Medien, in der Politik und an den
Stammtischen von „den Ostdeutschen“ gezeichnet wird, eher wenig über
die Bewohner der neuen Bundesländer aussagt, sehr viel aber über
Selbstverständnis und Stimmungslage der tonangebenden Mitte der
westdeutschen Mehrheitsgesellschaft.
Weil das Konstrukt des Ostdeutschen diese bestätigende Funktion für
Westdeutsche hat, kann ein zweiter, allerdings so nicht erwarteter,
„Kulturbildungsprozess“ eigentlich nicht erstaunen. Verblüfft war ich
aber zunächst doch, als sich in der abgrenzenden Beurteilung der
Ostdeutschen plötzlich alle politischen Lager einig waren, herausragend
dabei die ganz Konservativen und die ganz Linken. „Nichts hat die
Westdeutschen so geeint“, schreibt Thomas Ahbe, „wie der Beitritt der
Ostdeutschen. Möglicherweise ist dieser in den Begriffen und Metaphern
uniforme und auch affektiv gleichgestimmte Diskurs über die
Ostdeutschen ein noch unbekanntes Dokument westdeutscher
Wir-Identität.“ [24]
Das mag so klingen, als wären „die Ostdeutschen“ nichts als eine
nützliche Erfindung der Westdeutschen. Sie sind sicher nicht nur das,
denn die ostdeutschen Länder bilden ja eine ganz reale Teilgesellschaft
mit spezifischen Problemen, zentral dabei die Einschränkung ihrer
Handlungsmöglichkeiten. Denn nicht nur im ideellen Bereich, auch im
realen liegt die Definitionsmacht über den eigenen Zustand nicht bei
ihnen, ihre Ressourcen sind schwach und sie müssen einem Pfad folgen,
der für sie durch die Entscheidungen von 1990/91 vorgegeben worden ist.
Tendenzen zu einer ostdeutschen Teilkultur?
In diesem Anpassungsdruck liegt eine Chance. Denn außer der
schnellen Anverwandlung an das Geforderte, fördert er immer auch die
Neigung zur Abgrenzung, zu Isolation, zu internen Regulationen und zur
Pflege einer eigenen Kultur. Könnte diese Art von Eigensinn irgendwie
gefährlich werden? Wohl kaum. Denn abgesehen davon, dass für jede Art
von Minderheit eine spezifische Form eigener Kultur nicht nur dem
Selbstbewusstsein durch Abgrenzung von den anderen dient, sondern sie
ist zugleich das entscheidende Medium des Austauschs und der
kulturellen Assimilation.
Aber das, was man als eine ostdeutsche Teil- oder Subkultur
unterhalb der übergreifenden, vielleicht „national“ zu nennenden Kultur
der Deutschen, verstehen könnte, ist nur rudimentär ausgebildet.
Augenblicklich lässt die Medien- und Deutungshoheit der westdeutschen
Eliten eine Selbstverständigung der Ostdeutschen über ihre eigenen
Angelegenheiten noch kaum zu. Trotz beispielhafter Ansätze (Forum
Ostdeutschland, Labor Ost) bleibt sie bislang auf regionale
Kommunikationskreise und auf Fachzirkel beschränkt. Es charakterisiert
die prekäre Lage, wenn das einzige übergreifende Medium für
Ostdeutschland das Boulevardblatt „Super-Illu“ ist.
Ich habe keine Vorliebe für die meist weisen Worte von
Bundespräsidenten (und das noch weniger, wenn der ein neoliberaler
Gesinnungstäter ist), dennoch sei er nach der aktuellen Presse zitiert,
weil er hier zwar nicht explizit von Kultur spricht, aber auf die
Schlüsselrolle eines eigenen kulturellen Inventars der Ostdeutschen
hinweist: „Die objektiven Probleme Ostdeutschlands und die
Herausforderungen des kommenden Jahrzehnts können nur gelöst werden,
wenn die subjektive Seite, das Vertrauen der Menschen in die Zukunft
der Region, in ihren Eigenwert und in ihre Eigenverantwortung durch die
Politik gestärkt werden.“
Das ist zwar auch der verpönte Blick von oben und außen - und dann
soll ausgerechnet die von den Ostlern misstrauisch betrachtete Politik
ihnen das Selbstvertrauen stärken - doch richtig verstanden, ist solche
Ermahnung der politischen Klasse schon nötig und klingt auch als
versöhnlicher Schluss ganz gut.
Doch solch Abschluss ließe wenig von der Brisanz der Situation
erkennen, an die ich denn doch noch einmal resümierend erinnern möchte.
Ostdeutsche haben 1990 ihr vertrautes aber ungeliebtes
Gesellschaftssystem verloren, ihnen wurde ein erwünschtes aber
unbekanntes System übergestülpt, dass sich bei ihnen als nicht recht
tauglich erwies und von dem sie jetzt hören müssen, dass es antiquiert
sei und ohne gründliche Reformen gar nicht überleben könne. Aus dem
Gewirr der Reformvorschläge hören sie nur heraus: Schluss mit dem
Wohlleben, ihr müsst mehr für euch selbst sorgen. Sind sie zur falschen
Zeit beigetreten? Wollten sie nicht von dem einen deutschen Sozialstaat
in den attraktiveren anderen wechseln? Ist das nur eine verfahrene
Situation oder erleben sie eine Zeitenwende?
Westdeutsche können über die 1990 unvermutet erlangte Einheit
ähnlich kritisch denken, denn offenbar hat gerade sie die damals
überfälligen gründlichen Reformen verhindert und macht sie nun wegen
ihrer enormen Folgekosten vollends unmöglich. Denn brachte der Beitritt
des Ostens anfangs einen kurzen wirtschaftlichen Aufschwung im Westen
(„Aufbau Ost“ als Konjunkturprogramm West), könnte er sich nun als
Ursache für eine nachhaltige Stagnation erweisen. Geht nun auch ihr
Sozialstaat an den Lasten der Einheit zugrunde? Welche gründlichen
Reformen könnten das ändern? Wenn die Bundestagswahlen etwas deutlich
machten, dann die Ratlosigkeit der politischen Kontrahenten wie die der
Wähler in Ost und West. Alle spüren, es müsste etwas geschehen, aber in
welche Richtung soll es gehen?
Ahnen wir etwas von einer Zeitenwende und kommen sich bei solch
übergreifender Irritation Ost- und Westdeutsche wieder kulturell näher
- auch angesichts des Autoritätsverlusts der westdeutschen
Hegemonialkultur? Oder bedeuten Epochenzäsur und Zeitenwende, dass bei
wachsenden inneren Unterschieden und Gegensätzen auch die kulturellen
Differenzen wieder stärker werden und sich nicht nur die Milieus,
Gruppen und Teilgesellschaften deutlicher gegeneinander abzuschotten
beginnen, sondern auch die Mehrheit versucht, Statuserhalt und
Stabilisierungsgewinn durch stärkere Ausgrenzung zu gewinnen? Auf
Ansätze dazu habe ich hingewiesen. Für diesen Fall wäre für die
muslimische wie für die ostdeutsche Minderheit zu erwarten, dass bei
ihnen die inneren Bindungen stärker werden und sie sich kulturell
intensiver abzugrenzen versuchen werden - wenn da selbstverständlich
auch recht unterschiedliche Formen zu erwarten sind. Separatismus und
erneuter Mauerbau können ausgeschlossen werden. Aber die Ostdeutschen
dürften auf etwas verfallen, was Staatsbürgern türkischer Herkunft
einstweilen verwehrt ist und sich als die „besseren“ und moderneren
Deutschen stilisieren. Die Traditionen protestantischer Ehrpusseligkeit
und Sozialverantwortung wie die Nachwehen sozialistischer
Kollektivmoral lassen das vermuten.
Da sich die immer noch westdeutsch geführten Parteien gerade in der
Mitte drängeln und sich zu blockieren scheinen, ist in der politischen
Kultur Deutschlands nicht nur rechts wie links davon viel Raum für
Alternativen, sondern auch für den politisch vernachlässigten östlichen
Appendix.
Wenn sich auch - wie alle Forscher bestätigen - die kulturellen
Differenzen und die sozialen Unterschiede zwischen Ostdeutschen und
Westdeutschen seit Jahren vertiefen, ist es dennoch eher
unwahrscheinlich, dass in Deutschland - wie es in der Fachdiskussion
angesichts einiger europäischer Beispiele aber geprüft wird - dass hier
„die Gefahr der Desintegration besteht und Deutschland eingereiht
werden muss in die Reihe der ‚zerrissenen Länder’, die kulturell
geteilt sind und nie zur Ruhe kommen."[25] Und das ist ja dann auch
eine positive Botschaft zum bevorstehenden fünfzehnten „Tag der
Einheit“.
Anmerkungen
[1] Martin und Sylvia Greiffenhagen, Zwei politische
Kulturen? Wissenschaftliche und politische Unsicherheiten im Umgang mit
der deutschen Vereinigung. In: Der Bürger im Staat, Heft 4/2000, S.
179.
[2] Hans-Werner Sinn, Gut für die Welt. In: Die Welt, Nr. 179, 3. August 2005, S. 9. (Vgl. Hans-Werner Sinn, Ist Deutschland noch zu retten? München 2003.)
[3] Jammertal Ost. DER SPIEGEL 39/2004, 20. September 2004.
[4] Wolfgang Herles, Wir sind kein Volk. Eine Polemik gegen die Deutschen, München 2004.
[5] Uwe Müller, Supergau Deutsche Einheit, Berlin 2005.
[6] Hannes Bahrmann und Christoph Links, Am Ziel vorbei. Die deutsche Einheit - eine Zwischenbilanz, Berlin 2005, S. 9.
[7] Gunnar Winkler (Hrsg.), Sozialreport 2004. Daten und Fakten zu sozialen Lage in den neuen Bundesländern, Berlin 2004, S. 309 f.
[8] „Jeder Fünfte will die Mauer zurück“ , Stern vom 09. September 2004
[9] Gunnar Winkler (Hrsg.), Sozialreport 2004. Daten und Fakten zu sozialen Lage in den neuen Bundesländern, Berlin 2004, S. 73 f.
[10] Rainer Geißler, Die Sozialstruktur Deutschlands. Die
gesellschaftliche Entwicklung vor und nach der Vereinigung, Wiesbaden
2002 (S. 343). Die erste Erhebung dazu in: Statistisches Bundesamt
(Hrsg.), Datenreport 1992, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn
1992, S. 538 f
[11] Michael Hofmann, Antworten. In: Zweite Enquête unter
Kulturwissenschaftlern und Kulturpolitikern zum kulturellen Wandel in
Deutschland als Folge des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik.
KULTURATION 2005/2, www.kulturation.de, zit. November 2005.
[12] Matthias Horx, Im Land der Miesmacher. In: Der Tagesspiegel v. 31. 08. 2005, Nr.18910, S. 25.
[13] Ernst Niekisch, Ost-West. Unsystematische Betrachtungen", Berlin 1947.
[14] Thomas Gensicke, Die neuen Bundesbürger. Eine Transformation ohne Integration, Opladen 1998.
[15] Rolf Reißig, Ostdeutsche Transformation und deutsche Vereinigung - ein gelungenes, ein gescheitertes oder ein unvollendetes Projekt?
[16] Hanna Haupt und Reinhard Liebscher, Sozialreport 50+
2005. Daten und Fakten zur sozialen Lage 50- bis unter 65-Jähriger in
den neuen Bundesländern. Erarbeitet im Auftrag der Volkssolidarität -
Bundesverband e.V. durch Sozialwissenschaftliches Forschungszentrum
Berlin-Brandenburg e.V.-
[17] Deutsche Bank Research, Perspektiven Ostdeutschlands – 15 Jahre danach. Nr. 306 v. 10. November 2004 (www.dbresearch.de).
[18] Dieter Rink, Antworten. In: Zweite Enquête unter
Kulturwissenschaftlern und Kulturpolitikern zum kulturellen Wandel in
Deutschland als Folge des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik.
KULTURATION 2005/2, www.kulturation.de, zit. November 2005.
[19] Ebenda.
[20] Arnulf Baring, Deutschland, was nun? Berlin 1991, S. 50.
[21] Ebenda S. 59 und 63
[22] Wilhelm Heitmeyer, Die gespaltene Gesellschaft. In: DIE ZEIT v. 2. 12. 2004, Nr. 50, S. 12.
[23] Christoph Hein, Vom unglücklichen Bewusstsein. In: Freitag v. 19. 8. 2005, Nr. 33, S. 3.
[24] Thomas Ahbe, Die Konstruktion der Ostdeutschen.
Diskursive Spannungen, Stereotype und Identitäten seit 1989, in: Aus
Politik und Zeitgeschichte B 41– 42/ 2004, S. 21.
[25] Stefan Liebig/Bernd Wegener, Protest und Verweigerung -
Die Folgen sozialer Ungerechtigkeit in Deutschland, in: Manfred
Schmitt/Leo Montada (Hrsg.), Gerechtigkeitserleben im vereinigten
Deutschland, Opladen 1999, S. 263 f.
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